Ein Erlebnis von kaum zu überbietender Überflüssigkeit

Perlen von Holstein Folge 121

Die Jugendherberge Darmstadt war fürwahr stinkgewöhnlich. Natürlich gab es auch hier Lunchpakete, deren Inhalt niemand so wirklich essen wollte. Bemerkenswert jedoch waren die Tüten, in die er verpackt wurde: ‹Gegen den löwenstarken Hunger!› stand auf ihnen zu lesen. Darunter war ein Löwe abgebildet, der genüsslich in ein Sandwichbaguette biss. Ein Detail, das ich gerne mit einem Fotoapparat festgehalten hätte. Über einen derart missglückten Versuch, sich bei der kindlichen Kundschaft anzubiedern, konnte ich ja schon jetzt lachen. Wie würde es erst in zwei Jahren sein, wenn ich mit leisem Wehmut an unseren Aufenthalt in dieser Unterkunft zurückdachte?

Zum Glück schien Philipp, der offizielle Fotobeauftragte des Chores, ähnlich zu denken. Er machte ein Bild von seiner Tüte. Es war seine letzte Amtshandlung. Der Gute hatte sich bei irgendeinem Anflug von löwenstarkem Hunger ein schweres Magen-Darm-Leiden zugezogen. Dies hatte sich über Nacht nicht gebessert, weshalb er heute vorzeitig abreisen würde.

Es lag schon eine gewisse Ironie darin, dass sich Philipp seine Erkrankung ausgerechnet in einem Ort namens Darmstadt geholt hätte. Niemand geringeres als Volker witzelte: «Was wäre erst passiert, wenn wir nach Pforzheim gefahren wären?» Eine Frage, die aber nur dann Brisanz besessen hätte, wären wir dann auch in Pforzheim aufgetreten. In Darmstadt traten wir nicht auf. Unser Konzert gaben wir in der Evangelischen Stadtkirche des Nachbarorts Groß-Gerau.

Das Konzert kennzeichnete sich durch Mäßigkeit. Es war mäßig besucht und in seinem Verlauf mäßig spektakulär. Davor und danach spielten sich jedoch emotionale Szenen ab. Imanuel geriet mit David und mir in eine heftige Auseinandersetzung. Es begann damit, dass Meister Pfriemel, wie ich Imanuel in solchen Situationen nannte, am Zustand meines Hemdenkragens herummäkelte. Meine Proteste hielten ihn nicht davon ab, den Kragen sogleich zurechtrücken zu wollen.

«Musst du eigentlich wirklich vor jedem Konzert an mir herumpfriemeln, Imanuel?», sagte ich.

«Ja, willst du mit so einem Kragen auftreten, Lennart?», erwiderte er.

«Ja, will ich, Imanuel!»

Als wir dann einziehen mussten, eskalierte der Streit endgültig. Imanuel befand einmal mehr, dass David und ich nicht in Reih und Glied genug standen und nicht in Reih und Glied genug gingen.

«Leute!», sagte er.

«Ey, Imanuel, kannst du dich jetzt einfach mal um deinen eigenen Scheiß kümmern?», brüllte David.

In der Pause ließ ich mich bei ihm über Imanuel aus.

«Meine Fresse, manchmal fragst du dich echt, ob Imanuel klar ist, dass wir zwei Jahre älter sind als er. Der tut echt so, als wären wir kleine Kinder und wundert sich dann, dass wir auch genauso auf ihn reagieren. Er ist echt so ein kleiner Marc manchmal.»

Nach dem Konzert kam es zur Versöhnung. Imanuel bekannte sich dazu, der Böse gewesen zu sein, und entschuldigte sich vielmals hierfür. Damit war die Sache aus der Welt. Eines war jedoch deutlich geworden: Es war Zeit, dass wir nach Hause kamen und mal ein paar Tage ohneeinander verbrachten. Dazu hätte nun, wo das letzte Konzert dieser Reise gesungen war, theoretisch auch die Möglichkeit bestanden. In der Praxis aber hatte irgendwer den Einfall gehabt, dass wir doch noch einen Tag in Darmstadt bleiben und Ausflüge unternehmen könnten. David war außer sich.

«Mann, ey, jetzt könnte ich so geil zu Hause sitzen, aber nee, wir müssen ja unbedingt noch so einen Scheiß machen», sagte er.

«Ja», erwiderte ich, «und was das vor allem wieder für ein Bockmist ist. Felsenmeer Bensheim, das klingt ja schon wieder wie sowas, wo nur der Chor hinfahren würde.»

Von Darmstadt nach Bensheim musste man ein kleines Stück fahren. Die Reisedauer reichte jedoch nicht aus, um David und mich auf dumme Ideen zu bringen. So war es Imanuel, der diese Fahrt zu einem Erlebnis machen sollte.

«Immer wieder kommt ein neuer Frühling, immer wieder kommt ein neuer März, immer wieder bringt er neue Blumen, immer wieder Licht in unser Herz –», sang er. Der strahlendblaue Himmel und die Bäume vor den Fenstern mochten ihn an diesem Oktobertag hierzu inspiriert haben.

Ich war hellauf begeistert.

«Haha, geil, Rolf Zuckowski», sagte ich und stimmte mit ein.

Das sorgte bei David für Unmut.

«Oh, bitte Leute, alles, nur nicht Rolf Zuckowski. Ich habe nie auch nur eine einzige Kassette von dem gehabt, weil ich den schon als Kind so gehasst hab’», sagte er.

«Ehrlich? Ich habe den geliebt. Wir hatten bestimmt alle Kassetten von dem!»

Das aus Imanuels Mund zu hören, war schon etwas Erstaunliches. Erst neulich hatte er schließlich so ganz und gar uneitel erzählt, dass er nach seiner ersten Probe im Vorchor gleich wieder hatte austreten wollen. Das Repertoire sei ihm schon damals nicht anspruchsvoll genug gewesen.

«Naja, alle Kassetten hatten wir bestimmt nicht, aber schon ganz schön viele. Welches Lied ich ja am geilsten fand, war Drachen im Wind», sagte ich und sang: «Ich will dich steigen seh’n, du sollst hoch am Himmel steh’n. Flieg, flieg, flieg Drachen im Wind.»

«Naja, das fand ich jetzt nicht so toll», erwiderte Imanuel, «mein absolut Lieblingslied war Ich bau’ mir eine Höhle

«Boah, nee, das war eines der wenigen Lieder, die ich so richtig gehasst habe. Dieses Mädchen, dass das gesungen hat, hatte so eine nervige Stimme und dann dieser Text: ‹Ganz ohne Tisch und Stühle, wir sitzen einfach auf de-em Po› Ja, auf welchem Körperteil sitzt du denn sonst?»

«Ja, der Text ist bescheuert, ich liebe das trotzdem noch heute: ‹Ich bau’ mir eine Höhle und dann versteck ich mich da-arin.»

«Ey, nee, lass mal lieber singen: ‹Januar, Februar, März, April, die Jahresuhr steht niemals still –›»

Die Jahresuhr war ein Lied, das selbst Leute kannten, die mit Rolf Zuckowski sonst absolut nichts am Hut hatten. Dazu beigetragen haben mochte seine Angewohnheit, die zweite Silbe des Wortes August mit perkussivem Eifer zu betonen. Damit beherrschte er immerhin eine von Frau Siebenkittels alten Chorregeln, nämlich: ‹Beim Singen muss man übertreiben.›

Wie dem auch sei, Imanuel jedenfalls sang begeistert mit: «‹Januar, Februar, März, April, die Jahresuhr steht niemals still –›»

So wurden wir beide uns repertoiretechnisch schließlich doch noch einig. Wir sangen Die Jahresuhr, Kommt, wir woll’n Laterne laufen und natürlich: «‹Es ist ro-ot, Elfriede, Elfriede, Elfriede. Es ist ro-ot, Elfriede, Elfriede. Es ist rot –›»

Ich konnte begeisterter kaum sein. Endlich hatte ich einmal einen beinahe Gleichaltrigen gefunden, der genauso gerne in Kindheitserinnerungen schwelgte wie ich. David hingegen quittierte jedes Lied, das uns einfiel, mit einem lauten Stöhnen. Zwischen David und Imanuel hatte nicht weniger stattgefunden als der unmöglichste anzunehmende Rollentausch. Erstaunlich, wozu eine zehntägige Chorreise samt ausgedehnter Busfahrten so alles führen konnte.

Bald jedoch hatte unser Bus sein Ziel erreicht. Und dort zog Imanuel es wieder vor, sich zu den Erwachsenen zu gesellen. Ich bewältigte das Waldstück vom Busparkplatz zum Felsenmeer somit an der Seite Davids.

«Boah, was für ’ne geile Landschaft hier», sagte er.

Ich blickte mich um und kam zu dem Schluss, dass mein alter Freund recht hatte.

«Ja, das ist echt geil hier», erwiderte ich, «Hier hätten wir gleich am ersten Tag hinfahren können.»

«Ach, wir hätten nicht einmal hierhin fahren müssen. Aus meiner Erfahrung mit den Pfadfindern kann ich dir sagen: Natur ist überall geil. Zieh dir mal rein, wie das Licht dahinten die Baumwipfel durchdringt. Du müsstest dich echt mal am frühen Morgen darunterlegen und dir das angucken, wenn die Sonne aufgeht. Das ist der geilste Anblick überhaupt, ich schwör’ es dir.»

Der Tag wurde wirklich immer besser. Jetzt hatte ich auch noch jemand gefunden, der meine Schwärmerei für Landschaften mehr als nur teilte.

Das Felsenmeer sah völlig anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte gedacht, dass es sich um ein Gewässer handeln würde, aus dem majestätisch, nun ja, irgendwelche Felsen emporragten. Was wir nun vor uns hatten, war jedoch ganz bestimmt kein Gewässer. Es war eine Ansammlung von manns- bis hausgroßen Felsen. Sie war so weitläufig, dass man nicht umhin kam, von einem Meer zu sprechen. Einem Meer aus Felsen. Einem Felsenmeer eben.

Die Knaben standen nicht lange davor, sondern begannen, auf den Felsen herumzuklettern. Morle und einige andere Männer folgen ihnen. Selbst Marc und Herr Kaiser ließen es sich nicht nehmen, an der Kletterpartie teilzunehmen. Ich stand noch einen Augenblick lang unschlüssig da, folgte dann aber David, der sich direkt ins Getümmel stürzte. Nach einer Weile hatte ich Gewissheit: Niemand hier scherte sich um meine Unbehofenheit. Es mochte damit zusammenhängen, dass ich mich mit ihr hier in guter Gesellschaft befand. Wahrscheinlicher aber war, dass es hier niemanden scherte, weil es niemanden scherte. Das hier war der Knabenchor, nicht die Schule.

Als David und ich genug von der Kletterei hatten, begaben wir uns zu einem Felsen, der geeignet schien, sich daraufzulegen. Hier ruhten wir uns aus. Einige Meter entfernt von uns erblickte ich Nathanael. Er hatte seinen Fotoapparat in der Hand. Ich bat ihn, David und mich zu fotografieren. Das hier war ja nun wirklich etwas, um mit Wehmut daran zurückzudenken. Mir grauste es ja schon jetzt bei dem Gedanken, von dieser Landschaft weg und zurück in die Realität zu müssen. Doch, nun ja, in drei Wochen würde ich das alles in virtueller Form erleben können. Dann würde Age of Empires III erscheinen. Die bisher veröffentlichten Bilder und Musikstücke darauf ließen keinen Zweifel zu: Es handelte sich um ein Spiel genau nach meinem Geschmack. Schon bald würde ich als Konquistador die unberührte Natur Südamerikas erkunden. Das würde mir gewiss besser gefallen als F.E.A.R, das eine ziemliche Enttäuschung gewesen war. Der schon im Titel versprochene Grusel war nicht aufgekommen – was sich kurzentschlossen über den Haufen ballern ließ, konnte schließlich unmöglich gefährlich sein. Stattdessen hatte Einfalt in der Vielheit geherrscht: Auf allen Gängen und Fluren hatten Getränkeautomaten herumgestanden. Eine doch erstaunliche Gemeinsamkeit mit Chrome: Specforce, nicht nur angesichts des deutlich höheren Entwicklungsbudgets.

Am nächsten Tag traten wir dann schließlich doch die Reise nach Hause an. Den größten Teil der Fahrt verbrachten wir damit, Lieder aus alten Tagen zu singen. Wir begannen mit Unser Leben ist ein Schatten und endeten mit Vorchor-Klassikern wie Auf einem Baum ein Kuckuck saß. Als wir dann in Hamburg von der Autobahn fuhren, war da ein unerhörtes Gefühl. Ich merkte, dass ich mich schon jetzt auf die Probe nach den Ferien freute.