Für Kenner und Liebhaber

Perlen von Holstein Folge 171

Juni 2007

Das Sommerkonzert in St. Johannis-Harvestehude würde ohne meine Mutter stattfinden.

«Ich sehe das nicht ein, immer diejenige sein zu müssen, die zu euren Auftritten kommt. Jetzt ist Papa mal dran», sagte sie.

Darüber staunte ich nicht schlecht. Es war weiß Gott nichts Ungewöhnliches, dass meine Mutter meinem Vater seine Zurückgezogenheit zum Vorwurf machte. Was sie nun aber über ihn behauptete, war, gelinde gesagt, Quatsch.

«Ähm, Mama», erwiderte ich, «Papa ist dieses Jahr bei fast jedem unserer Auftritte gewesen. Du warst seit Weihnachten bei keinem einzigen.»

Darauf wusste sie nichts zu erwidern. Zumindest nichts, was nicht ins Reich aussichtsloser Rechtfertigungsversuche fiel. Es war nun einmal Fakt: Seit geraumer Zeit glänzte meine Mutter bei den meisten Auftritten des Neuen Knabenchors Hamburgs durch Abwesenheit. Beim Frühjahrsgottesdienst in St. Johannis war sie in den ganzen zweieinhalb Jahren, die ich nun Bass war, gar noch kein einziges Mal gewesen. Aus folgendem Grunde: «Euer Auftritt fällt blöderweise immer auf das gleiche Wochenende wie die Museumsnacht.»

«Wenn wir um zehn Uhr zum Gottesdienst antanzen, ist die Museumsnacht aber lange vorbei, Mama.»

«Ja, aber wenn ich bis um zwei unterwegs war, bin ich am nächsten Tag einfach zu müde, um gleich vormittags zu einem Auftritt von euch zu gehen.»

«Es zwingt dich ja nun niemand, bis um zwei bei der Museumsnacht zu bleiben. Du musst auch nicht jedes Mal dahin gehen.»

«Aber bei der Museumsnacht haben sie immer so tolle Angebote, die möchte ich eben nicht verpassen.»

Tolle Angebote gab es bei uns nicht, nur schönen Gesang. Das reichte meinem Vater aber offenbar voll und ganz. Er kam nur zu gerne zu unserem Konzert. Auch ansonsten waren die Bänke in St. Johannis gut gefüllt, als wir dort einzogen.

Als erstes standen die vier Stücke aus dem Becker Psalter von Heinrich Schütz auf dem Programm. Herr Kaiser betrachtete sie als zusammengehörig, weshalb wir sie ohne Pause durchsangen. Wir begannen mit Wie nun, ihr Herren. Es folgten Aus tiefer Not, Singet dem Herrn und Kommt herzu lasst uns fröhlich sein. Wir sangen also ein düsteres und ein sehr düsteres Lied, um ein fröhliches und ein sehr fröhliches Lied folgen zu lassen. Dramaturgisch betrachtet eine sinnvolle Reihenfolge. Per aspera ad astra und so. Herr Kaiser hatte sich bei ihr jedoch noch wesentlich mehr gedacht.

«Ist euch das eigentlich schon mal aufgefallen, wie toll das ist? Die letzte Strophe von Singet dem Herrn endet mit ‹und was drin ist, soll fröhlich sein› und direkt im Anschluss singen wir Kommt herzu, lasst uns fröhlich sein. Das ist wirklich toll, oder? Vor allem, weil ich das so mache, es aber wie üblich kein Zuhörer jemals bemerken wird.»

Ich fragte mich, wie er darauf kam, dass das niemand erkennen würde. Mir war es sofort aufgefallen. Ich war mir jedoch nicht sicher gewesen, ob ich es für Absicht halten sollte.

Die weitere Programmreihenfolge des Konzerts war teilweise den Umständen geschuldet. Um unsere Männerchorstücke singen zu können, mussten wir uns auf die Empore begeben. Das kostete Zeit und verbreitete Unruhe. Herr Kaiser wollte den Zuhörern das verständlicherweise nur einmal zumuten. Wir mussten deshalb – anders als übrigens bei unserem Männerchorauftritt – alle vier Stücke hintereinander weg singen. Dafür waren sie nach meinem Empfinden leider nur sehr bedingt geeignet. Das lustvolle Orgelgedröhne des Magnificats von George Dyson konnte einfach nicht neben einem zur Meditation gedachten Stück wie Salve Regina stehen, ohne dass das befremdlich wirkte. Herr Kaiser ging jedoch sogar noch einen Schritt weiter. Als letztes Stück vor dem Männerchorblock hatte er sein geliebtes Gehe hin in deine Kammer gewählt – dem dann besagtes Magnificat folgte. Eine Werkkombination, die schon den Namen nach nicht funktionieren konnte.

Mein Vater war ähnlicher Ansicht.

«Also die Reihenfolge, das erinnerte ja schon etwas an Für Kenner und Liebhaber von Carl Philipp Emanuel Bach. Da kommen auch ganz oft völlig gegensätzliche Sachen direkt hintereinander. Das hat er aber natürlich nicht gemacht, weil er es nicht besser konnte, sondern weil er, wie gesagt, etwas für Kenner und Liebhaber komponieren wollte. Musik, mit der halt nicht jeder etwas anfangen kann.»

Meine tiefe Abneigung gegen This joyful Eastertide konnte mein Vater nur zu gut nachvollziehen.

«Ja, irgendwie hat Herr Kaiser für moderne Sachen nicht so ein Händchen. Alte Musik liegt ihm da doch wesentlich besser. Der Schütz und das von diesem Italiener haben mir sehr gut gefallen.»

«Du meinst O bone jesu? Ja, das ist geil. Ich habe übrigens irgendwo gelesen, dass das man lange Zeit gedacht hat, dass das von Palestrina ist.»

Ich hatte zwar keine rechte Ahnung, wer Palestrina ist, ging aber einfach mal davon aus, dass mein Vater es wusste. Mit dieser Vermutung lag ich goldrichtig.

«Naja, also dass das nicht von Palestrina ist, hat man aber eigentlich sofort gehört.»

O bone jesu stammte von einem Menschen namens Marc’Antonio Ingegneri. Es hatte mir zunächst überhaupt nicht gefallen. Ich hatte mich sogar bei meinen Eltern ausgelassen über dieses seelenlose Werk, wobei ich mit seelenlos vor allem emotionslos gemeint hatte. Alsbald hatte ich aber Gefallen gefunden an den stimmgewaltigen Klangteppichen, so wie ich an fast allen unseren Stücken schließlich doch Gefallen fand.

Wo wir aber schon bei Werken waren, denen man ihren Meister doch eigentlich sofort anhörte, konnte ich doch gut auf das Kyrie von Mozart zu sprechen kommen. Diesem Werk hörte man seinen Meister nämlich ganz und gar nicht an. Wenn ich an Mozart dachte, dachte ich vor allem an penetrante Heiterkeit. Und kam doch einmal eine traurige Passage, hatte ich das Bild eines Mannes mit schwarzem Frack und rotem Gesicht im Kopf, der großformatige Tränen in ein großformatiges Taschentuch vergoss. Mit dem rechten Arm hielt er seine Frau umklammert, die ebenso heftig weinte. Allen Beteiligten war klar: Man war nicht traurig, weil etwas Schlimmes geschehen war. Man war traurig, weil es einfach schön war, mal so richtig traurig zu sein.

Von solch selbstgefälliger Theatralik war das Kyrie weit entfernt. In seinen Tönen lag ein trüber Tag, an dem der Regen erbarmungslos auf das Kopfsteinpflaster prasselte. Eine Kutsche fuhr vor, heraus stiegen Menschen in Trauerflor. Sie traten rein ins Trockene, wo der Regen weit weg war. Doch es war nicht zu ändern: Was eingetreten war, war eingetreten.

Ich mochte die bedrückte Stimmung dieses Werks. Philipp mochte sie wohl ebenso, gleichwohl wir nie vergaßen, uns über den mörderischen Oktavsprung im Mitteilteil lustig zu machen. Letzteres war natürlich nichts, von dem ich meinem Vater erzählte. Meinem Vater erzählte ich, dass das Kyrie ein Werk war, dem man seinen Meister nicht anhörte.

«Das Kyrie ist mal heftig. Da glaubt man gar nicht, dass das von Mozart ist, oder?», sagte ich.

«Das stimmt, da hast du recht», erwiderte mein Vater.

«Wirklich auffällig, dass das so düster ist. Da muss Mozart wohl mal eine schwere Zeit durchgemacht haben.

«Das hat damit nichts zu tun. Das Stück ist zu einer Zeit entstanden, als Mozart mit alten Kompositionstechniken, namentlich dem Kontrapunkt, herumexperimentiert hat. Und Stücke, die auf dem Kontrapunkt basieren, klingen oft wesentlich ernster als das, was Mozart sonst geschrieben hat.»

«Ach so?»

«Ja.»

Mehr sagte ich nicht dazu. Wenn mein Vater das sagte, würde es schon stimmen. Wenn mein Vater im Bezug auf Klassik etwas sagte, stimmte es immer. Von daher war es gut zu wissen, dass sich unser Geschmack so sehr ähnelte.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es ist eine weit verbreitetes Vorstellung, dass Komponisten persönliche Stimmungen und Erlebnisse in ihrer Musik ausgedrückt und verarbeitet haben. Das Gesamtwerk eines Meisters ist mithin als dessen Lebens-Soundtrack zu verstehen. Ein schöner Gedanke, der jedoch völlig abwegig ist. Die meisten Komponisten haben das komponiert, was der Markt oder ihr Fürst eben verlangte. Ausnahmen sind höchstens im Bereich der Moderne zu finden. Strawinsky etwa musste schon einmal komponieren, um die Krankenhausaufenthalte zu bezahlen, die er sich durch seinen allzu heftigen Alkohol- und Nikotinzuspruch eingehandelt hatte.