Begegnungsstätte Glücksburg

Perlen von Holstein Folge 174

Die Mittagspause diente auf allen Chorwochenenden der Erholung. Wer sich ausruhen oder gar schlafen wollte, sollte nicht daran gehindert werden. In den Zimmern zu lärmen und zu toben war tabu. Das galt natürlich nicht, wenn niemand auf dem Recht bestand, sich ausruhen zu dürfen. Und da in meiner Erinnerung niemand jemals auf diesem Recht bestanden hatte, wurde in den Zimmern gelärmt, wurde in den Zimmern getobt. Zustände, um die Herr Kaiser uns nur beneiden konnte.

«Wisst ihr, früher beim Dresdner Kreuzchor, da gab es jeden Tag Mittagspause, denn wir waren ja ein Internatschor. Und in der Mittagspause wurde in den Zimmer das Licht ausgemacht und wir mussten uns in die Betten legen, ganz egal, ob wir schlafen wollten oder nicht. Wer nicht schlafen konnte, der durfte nicht lesen, der musste still im Bett liegen bleiben. Ich habe dann, weil ich nichts anderes machen konnte, Luftanhalten geübt. Ich habe dann zum Beispiel am Anfang versucht, eine Minute lang die Luft anzuhalten. Wenn ich das geschafft habe, habe ich es anderthalb Minuten lang versucht und so weiter.»

Ein Unsinn, für den wir überhaupt keine Zeit gehabt hätten, so sehr waren wir in der Mittagspause mit dem Verspeisen von Kinder Schokolade und dem Grölen von Wise-Guys-Liedern beschäftigt. Am dritten Tag in Glücksburg merkte ich jedoch, dass ich tatsächlich mal ein wenig Ruhe brauchte. Ich begab mich also dorthin, wo garantiert keiner toben würde: Nach draußen auf den Spielplatz. Dort setzte ich mich auf Schaukel und begann, hin und her zu schwingen. Ich tat das bereits seit etwa zehn Minuten, als ich ungewöhnliche Gesellschaft bekam: Ein Mädchen setzte sich zu mir. Kein Mädchen in meinem Alter, ein Mädchen, bei dem sich die Pubertät noch nicht einmal andeutete. Sie trug einen ganz und gar nicht figurbetonten Pullover, Latzhose und jede Menge Babyspeck.

«Hallo», sagte sie und setzte sich auf die benachbarte Schaukel.

Ich erwiderte nichts.

Chorwochenenden zeichneten sich für gewöhnlich dadurch aus, dass wir ganz für uns alleine waren. Nur selten kam es vor, dass wir uns die Heime mit anderen Gruppen teilen mussten. Geschah dies doch einmal, bestanden diese aus Menschen, vor denen wir nichts zu befürchten hatten. Musiker meist oder Personen in sehr fortgeschrittenem Alter. Letztere begegneten uns stets mit ehrlichem Interesse. Zu Siebenkittel-Zeiten war es sogar einmal vorgekommen, dass eine Dame sich gewünscht hatte, dass wir anlässlich ihres achtzigsten Geburtstags Geh aus mein Herz für sie sangen. Ein Einfall, mit dem wir hier in Glücksburg wohl nicht zu rechnen hatten. Zwergo hatte zu der anderen Gruppe folgendes ausgeführt:

«Das sind Kinder und Jugendliche, die kommen aus ganz problematischen Verhältnissen. Da ist zum Beispiel ein Mädchen drunter, die hat einen Autounfall überlebt und glaubt seitdem manchmal, dass im ganzen Zimmer Bienen herumschwirren, obwohl keine da sind. Ihr braucht vor diesen Menschen keine Angst zu haben. Die sehen vielleicht ein wenig verlottert aus und reden anders miteinander, als ihr das gewohnt seid, aber glaubt mir: Solange ihr denen nichts tut, werden die euch auch nichts tun.»

Sie hätten auch kaum Gelegenheit gehabt, jemandem von uns etwas zu tun. Die einzigen Begegnungen hatten bislang stattgefunden, wenn wir in großer Schar zum Probenraum getrottet waren. Dann sahen wir sie auf dem Gang herumlungern. Sie trugen Baseball-Mützen, pastellfarbene Jogging-Hosen und, sofern es sich um Mädchen handelte, eine Schicht aus Schminke, die wohl nur mit grobem Werkzeug wieder zu entfernen war. Alterstechnisch schätzte ich die meisten von ihnen auf dreizehn bis fünfzehn Jahre. Einige waren aber auch deutlich älter oder jünger. Eindeutig zu den jüngeren zählte jenes kleine Wesen, das nun neben mir auf der Schaukel saß.

«Willst du manchmal lieber allein sein?», fragte sie.

Ich erwiderte nichts.

«Ich will auch manchmal lieber allein sein», sagte sie.

Ich drehte mich zu ihr um und warf ihr einen prüfenden Blick zu. Sie war jung. Zu jung, um zu jenen zu gehören, die jemanden wie mich brauchten, um sich ihre soziale Kompetenz zu beweisen. Ich hatte eigentlich keinen Grund, argwöhnisch zu sein.

«Naja», sagte ich, «ich hatte gerade irgendwie Lust, ein bisschen zu schaukeln. Manchmal brauche ich das einfach, obwohl ich ja eigentlich schon zu alt dafür bin.»

«Ach so», erwiderte sie, «Also ich bin hergekommen, weil ich nicht mehr in unserem Zimmer sein wollte. Bei uns ist so eine, die schreit manchmal ohne Grund einfach rum und haut ihren Kopf gegen die Wand. Ich habe voll Angst vor der.»

«Oh», sagte ich. Ich wusste nicht, was ich sonst dazu sagen sollte. Das Mädchen schien mit dieser Antwort aber mehr als zufrieden zu sein.

«Wie alt bist du?», fragte sie.

«Neunzehn. Und du?», erwiderte ich.

«Zehn. Arbeitest du denn schon oder gehst du noch zur Schule?»

«Ich gehe noch zur Schule, nächstes Jahr bin ich aber fertig.»

«Oh, dann gehst du bestimmt aufs Gymnasium. Weißt du, ich wollte auch aufs Gymnasium, aber ich konnte nicht, weil meine Noten zu schlecht sind. In Englisch habe ich eine Fünf. Vielleicht schaffe ich es aber nach der sechsten Klasse doch noch, aufs Gymnasium zu kommen.»

Die zahlreichen Dinge, die ich früher auf dem Schulweg durch Gesamtschüler erlitten hatte, hatten mich Schülern anderer Schulformen gegenüber äußerst intolerant gemacht. Wäre sie nicht sie gewesen, ich hätte ihr ins Gesicht gesagt, dass sie sich das mit dem Gymnasium abschminken konnte. Sie war jedoch sie und ihr gegenüber brachte ich das nicht übers Herz.

«Auf was für eine Schule gehst du denn?», fragte ich stattdessen.

«Auf eine Hauptschule und das ist voll doof. Bei uns schlagen sich ganz oft welche und dann reden wir die ganze Stunde darüber. Wir lernen deshalb überhaupt nicht.»

«Aber du schlägst nicht, oder?»

«Nein, nur die Jungs.»

Ich musste ein wenig schmunzeln. Was sie erzählte, kam mir durchaus nicht so unbekannt vor, wie sie vielleicht glaubte. Auf unserem schönen Gymnasium war sich in der fünften Klasse auch aus geringstem Anlass geprügelt worden und wir hatten das dann im Klassenrat alle gemeinsam aufgearbeitet. Die Schilderung der Vorgänge war dabei stets sehr emotional gewesen. Ich hatte mich deshalb schon damals gefragt, wann wir endlich mit Klassenrat-TV auf Sendung gehen würden.

Unsere kleine Unterhaltung hatte indes ein erstaunliches Maß an Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

«Nicht flirten, Katharina», rief ein junger Mann meiner Gesprächspartnerin zu. Für einen Flirt schien unser Gespräch auch die Gruppe von Knaben zu halten, die ich hinter einem Fenster ausmachte. Die Jungs starrten uns an, als würden sie singen wollen:

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Und selbst David sollte mich später im Zimmer fragen: «Na, und worum ging es in eurem, ähm, Gespräch?»

Ja, worum war es in diesem Gespräch eigentlich gegangen?

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Johannes Brahms ist bekanntlich zeitlebens ein Junggeselle geblieben. Man könnte daraus die Annahme ableiten, dass er desinteressiert am anderen Geschlecht gewesen wäre. Weit gefehlt. Die englische Komponistin Ethel Smyth berichtet über Brahms’ Umgang mit den von ihm so betitelten ‹Weibsbildern›: «Wenn sie ihm nicht gefielen, war er unheimlich verlegen und ungnädig; waren sie hübsch, so hatte er die unangenehme Angewohnheit, sich in seinem Stuhl zurückzulehnen, die Lippen zu schürzen, sich über den Bart zu streichen und sie anzustarren wie gefräßige Jungen ein Stück Torte.»


Für den Abend hatte Herr Kaiser uns Männer einbestellt, um etwas mit uns zu besprechen. Er hatte sich gerade hingesetzt, als ein Knabe hereingeeilt kam. Der Junge war völlig außer Atem.

«Herr Kaiser, Herr Kaiser», sagte er, «ein paar Mädchen von der anderen Gruppe sind im Probenraum und schmeißen mit den Noten rum.»

Wer je an der den sportlichen Qualitäten unseres Chorleiters gezweifelt hatte, wurde heute endgültig eines Besseren belehrt: Herr Kaiser ließ alles stehen und liegen und rannte los. Keine drei Sekunden später war er nicht einmal mehr in Hörweite. Neugierig, wie wir eben waren, trotteten wir ihnen hinterher. Im Probenraum angekommen erwarteten uns allerdings nicht die erhofften kriegsähnlichen Zustände. Stattdessen saß dort Pascal im Kreis von drei Mädchen und ließ sie in seine Notenmappe sehen. Herr Kaiser stand daneben und ließ sich erklären, was hier eigentlichen vor sich ging. Er tat das wohl nur, um nicht ganz umsonst gerannt zu sein. Zwar stand ihm der Schock noch immer ins Gesicht geschrieben, doch hatte er sich schon merklich beruhigt. Die drei Mädels machten nicht den Eindruck, irgendeinem Notenblatt etwas zu Leide tun zu wollen. Sie berührten sie nicht einmal mit den Fingern, als Pascal sie ihnen zeigte.

Am nächsten Tag hatten die drei am hinteren Ende des Probenraums Platz genommen. Herr Kaiser erklärte: «Ja, wie euch sicher schon aufgefallen ist, haben wir heute Besuch. Die drei, die ihr da hinten sitzen seht, sind aus der anderen Gruppe. Die wollen einfach nur mal sehen, wie eine Chorprobe bei uns so abläuft. Lasst euch von denen nicht stören.»

Wie eine Chorprobe bei uns zuweilen so ablief, sollten sie heute in der Tat sehen. Herr Kaiser brachte in irgendeinem Zusammenhang seine derzeitige Lieblingsüberzeugung zur Sprache.

«Wir sind ja kein Profi-Fußballverein, wir singen für die Sache.»

Ich zögerte nicht lange.

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