Männer grölen nebst Knaben

Perlen von Holstein Folge 132

April 2006

Auf unsere alten Tage probten wir heute tatsächlich mal wieder nahe bei den Trommlern von der Musiktherapie. Allerdings nicht in dem Kabuff nebenan, sondern in einem Raum gegenüber von dem ihren. Dieser Raum ließ mich immer an eine IKEA-Werbung denken, die vor einigen Jahren gelaufen war. In dieser hatte der Bewohner eines Einzimmer-Wohnklos hinter einem Bücherregal eine Tür entdeckt. Sie hatte ihn in eine pompöse Schwimmhalle im Stil eines römischen Bades geführt. Der Off-Sprecher hatte dazu verkündet: ‹Entdecken Sie Räume, von denen Sie vorher nichts geahnt haben.› Und genauso verhielt es sich es sich mit dem Raum gegenüber von dem der Musiktherapie-Trommler: Von einem schmalen Gang gelangte man in einen großen Saal. Dessen einziges Manko war, dass er immer sonderbar dreieckig wirkte. Moderne Architektur ist eben immer irgendwie von den Schildbürgern inspiriert.

Auf dem schmalen Gang wurde ich von einigen Knaben in Empfang genommen.

«Ey, Lennart», sagte einer und sang aus voller Kehle: «Tschüs, tschüs, schade, dass du gehst! Ciao, ciao, ist es schon so spät?»

Die anderen Knaben stimmten nach und nach mit ein.

Sie vermuteten wohl, dass dieses Lied zu jenen gehörte, die ich einfach zu bescheuert fand, um sie nicht immer wieder zu singen. Damit lagen sie goldrichtig.

Ich holte tief Luft und sang mit.

music snippet

Ein Meisterwerk verbindender Musik. Man musste sich das schließlich einmal vorstellen: Die Knaben, mit denen ich mich sonst in fast jeder Pause balgte, sangen gemeinsam mit mir. Ganz ohne Zwang, ganz ohne Chorleiter, einfach so aus Freude am gemeinsamen Musizieren. ‹Pack schlägt sich, Pack verträgt sich›, hätte Opa Max jetzt gesagt. Es war im Übrigen das gemeinsame Lied von Kinder singen für Kinder, bei dem wir dieses Jahr nach langer Zeit mal wieder mitwirkten. Prinzipiell war das für mich kein Grund zur Freude: Mit diesem Festival verband ich nur negative Erinnerungen. Vor zehn Jahren, als ich noch Zuhörer gewesen war, hatte mich die ganze Veranstaltung dermaßen gelangweilt, dass meine Mutter und ich in der Pause gegangen waren. Und vor fünf Jahren, da hatte ich mir vor unserem Auftritt von meinen Sangesbrüdern anhören dürfen, dass ich nach Fisch stinke. Von den durchweg grässlichen Darbietungen unserer Mitbewerber einmal ganz abgesehen.

Dieses Mal jedoch würde es wohl anders verlaufen. Imanuel hatte jüngst eingestanden, dass das mit dem Fischgeruch sachlich durchaus richtig gewesen war, es jedoch andere Wege gegeben hätte, mich hierauf hinzuweisen. Die Qualität der Mitbewerber würde besser sein: Seit einigen Jahren wurde bei Kinder singen für Kinder nicht mehr jeder Chor zugelassen. Zudem würden es gar keine Mitbewerber mehr sein. Der gleiche Herr Sobirey, der Frau Siebenkittel vor fünf Jahren gebeten hatte, am Wettbewerb von Kinder singen für Kinder teilzunehmen, hatte Herrn Kaiser höflichst angefragt, ob er vielleicht – aber nur, wenn es ihm auch nicht zu blöd ist – bei der Veranstaltung mitwirken könnte. Außer Konkurrenz, versteht sich – wir waren doch nicht irgendwer.


Auch wenn hier nicht mehr jeder mitsingen durfte: Kinder singen für Kinder war sich treu geblieben. Die Chöre traten im Altarraum auf. Das wäre nichts weiter Aufsehenerregendes gewesen, hätte die Veranstaltung in irgendeiner Kirche stattgefunden. Sie fand aber im Michel statt. Und im Michel traten Chöre für gewöhnlich auf der Chorempore auf. Das musste man nicht gut finden, entsprach aber offensichtlich dem Wunsch des Architekten: Der Altarraum des Michels war beengt, die Chorempore hingegen fast schon zu geräumig. Außerdem hieß sie Chorempore, war also schon dem Namen nach für Chöre vorgesehen. Es war natürlich trotzdem schon mehr als einmal vorgekommen, dass wir im Altarraum aufgetreten waren. Meist bei Veranstaltungen, bei denen mehr das optische Erlebnis im Vordergrund stand und weniger die Musik. Eine solche Veranstaltung war Kinder singen für Kinder zweifelsohne.

Weil wir außer Konkurrenz sangen, durften wir als Erstes auftreten. Nach geeigneten Stücken für diese Veranstaltung hatte Herr Kaiser nicht lange suchen müssen: Wir sangen Innsbruck, ich muss dich lassen, Nun fanget an, Ach Elslein, liebes Elselein mein, Mit Lust tät ich ausreiten und, last but not least, Es führt über den Main. Wir ernteten begeisterte Beifallsstürme. Das konnte Herrn Kaiser nur recht sein. Er plante nämlich, eben diese fünf Stücke auf CD aufzunehmen.

Meine Begeisterung hätte kaum größer sein können. Schon bald würde ich eine Möglichkeit mehr haben, mich gezielt in einen nostalgischen Rausch zu versetzen. Ich würde eine CD besitzen, die mich an die seligen Zeiten des Jahres 2006 erinnerte. Es wären zwar nicht alle Werke dabei, die wir gesungen hatten und vor allem nur die einfachen Stücke. Aber das war doch besser als gar nichts. Außerdem wusste ich doch inzwischen: Einfache Stücke befriedigten meine Sehnsucht nach Nostalgie am effizientesten.

Erfahren hatte ich das kurz nachdem ich einen glücklichen Fund gemacht hatte: Es gab doch eine Aufnahme von unserem Amerika-Programm. Meine Mutter hatte sie damals offenbar einfach einkassiert. Nachdem ich hiervor erfahren hatte, hatte ich nicht lange gezögert: Ich war ins Zimmer meiner Mutter gestürmt und hatte erklärt, dass ich nicht gehen würde, ehe sie mir sämtliche CDs ausgehändigt hätte. Sie war auch gleich zu ihrer Kommode gegangen und hatte mir USA-Programm 2002 und Via Crucis in die Hand gedrückt.

Bei USA-Programm 2002 handelte es sich um einen Privatmitschnitt mit entsprechend grauenhafter Tonqualität. Trotzdem hatte die Scheibe ihren Zweck nicht verfehlt. Ich war sofort in einen Zustand vollkommener Seligkeit geraten. Verantwortlich dafür waren vor allem die einfachen Stücke wie Wirf dein Anliegen auf den Herrn oder Wohl mir, dass ich Jesum habe. Sie kündeten einfach so viel mehr von einer heilen Welt als Sei Lob und Preis mit Ehren und Unser Leben ist ein Schatten. Wenn unsere damaligen Männer die tiefen Töne von ‹und keiner wird zu Schanden› sangen, das war pure Geborgenheit. Ich hörte ihre väterlichen Stimmen und dachte daran, dass unsere damaligen Männer genau das für mich gewesen waren: Väter, die immer für einen da waren. Beim Unser Leben ist ein Schatten begriff ich hingegen allmählich, warum meine Mutter das Stück immer als deprimierend bezeichnet hatte. Wir sangen mit beinahe panisch grellen Sopranstimmen: ‹Ach, Herr lehr uns bedenken wohl, dass wir sind sterblich allzumal. Auch wir allhier kein Bleibens han, müssen alle, alle, alle davon.› Was dem folgte, war eine ziemlich abrupte und, nun ja, unmissverständliche Stille. Das war definitiv bedrückend.

Als Ehrengäste der heutigen Veranstaltung durften wir nach unserem Auftritt auf der Orgelempore Platz nehmen. Sie bildete zusammen mit einigen Logen das zweite Obergeschoss des Michels. Man saß also in luftiger Höhe und konnte sehen, ohne gesehen zu werden und hören, ohne gehört zu werden. Uns hier zu platziert zu haben war mit anderen Worten eine weise Entscheidung gewesen. Herr Kaiser nämlich machte keinen Hehl daraus, dass er diese Veranstaltung kaum weniger ernst nahm als wir. Damit stellte er David und mir einen Blankoscheck aus.

Die erste Stunde bot noch wenig Anlass für Häme. Die anderen Chöre waren weiß Gott nicht gut, aber eben auch nicht richtig schlecht. Es hatte tatsächlich etwas bewirkt, hier nicht mehr jeden mitsingen zu lassen. Für ein wenig Heiterkeit sorgte einzig ein japanischer Kinderchor. Unser Lachen war aber durchaus freundlich zu verstehen. Wenn ein Chor Alle Fügel sind schon da sang, voller Überzeugung Alle Fügel sind schon da sang, war das nun einmal komisch.

Noch viel komischer war allerdings das Rahmenprogramm. Herr Sobirey höchstpersönlich gab sich die Ehre, das gemeinsame Singen zu leiten. Er stellte sich nach vorne und sang vor: «I like the flowers, I like the daffodils, I like the mountains, I like the rolling hills, I like the fire place when the sun is gone –» Dazu führte er eine Choreografie auf, die im Grunde den Text wiedergab. Zu I like the flowers sollten wir so tun, als würden wir eine Blume pflücken. Zu I like the rolling hills die Silhouette einer Hügelkette in die Luft zeichnen. Das hätte mir als Siebenjähriger bestimmt sehr gefallen. Leider war ich inzwischen ein Siebzehnjähriger und da musste ich so etwas nicht mehr gut finden.

David und ich ließen sämtliche Hemmungen fallen. Wir gaben hämische Kommentare ab. Wir sangen mit vollkommen übertriebener Innbrunst. Wir klatschten auf die zwei und auf die vier statt auf die eins und auf die drei.

«Leute», sagte Imanuel, «ich weiß, es ist keine Veranstaltung, die man sonderlich ernst nehmen kann. Aber es sind eine ganze Menge Leute da. Leute, die uns normalerweise nicht hören würden. Und deshalb sollten wir uns alle Mühe geben, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Wir sind schließlich auch hier der Neue Knabenchor Hamburg

David und ich machten einfach weiter.

«Leute!», sagte Imanuel.

Damit erreichte er, dass wir jetzt auch noch mit den Füßen stampften. Ein großer Spaß, dessen einziger Wermutstropfen es war, dass Marc und Herr Kaiser nicht im Traum ans Eingreifen dachten.

Am Ende der Veranstaltung mussten wir noch einmal von der Orgelempore herunter. Alle Chöre sollten sich in einem großen Kreis im Kirchenschiff aufstellen und gemeinsam Tschüs, tschüs, schade, dass du gehst singen. Wie wir uns aufstellten, war uns überlassen. Es war seitens des Veranstalters sogar durchaus erwünscht, dass wir uns ein wenig mischten. Das geschah dort, wo ich stand, in gewisser Weise tatsächlich. Um mich herum versammelte sich eine ganze Reihe von Knaben, die es kaum erwarten konnte, es noch einmal zu singen, dieses: «Tschüs, tschüs, schade, dass du gehst! Ciao, ciao, ist es schon so spät?»

Ich holte tief Luft und sang mit ihnen.