Eine göttliche Komödie

Perlen von Holstein Folge 170

Mai 2007

Seit über zehn Jahren war ich mittlerweile ein Einwohner von Finkenwerder. Ich kannte den Stadtteil und seine Bewohner. Ich wusste, dass es eine Menge gab, was mich von ihnen unterschied. Schlagende Beweise hierfür erhielt ich im Grunde laufend. Die schönsten ereigneten sich jedoch immer dann, wenn Menschen aus Finkenwerder gemeinsam mit mir den sicheren Grund ihres Stadtteils verlassen hatten. So etwa auf unserer Kursfahrt nach Rom. Da hatte ich abends auf dem Hotelbett gelegen und von dem Flair der Stadt geschwärmt.

«Was ist denn Flair?», hatte ein Schulkamerad gefragt.

«So etwas wie Ambiente», hatte ein anderer geantwortet.

«Ach so. Aber mal ehrlich, Lennart: Finkenwerder hat doch auch Ambiente. Finkenwerder hat sogar viel mehr Ambiente. Egal wo du bist, du musst nur hundert Meter laufen und findest jemanden, mit dem du dich besaufen kannst.»

Was man unter einem besonderen Erlebnis verstand, hatte ich indes innerhalb Finkenwerders erfahren. Voller Begeisterung hatte ein Schulkamerad mir von einem erzählt.

«Du weißt doch, dass wir Fotos von uns in Anzügen und Ballkleidern gemacht haben. Ja, und als wir damit fertig gewesen sind, weißt du, wo wir dann hingegangen sind? Zu McDonald’s! Das war echt so geil: In Anzügen und Ballkleidern zu McDonald’s

In Anzügen und Ballkleidern zu McDonald’s zu gehen, empfand man in Finkenwerder in der Tat als tierisch geil. Man scheute sich nicht einmal, Bilder davon auf einschlägig bekannten Internetportalen zu veröffentlichen. Die Resonanz war halb so groß wie bei den hin und wieder hier verbreiteten Bikinifotos. Sie war mit anderen Worten überwältigend. Angesichts dessen traute ich mich fast nicht zu sagen, was ich dazu leider nur sagen konnte.

«Ähm, hast du ’ne Ahnung, wie oft ich schon nach Chorkonzerten im Anzug bei McDonald’s war?»

Ich wusste, dass das keine Reaktion war, mit der ich mich sonderlich beliebt machte. Ewig vorbei schienen die Zeiten zu sein, in denen ich über meine Chormitgliedschaft striktes Stillschweigen bewahrt hatte. Dabei war es keine zwei Jahre her, dass ich dem gleichen Klassenkamerad auf seine Frage, was ich Freitag eigentlich immer mache, geantwortet hatte: ‹Wenn ich dir das sagen würde, müsste ich dich umbringen.› Inzwischen redete ich ständig nur vom Chor. Entweder, um anschließend zu singen, oder um zu erzählen, wie gut jemand wie ich dort integriert war. Beides keine Dinge, mit denen man sich in Finkenwerder Freunde machte.

Der Renner wäre ich in Finkenwerder wohl gewesen, wenn man gewusst hätte, dass ich nicht nur im Anzug zu McDonald’s ging. Ich fuhr auch im Anzug Fahrrad. Leider bekam das nie jemand mit, denn an Sonnabenden und Sonntagen ging ein guter Finkenwerder nun einmal nicht aus dem Haus.

Heute würde dieses Vergnügen ohnehin ausfallen: Mein Fahrrad war kaputt. Einsam stand ich nun im Anzug an der Haltestelle Rudolf-Kinau-Allee herum. Der Bus hatte wie üblich Verspätung. Als er dann endlich kam, wünschte ich mir, er hätte sich noch eine Viertelstunde Zeit gelassen. Was mich nämlich in dem Gefährt Willkommen hieß, war eine erstaunlich große Gruppe erstaunlich alkoholisierter Menschen. Der Bus war so voll von ihnen, dass ich gerade noch in den Bus hineinpasste. Ich hatte unverschämtes Glück, denn nun griff der Fahrer zum Funkgerät, um der Leitstelle seine Situation zu erklären.

«Mein ganzer Bus ist voll von Leuten, die alle nach Altona wollen. Ich glaube nicht, dass das noch irgendeinen Zweck hat, wenn ich jetzt woanders halte: Es passt niemand mehr rein. Mit Ihrer Erlaubnis melde ich den Bus jetzt ab und fahre bis Altona durch.»

Aus dem Funkgerät drang zustimmendes Gemurmel.

Und so durfte ich zum ersten Mal erleben, dass ein Bus, in dem ich saß, dem Linienverkehr entzogen wurde. Der Fahrer trat kräftig ins Pedal und die Haltestellenschilder sausten nur so an uns vorbei. Dennoch war ich wohl nicht der einzige, dem diese Fahrt sehr, sehr lange vorkam.


An der Hauptkirche St. Jacobi wurde ich als erstes von Herrn Kaiser in Empfang genommen.

«Hallo, Lennart, geht’s dir gut?», fragte er.

«Den Umständen entsprechend –», erwiderte ich.

«Den Umständen entsprechend? Waren wieder die Omas im Bus?»

Ich hatte unserem Chorleiter einmal in der Einzelstimmbildung die Heerscharen von Rentnern geschildert, die Jahr für Jahr in Finkenwerder einfielen. Er hatte sich köstlich darüber amüsiert. Mal sehen, wie er nun reagieren würde.

«Nein», sagte ich, «der ganze Bus war voller Besoffener.»

«Voller Besoffener? Ach, herrje.»

«Ja – Sagen Sie mal: Kann ich für all das, was ich auf den Fahrten zu Konzerten so erlebe, nicht eigentlich mal langsam Schmerzensgeld vom Chor verlangen?»

«Ach, Lennart. Hast du eine Ahnung, wofür ich alles Schmerzensgeld vom Chor bekommen müsste?»

Wir begaben uns auf die Empore, wo in fünf Minuten die Generalprobe beginnen sollte. Als es so weit war, widmete sich unser Chorleiter Lars. Jener hatte sich einen Spitzbart wachsen lassen.

«Weißt du, Lars», sagte Herr Kaiser, «in der DDR kursierte so ein Witz: Lenin sagt: ‹Die Lage spitzt sich zu›», Herr Kaiser strich sich durch einen imaginären Spitzbart, «Karl Marx sagt: ‹Die Lage weitet sich aus›», Herr Kaiser kraulte seinen imaginären Rauschebart, «Honecker sagt: ‹Wird schon glatt gehen›», Herr Kaiser streichelte sich über seine babyglatte Gesichtshaut.

Die Knaben brachen in schallendes Gelächter aus. ‹Und immer diese künstliche Lache!›, hörte ich die Stimme Max-Fredericks in meinem Kopf pöbeln. Um über diesen Witz lachen zu können, musste man ihn nämlich zunächst einmal verstanden haben. Das hatten die Knaben ganz bestimmt nicht. Nun ja.

Herr Kaiser gähnte.

«Wirke ich müde?», fragte er Lars.

Meine Stunde war gekommen.

«Na, wieder die ganze Nacht mit Ihrer Krankengymnastin unterwegs gewesen, Herr Kaiser?», brüllte ich.

Die Knaben brachen in ein Gelächter aus, das nicht einmal in den kritischen Ohren Max-Fredericks gekünstelt geklungen hätte.

«Lennart», sagte Herr Kaiser, «deine Sprüche werden immer gemeiner, immer unberechenbarer, immer –»

Die Knaben lachten noch mehr.

«Was wisst ihr schon über meine Krankengymnastin?», fragte Herr Kaiser.

«Sie ist jung», entgegneten die Knaben.

«Ja, richtig.»

«Sie kommt aus der Schweiz.»

«Stimmt ganz genau.»

Reaktionen, von denen Opa Max in seinen Flegeljahren nur hätte träumen können. Bei ihm hatte damals im Zeugnis gestanden: ‹Sollte sich sein fortgesetzt dreistes und vorlautes Verhalten nicht ändern, kann ihm das Zeugnis der Reife nicht erteilt werden.› Eine Drohung, die Opa Max so ernst genommen hat, wie sie gemeint gewesen war. Allerdings: So wie Herr Kaiser auf mich reagierte, reagierte er nur auf mich. Das hätte allen bekannt sein müssen. War es aber nicht, wie sich fünf Minuten später zeigen sollte. Eine junge Dame betrat die Empore. Um sie durchzulassen, musste Herr Kaiser kurz seinen Platz räumen.

«So, nach dieser charmanten Unterbrechung –», sagte er.

«Sie finden sie charmant?», fiel ihm ein Knabe ins Wort.

«Ich habe gesagt, dass ich die Unterbrechung charmant fand.»

Selbst am Hofe eines Kaisers konnte eben nur einer Narrenfreiheit haben.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es verwundert schon, dass Herr Kaiser mich so schätzte, obwohl ich mich doch so häufig über ihn lustig machte. Der Hauptgrund mag sein, dass ich mich niemals angemaßt hätte, Negatives über seine künstlerischen Fähigkeiten zu äußern. Das nämlich kann schwer ins Auge gehen, wie Carl Philipp Emanuel Bach in seiner Zeit am Hof Friedrich des Großen erleben musste. Fiel jemandes Lob über das Flötenspiel des Preußenkönigs allzu blumig aus, hielt Carl Philipp schon einmal dagegen. Er tat das durchaus humorvoll, was ihm jedoch nichts nützte: In der Gunst Friedrichs standen Johann Joachim Quantz und Carl Heinrich Graun über ihm. Und über Carl Heinrich Graun äußerte der strengste Musikkritiker aller Zeiten – mein Vater – einmal: «Ich habe mir einmal eine CD mit Flötenkonzerten von ihm angehört und das war sowas von langweilig, da hat mich gleich das Graunsen gepackt!»

Der Grund für unsere Anwesenheit war ein Gottesdienst. Philipp und ich freuten uns schon riesig: Gottesdienste in St. Jacobi hatten sich als unter den regelmäßigen Veranstaltungen als die mit dem größten Unterhaltungswert herauskristallisiert. Und auch heute war bereits der Anfang vielversprechend.

Der Pastor hieß uns im Namen von Jesus Kwistus willkommen. Ich hielt einen Augenblick inne. Hatte er gerade wirklich Kwistus gesagt? Er hatte es. Und er tat es im Laufe der folgenden drei Minuten noch weitere fünf Mal. Philipp, Guido und ich kicherten ungeniert.

Der Spaß ging jedoch jetzt erst so richtig los. Es folgte nämlich nun das, was Herr Kaiser stets als Liturgie bezeichnete: Das gemeinsame Singen von Kyrie eleison und Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’. Ein Gottesdienst in St. Johannis-Harvestehude war für unseren Chorleiter vor zwei Jahren ein Anlass gewesen, besagte Liturgie mit uns einzustudieren. Und obwohl wir sie nur alle paar Monate einmal sangen, schienen wir sie besser zu beherrschen als die Gemeinde. Die sang, wie Gemeinden eben sangen: Qäukend und säuselnd und immer fünf Töne hinter der Orgel. Wir hielten mit deftigem Vollklang dagegen.

Der Pastor betrat die Kanzel und hielt die heutige Predigt. In deren Verlauf durften wir feststellen, dass er nicht nur Kwistus statt Christus sagte. Er sagte auch Kwaft statt Kraft und Kwigg statt Krieg. Dabei starrte er mit sonderbar leeren Augen unentwegt in unsere Richtung. Man hätte meinen sollen, dass uns das diszipliniert hätte. Jedoch verstärkte jeder Blick in seine Augen unser Gelächter noch. Verbotene Früchte schmecken nun einmal am besten. Ihr Konsum war für uns zudem völlig ungefährlich. Die Kanzel war weit weg.

«Jesus Kwistus kämpfte mit seiner Kwaft im Kwigg», sagte Guido und erntete Gekicher. Interessanterweise sprach der Pastor das R nur dann wie ein W aus, wenn es auf ein K folgte. Ansonsten sagte er es völlig korrekt. Sein Sprachfehler wäre kein Drama gewesen, hätte er nicht so eine große Vorliebe für Wörter gehabt, die mit Kr begannen und hätte er nicht einem Beruf ausgewählt, in dem er häufig von Christus reden musste. Ihm schien das aber alles genauso wenig auszumachen wie sein breites Thüringisch. Ansonsten hätte er wohl zumindest den Versuch unternommen, es zu unterdrücken. Das tat er aber nicht, was in einem Hamburger Gotteshaus nur böse enden konnte. Philipp, Guido und ich lachten auch darüber ungeniert.

Es folgte ein weiteres Gemeindelied: Gelobt sei Gott im höchsten Thron. Unser Lieblingskirchenschlager. Von der Predigt euphorisiert, sangen wir ihn in einem deftigen Vollklang, wie man ihn sonst nur aus dem Fußballstadion kannte. Ich hätte eigentlich guten Grund gehabt, mich zurückzuhalten: Nach dem letzten Gottesdienst in St. Johannis-Harvestehude war ich so heiser gewesen, dass ich drei Tage lang nicht hatte sprechen können.

Der Gottesdienst endete damit, dass Philipp und ich zum Orgelspiel sämtliche Gesangbücher auf dem Schoß von Leonard stapelten. Leonard war vor einem Monat aus dem Stimmbruch zurückgekehrt und musste da jetzt durch. Jürgen machte abfällige Bemerkungen, wir lachten uns trotzdem krumm und schief.

Nach getaner Arbeit begab ich mich zum örtlichen McDonald’s. Dort traf ich einige Knaben, die sich ebenso nichts dabei dachten, hier in Chorkleidung zu erscheinen.