Leben in Geborgenheit

Perlen von Holstein Folge 125

Dezember 2005

Nun war es also mal wieder Dezember geworden. Rein oberflächlich betrachtet war alles wie immer: Sämtliche Privat- und Geschäftshäuser waren in irgendeiner Weise illuminiert. Aus öffentlich aufgestellten Lautsprechern erklang Last Christmas. Nicht mehr lange und sie würden bei Pro7 wieder den Action-Film Tödliche Weihnachten zeigen. Das Fest der Liebe war da. Und natürlich handelte auch unser Lied- und Motetten-Programm derzeit von nichts anderem. Und doch, eine entscheidende Sache fehlte: Bei mir hatte sich noch immer kein nennenswertes Weihnachtsgefühl eingestellt.

Ich hatte nicht ernsthaft erwartet, die Farbe, Freude und Festlichkeit zu empfinden, die jede Weihnacht mit dem Knabenchor so auszeichnet hatte. Dazu fehlten einfach zu viele der alten Stücke und dazu fehlte einfach Frau Siebenkittel. Das war bedauerlich, aber kein Grund, traurig zu sein. Die letzten beiden Jahre hatte ich auch ohne sie auskommen müssen. Meine Weihnachtsstimmung hatte ich mir bei Auftritten mit unserem Schulorchester geholt. Das war besonders im letzten Jahr durchaus ertragreich gewesen. Beim Konzert in der Kirche St. Nikolai zu Hamburg-Finkenwerder waren wir im Altarraum untergebracht worden. Dort hatten wir auch gesessen, als ein Chor aus sämtlichen Fünft- und Sechstklässlern sich die Ehre gegeben hatte. Sie hatten Hört der Engel helle Lieder gesungen, besser: Aus voller Kehle geschrien. Der weltberühmte Refrain mit seinem weltberühmten Gloria hatte sich aus einer Million Tönen zusammengesetzt. Die richtigen waren nicht darunter gewesen. Unsere exponierte Lage hatte nicht verhindern können, dass wir einen schallenden Lachanfall bekommen hatten.

Farbe, Freude und Festlichkeit war nicht nötig, um in Weihnachtsstimmung zu kommen. Und Herrn Kaisers Programm gefiel mir im Großen und Ganzen. Meine Teilnahmslosigkeit hatte wohl einen anderen Grund. Einen, den ich nicht lange suchen musste.

Letzte Woche hatte das Gespräch mit unserem Vertrauenslehrer stattgefunden. Er hatte sogleich klargestellt, dass er mich nicht für einen Amokläufer hielt. Er war ziemlich sicher, dass für meine beiden Klassenkameradinnen das gleiche galt. Ihnen ginge es eigentlich um etwas ganz anderes, meinte er. Wohl deshalb hatte er keinen Hehl daraus gemacht, dass ihn die ganze Angelegenheit in erster Linie amüsierte. Ich hatte dennoch keinen Anlass, aufzuatmen. Entscheidend war nicht, was er dachte, sondern was meine Mitschüler dachten. Und was die dachten, wusste ich inzwischen mit Gewissheit. Außerdem stand die entscheidende Schlacht erst noch bevor: Das Gespräch mit unserem Vertrauenslehrern und meinen Klassenkameradinnen. Wer wusste schon, ob die beiden nicht noch irgendetwas in petto hatten. Und selbst wenn letztlich doch alles glimpflich ausgehen sollte, selbst wenn die beiden die verdiente krachende Niederlage kassieren würden, eine Tatsache blieb: Jahrelang war ich immer wieder Ziel von Attacken diverser Mitschüler gewesen. Von Lehrern hatte ich keinerlei Hilfe erfahren. Dabei hatten sie oft genug danebengestanden, hatten meine Beschwerden gehört. Geschehen war nichts. Mitunter hatte ich sogar erleben dürfen, dass Pädagogen mit meinen Peinigern kollaboriert hatten. Und nun kamen diese Weiber, plärrten ein wenig herum und sofort wurde ein riesiges Verfahren aufgezogen. Wer sollte in einer Welt, die so beschaffen war, weihnachtliche Gefühle entwickeln? Dabei wollte ich das durchaus. Ich wollte Freude an der Weihnachtssaison des Chores empfinden.

Meiner ersten seit drei Jahren.

Die Frage, ob ich die damit verbundenen Strapazen überhaupt noch verkraftete, brauchte ich mir nicht zu stellen. Der Konzertplan war erschreckend übersichtlich. Gerade einmal acht Auftritte hatten wir zu bewältigen. Ein Witz verglichen mit dem, was früher Standard gewesen war. Bemerkenswert war, dass nicht etwa das große Konzert in St. Jacobi wegfiel. Es gab sogar noch ein zweites in St. Johannis-Harvestehude. Dafür hatten wir nun keine Auftritte in Albertinen, Tabea und dem Torhaus Wellingsbüttel mehr. Sie alle hatten wohlgemerkt im vergangenen Jahr noch stattgefunden. Dies war zumindest dem damaligen Chorplan zu entnehmen. Ich sollte dennoch erleben dürfen, wie Herr Kaiser sich beim Umgang mit den speziellen Anforderungen eines Altersheims bewährte. Wir sangen in der Feddersen-Stiftung, einer mir bislang unbekannt gebliebenen Seniorenresidenz in Hamburg-Lokstedt.

Die Feddersen-Stiftung sah aus, wie Altersheime eben aussahen: Ein Gebäude, das mit Balkons und Panoramascheiben darüber hinwegzutäuschen versuchte, dass es sich architektonisch an einer Klinik orientierte. Dazu ein auf Idylle getrimmter Garten.

Als ich das Foyer des Hauses betrat, umfing mich ein merkwürdiges Gefühl von Trostlosigkeit. Die Bewohner, die ich traf, schienen keine Notiz von mir zu nehmen. Und von Heimmitarbeitern war ich auch schon einmal herzlicher empfangen worden. Ob es daran lag, dass ich keinen roten Pullover mehr trug?

Ich betrat das Zimmer, das man uns als Aufenthaltsraum zur Verfügung gestellt hatte. Es war beengt; kein Vergleich zu dem Kellersaal, den wir in Tabea immer gehabt hatten. Damit alle Platz fanden, mussten wir uns dicht an die Wand drängen. Immerhin hatte man eine Platte mit Gebäck bereitgestellt. Mit den Riesen-Schokoladenweihnachtsmännern aus den Anfangsjahren von Tabea konnte sie jedoch bei weitem nicht mithalten.

Einen als Konzertsaal taugenden Raum gab es in der Feddersen-Stiftung nicht. Unser Auftritt fand in einer Ecke des Foyers statt. Bereits während der Generalprobe war es hier unerträglich stickig. Herr Kaiser kippte das einzige Fenster, das sich öffnen ließ. Es war winzig klein. Allzu viel Luftzufuhr war nicht zu erwarten. Dennoch erwachten zwei anwesende Heimbewohner zu unverhofftem Leben. Sie bestanden darauf, dass unser Chorleiter das Fenster sofort wieder schloss. Dies begründeten sie mit ihrer Gesundheit, die durch die Zugluft unnötigen Gefahren ausgesetzt würde. Herr Kaiser blickte sie einige Sekunden lang irritiert an, fügte sich dann aber. Mit dem Publikum wollte man es sich schließlich nicht verscherzen. Weit mehr als die Senioren nervten ihn heute zudem heute einige Knaben.

«Wenn dir das alles hier zu viel ist, kannst du auch gerne rausgehen und dich kindlich entfalten», sagte er zu einem. Auf die Worte ‹kindlich entfalten› äffte er den Ton einer allzu fürsorglichen Mutter nach. Überfürsorgliche Mütter nämlich konnte unser Chorleiter nicht besonders leiden. Fast genauso wenig wie welche, die ihre Kinder zu mehr als zwei Nachmittagsaktivitäten zwangen. Neulich hatte er einmal das Kind einer solchen Mutter nachgeäfft: «Ja, ich singe im Chor. Und ich spiele Flöte. Und Klavier. Und Saxophon. Und Tennis. Und Fußball. Und ich tanze. Und das macht mir alles so viel Spaß.» Eine Lüge, deren Durchsichtigkeit unser Chorleiter stilsicher eingefangen hatte. Der ganze Probenraum hatte gelacht. Überhaupt bewies Herr Kaiser beim Nachäffen immer wieder ein erstaunliches komödiantisches Talent. Leider war es nicht von einer Art, die ihm im Umgang mit dem heutigen Publikum etwas nützen würde. Andererseits: Vielleicht zeigte er sich gleich von einer ganz anderen Seite. Er überraschte einen ja doch immer wieder.

Jetzt aber hatten erst einmal zwei andere Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen: Unser Sänger Guido und ein Mädchen traten nach vorne. In der Hand hielten sie jeweils eine Klarinette.

«Lennart», sagte ein Knabe mit Blick auf das Mädchen.

Die anderen Knaben lachten.

Ich schwieg. Darauf einzugehen, war mir dann doch etwas zu kindisch. Ich fand Guido zudem viel phänomenaler. Er war nicht der Guido, der damals mit Morle händchenhaltend durch San Francisco gelaufen war, um die Leute zu provozieren. Der Guido hier war etwa zwei bis drei Jahre jünger als ich. Vor allem aber schwor er Stein und Bein, schon seit langen Jahren Mitglied in unserem Chor zu sein. Ich war dennoch überzeugt, ihn vor einigen Wochen das erste Mal gesehen zu haben. Jetzt wusste ich, dass wir sogar eine Gemeinsamkeit hatten: Wir beide spielten Klarinette. Ich konnte froh sein, dass er davon nichts wusste. Ansonsten hätte er wohl mich gebeten, sein Duett-Partner zu sein. Wie das geklungen hätte, konnte ich nicht sagen, jedenfalls nicht so schön wie mit dem Mädchen. Nicht völlig zum Spaß hatte mein Klarinettenlehrer neulich gesagt: «Du hast das nicht geübt? Dann sollte man deinen stark subventionierten Unterricht vielleicht interessierteren Schülern zur Verfügung stellen.» Sein Ziel hatte er damit erreicht: Ich hatte tatsächlich einmal nichts zu erwidern gewusst.

Endlich begann das Konzert. In einer ganz und gar ungewöhnlichen Weise. Normalerweise war es das Publikum, das uns erwartete. Dieses Mal erwarteten wir das Publikum. Geduldig standen wir vorne, während die Pfleger einen Heimbewohner nach dem anderen in den Raum begleiteten oder rollten. Ein Anblick, der mich regelrecht erschütterte. Meine Güte, das war hier ja das reinste Hospiz. Die Omis in Tabea waren weiß Gott auch alt und gebrechlich gewesen, aber nicht überwiegend scheintot. Die Blicke vieler waren so leer, dass man sich ernsthaft fragte, ob sie uns überhaupt wahrnahmen. Ob es sich überhaupt lohnte, für sie einen echten Knabenchor hierher zu bestellen. Man hätte gut und gerne auch einen Lautsprecher samt Leinwand mit einem Foto von uns aufstellen können. Den Unterschied hätten wohl die wenigsten bemerkt.

Eine Situation, in der selbst eine Frau Siebenkittel Schwierigkeiten gehabt hätte, für Stimmung zu sorgen. Herr Kaiser jedoch nahm die Herausforderung an.

Wir sangen unser erstes Stück und wurden dafür zaghaft beklatscht. Herr Kaiser wandte sich um.

«Ja, was ich noch sagen wollte», sagte er, «Natürlich freuen wir uns, wenn es ihnen gefällt, doch es ist so: Die Reihenfolge der Stücke ist schon bewusst gewählt und die Pause dazwischen, die gehört auch eigentlich dazu. Ich würde Sie deshalb bitten, sich bis zum Schluss zu gedulden und wenn es ihnen dann immer noch gefallen hat, dürfen Sie dann gerne klatschen.»

Das Publikum lachte höflich.

Ich musste daran denken, wie meine Mutter mich vor vier Jahren in die Laeiszhalle zu einem Konzert ihres allerliebsten Lieblingsbaritons Thomas Quasthoff geschliffen hatte. Nach der ersten Konzerthälfte hatte Quasthoff die Schnauze voll gehabt vom Geklatsche und Gehuste.

‹Ich möchte alle Lungenkranken sehr herzlich bitten, doch wenigstens die Pausen zwischen den Liedern abzuwarten. Ich huste dann auch mit ihnen›, hatte er gesagt.

Anschließend hatte eine Stunde lang Totenstille geherrscht. Das Hamburger Abendblatt hatte am nächsten Tag getitelt: ‹Quasthoffs kesse Publikumsschelte.› Entscheidend aber war gewesen: Das Lachen, das er dafür geerntet hatte, war weit mehr als nur höflich gewesen. Aber deswegen durfte Herr Quasthoff ja auch in der Laeiszhalle auftreten und Herr Kaiser nur in der Feddersen-Stiftung.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Der rechte Umgang mit störendem Publikum war noch so eine Spezialfähigkeit des Ludwig van Beethoven. Und störendes Publikum gab es auch vor zweihundert Jahren reichlich. Ein junger Graf etwa zog das Gespräch mit seiner weiblichen Begleitung Beethovens Klavierspiel vor. Der Meister reagierte prompt. Er sprang auf, schrie: «Für solche Schweine spiele ich nicht!», und verließ den Raum. Eine Maßnahme, die man sich in so manchem Klassik-Konzert auch heute noch wünscht.

Unser Chorleiter ließ sich nicht beirren.

«Das nächste Stück, das wir jetzt singen, ist Es kommt ein Schiff. Falls Sie sich jetzt wundern, dass die Knaben so erwartungsvoll gucken: Sie wissen ja, in dem Namen des Liedes Es kommt ein Schiff kommt noch ein Wort vor und ich habe den Knaben versprochen: Wenn ich dieses Wort sage, erhält jeder eine Portion Eis. Natürlich sage ich das Wort jetzt nicht.»

Das Publikum lachte erneut höflich. Ich hingegen wunderte mich nur über die Formulierung ‹eine Portion Eis›. Zwar hielt ich es durchaus für denkbar, dass man das sagen konnte, fand aber ‹eine Kugel Eis› doch schöner. Sie zur Verwendung in einer Anekdote zudem tauglicher.

Ich musste zu dem Schluss gelangen, dass es nun einmal so war: Herrn Kaisers komödiantisches Talent konnte nur dann zur Geltung kommen, wenn er seinen eigenen, ganz speziellen Humor einsetzen durfte. Wenn er nicht an seine gute Kinderstube denken musste. Das bewies er kurz vor Schluss, wenn auch eher unbeabsichtigt.

«So, nun nähern wir uns langsam dem Ende», sagte er. Er blickte in das noch immer scheintote Publikum. «Des Programms», fügte er hinzu.

Wir Männer lachten darüber weit mehr als nur höflich.