Ein primus inter pares wider Willen

Perlen von Holstein Folge 176

Unsere Möglichkeiten, unzuverlässig zu sein, waren hier in Glücksburg äußerst eingeschränkt. Herr Kaiser konnte bedenkenlos vierstimmige Männerchorsätze mit uns proben. Zumindest, solange er nicht das Ziel verfolgte, sie auch aufzuführen. Mit der Zuverlässigkeit würde es sich schließlich rasch erledigt haben, sobald wir Hamburger Boden betreten hatten. Unser Chorleiter musste von daher auch keinen Wert darauf legen, ob ein Stück für Aufführungen überhaupt sonderlich geeignet war.

Die Rose stand im Tau von Schumann war, zumindest nach meiner Auffassung, kein bisschen für Aufführungen geeignet. Zumindest nicht, wenn man vorhatte, als Chor weiterhin ernst genommen zu werden. Die Rose stand im Tau nämlich war nicht einfach nur ein Männerchorsatz, es war ein Männergesangsverein-Chorsatz. Zwar beschrieb der Text keine unsterbliche Liebe, sondern ein Naturschauspiel, doch waren die Harmonien sentimental genug, um einem in der Kneipe nach dem dritten Bier die Augen feucht zu machen. Wir hatten großen Spaß daran und natürlich einen passenden Alternativtext parat. In den Pausen wurde aus ‹Die Rose stand im Tau, es waren Perlen blau› ‹Der Russe stand im Stau, es waren Kerle blau›.

Die Rose stand im Tau beinhaltete auch ein Bass-Solo. Weil das Stück offensichtlich nicht für Aufführungen gedacht war, wunderte ich mich nicht darüber. Wie ich Herrn Kaiser einschätzte, würde er einfach darauf verzichten. Das Stück klang ja auch ohne ganz schön. Und waren wir doch mal ehrlich: Wer von uns kam denn überhaupt dafür in Frage? Am ehesten vielleicht noch Imanuel. Imanuel hatte eine schöne Stimme und bekam mühelos auch höhere Töne. Leider drückte er zuweilen fürchterlich. Das hätte man ihm sicher mit der Zeit austreiben können, doch war mit Frau Siebenkittel nun einmal auch die Förderung des Solo-Gesangs aus unserem Chor verschwunden. Und ohne Förderung nützte alles Potential nichts. Ich überzeugt: Die Rose stand im Tau würde für uns ein reines Chorstück bleiben.

Wie falsch ich mit dieser Überzeugung lag, wurde mir bewusst, als der nächsten Gesamtchorprobe ebenfalls ein Stück mit Bass-Solo verteilt wurde. Ein Weihnachtsstück. Unser Chorleiter dachte wie üblich sehr vorausschauend. Es war ihm selbstverständlich, mit uns bereits im August Weihnachtsstücke zu proben. Eines dieser Weihnachtsstücke war Zur stillen Nacht von dem in diesem Jahr verstorbenen Emanuel Vogt. Die Noten waren handgeschrieben und schienen aus Herrn Kaisers Privat-Musikaliensammlung zu stammen. Ich mochte es sehr. Selbst an schwülheißen Tagen wie diesen gelang es dem Werk bravourös, die Atmosphäre einer geheimnisvollen Winternacht zu erzeugen. Es war allerdings ein reines Chorstück ohne Bass-Solo.

Das Stück mit Bass-Solo war Als ich bei meinen Schafen wacht im Satz von Fritz Neumeyer. Fritz Neumeyer hatte aus dem sich betont volkstümlich gebenden Liedchen eine gospelartige Nummer mit Call and Response gezimmert. Wir hatten mit anderen Worten immer nur kurze Passagen zu singen, die reichlich häppchenhaft daherkamen. Sie ohne das dazugehörige Solo darbieten zu wollen, war ziemlich unsinnig. Umso gespannter war ich, wann wir denn nun endlich erfahren würden, wer diesen Part übernehmen sollte. Wir erfuhren es kurz und schmerzlos.

«Okay, Frans, dann leg mal los», sagte Herr Kaiser völlig unvermittelt.

Das nannte man mal eine Überraschung. Frans war nun wirklich der letzte, den ich auf der Rechnung gehabt hatte. Einfach, weil er mit seiner ruhigen, ausgeglichenen Art nicht nur neben seinem Bruder Max-Frederick vollkommen unterging. Er war ein Mensch, mit dem jeder auskam. Und genau das war wohl der Grund, dass Herr Kaiser ihn auserwählt hatte. Wer Frans kannte, wusste: Er war kein Mensch, der so schnell abheben würde. Bei Imanuel oder dem ebenfalls von mir favorisierten Philipp hätte man da weniger sicher sein können. Damit kamen sie für unseren Chorleiter nicht in Frage. Sein Chor sollte schließlich das sein, was der Dresdner Kreuzchor definitiv nicht gewesen war: Eine Gemeinschaft gleichwertiger Menschen, bei der jemand mit einer schöneren Stimme nichts weiter als jemand mit einer schöneren Stimme ist.

Frans war von daher eine Idealbesetzung. Nicht nur, dass er sich auf seine Sonderrolle nicht viel einbildete, er war spürbar genervt von ihr.

«Als –», sang er und verfehlte deutlich seinen Ton.

«Oh, Fra-ans», sagte Herr Kaiser. Er machte bei der Nennung von Frans’ Namen jene reine Quinte, die man eben macht, wenn man zeigen will, dass man von jemandem genervt ist:

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Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Herr Kaiser die reine Quinte machte. Wieder und wieder verfehlte Frans seinen Ton. Wenn dies nicht beim ersten Einsatz geschah, geschah es beim zweiten oder spätestens beim dritten. Bald machte Herr Kaiser jene kleine Sexte, mit der man zeigen will, dass man von jemandem sehr genervt ist. Ihr folgte jene übermäßige Quarte, mit der man zeigen will, dass man von jemandem außerordentlich genervt ist.

Es war durchaus nachvollziehbar, dass unser Chorleiter derart gereizt reagierte. Was Frans zu singen hatte, war schließlich nicht mehr als die jedem bekannte Melodie von Als ich bei meinen Schafen wacht. Mit rund zehn Jahren Chorerfahrung an dieser Aufgabe zu scheitern, konnte eigentlich nur einen Grund haben: Man hatte, um es mit Max-Frederick zu sagen, einfach mal null Bock auf sie.

«Oh, Fra-ans», sagte ich, als die Probe zu Ende war und wir wieder in unserem Zimmer saßen. Ich machte dabei die reine Quinte.

«Boah, hör auf, Alter», erwiderte Frans, «Ich könnte ihn so dafür schlagen, dass er mich diesen Scheiß singen lässt, ey. Ich kann das Stück echt so derbe nicht leiden.»

Man konnte ihm nur wünschen, dass unser Chorleiter nicht auf den Geschmack kam und noch mehr Soli singen ließ.