Zimmer 1408

Perlen von Holstein Folge 120

Vier Tage war es her, dass Imanuel den Vorsatz gefasst hatte, sich das ‹Leute!› abzugewöhnen. Diesen Vorsatz hatte er bislang erstaunlich gut eingehalten. Das Wort war ihm zwar ein ums andere Mal über die Lippen gekommen, jedoch nicht in jener Art und Weise, die Widerstand zu einer Frage der Ehre machte. Dies war offenbar der frischen Alpenluft zu verdanken gewesen. Kaum, dass wir nämlich in Darmstadt eingetroffen waren, verfiel Imanuel wieder in die alten Verhaltensmuster.

«Also, über Davids Art zu essen könnte man eine Doktorarbeit schreiben», sagte er.

Wir saßen im Speisesaal der Jugendherberge Darmstadt und waren eigentlich noch nicht ganz angekommen. Unser Gepäck befand sich im Bus, die Zimmerverteilung sollte erst nachher stattfinden. David wandelte in den Spuren von Opa Max, welcher nach eigenen Angaben stets nur eine Scheibe, gut belegt, gegessen hatte. Er hatte seinen Teller mit Brotscheiben, Brötchenhälften, Butter, Schmierkäse, Aufschnitt, Nutella, Honig, Tomaten, Gurken, einem Ei, Ketchup, Mayonnaise, Senf und allerlei anderen Speisekomponenten vollgestopft. Daraus fabrizierte er nun ein Sandwich, das hoffentlich schmackhafter war als es aussah.

In gewisser Hinsicht musste ich Imanuel also durchaus zustimmen.

«Oh Mann, David, wie kann man nur Scheiblettenkäse mit Ketchup bestreichen?», fragte ich.

«Hallo, das schmeckt derbe geil. Du glaubst gar nicht, was man alles mit Ketchup bestreichen kann und wie krass lecker das dadurch wird.»

«Ich möchte das ehrlich gesagt gar nicht ausprobieren. Ich bin mit Brot mit Wurst eigentlich immer ganz gut gefahren, weißt du.»

«Ach, Lennart, wenn du wüsstest, was dir entgeht.»

«David», schaltete Imanuel sich erneut ein, «mich stört ja nicht so sehr, was du isst, sondern vielmehr, wie du isst. Das ist ja schon fast wie in Amerika damals bei der Gastfamilie. Weißt du, Lennart: Die haben uns da am Anfang so eine große Tüte mit Nachos gegeben und David grabscht da echt so mit der ganzen Hand rein und saut dann alles mit dem Dip ein, in den er natürlich auch schon mit seinen langen, dreckigen Fingernägeln reingefasst hat. Vor allem: Das war ja eigentlich noch gar nicht das Essen, das war nur die Vorspeise. Und das war so gedacht, dass wir nur ein paar davon essen. Und er frisst echt die halbe Tüte leer!»

«Jetzt sei mal nicht so unentspannt, Imanuel», sagte David. Er beugte sich so tief zu seinem Teller herunter, dass seine Haare in Schmierkäse und Ketchup getaucht wurden. Davon unbeeindruckt, schlang er sein zusammenfabriziertes Sandwich herunter. Die verschiedenen Beläge spritzen in alle Richtungen.

Ich bekam einen schallenden Lachanfall.

«Leute!», sagte Imanuel. Damit erreichte er, dass David ebenfalls einen Lachanfall bekam. Einen, bei dem sein halb zerkautes Sandwich den Weg zurück auf den Teller fand.

«Leute!», sagte Imanuel wieder, «Ihr könnt euch beim Essen daneben benehmen wie ihr wollt, aber um Himmels Willen nicht hier, wo andere Leute um uns sitzen.»

«Hahaha, das ist doch erst richtig lustig, wenn andere Leute um einen rum sitzen», erwiderte David.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Es schickt sich für einen großen Menschen nicht, Wert auf seine Wirkung auf andere zu legen. Beethoven soll sogar einmal festgenommen worden sein, weil man ihn für einen Landstreicher hielt. Ausschlaggebend hierfür war zweierlei gewesen: Sein verwildertes Aussehen und seine Angewohnheit, sich an die Fenster fremder Häuser zu stellen und die Bewohner zu beobachten. Davids moralisches Vorbild ist aber wohl trotzdem nicht Beethoven, sondern eher Bach. Jener wurde nicht einfach nur festgenommen, er saß mehrere Wochen im Gefängnis. Grund war seine «halsstarrige Bezeugung» gegenüber Herzog Wilhelm Ernst.

Imanuel zögerte trotz allem nicht, mit David, Morle und mir in ein Zimmer zu gehen. Als wir uns dorthin begaben, fiel mir erst auf, dass diese Jugendherberge so völlig anders war als alle bisherigen. Sie war modern und picobello sauber. Alle Wände erstrahlten in frisch gestrichenem Weiß. Die so gar nicht lädierten Zimmertüren wiederum in betont modernem Beige. Zum Öffnen benutzte man keine Schlüssel, sondern Magnetkarten. Etwas, das ich so bisher nur in Amerika erlebt hatte.

Unser Zimmer wartete nicht nur mit nagelneuen Möbeln auf. Es bot auch zwei Toilettenräume, von denen einer zugleich als Bad fungierte.

Morle pfiff bewundernd, als er diese Einrichtung sah. David war weniger begeistert.

«Mann, ist das steril hier. Das ist ja irgendwie mal voll unheimlich», sagte er.

«Was ist denn daran unheimlich?», erwiderte Imanuel etwas verwundert.

«Die ganze Atmosphäre. Diese ganze Farbgebung. Und wie alles aussieht, als ob das noch nie einer benutzt hätte.»

«Ich weiß gar nicht, was du hast. Ist doch schön, dass es mal sauber ist.»

Während die zwei so redeten, verschwand Morle in dem Toilettenraum, der gleichzeitig als Bad fungierte. Ich dagegen setzte mich auf das mir zugewiesene Bett und besah die beigen Türen. Drei Stück gab es hier davon insgesamt. Eine, die nach draußen führte, zwei, mit denen man in jeweils einen der Toilettenräume gelangte. So dicht, wie sie beinander waren, konnte man meinen, dass sie Bestandteil eines tückischen Rätsels waren. Eines Rätsels, vor das alle Bewohner dieses Raumes des Nachts gestellt wurden. Nur eine der Türen würde den Weg in die Freiheit bergen, hinter den anderen beiden dagegen würden ewige Qualen auf einen warten.

So langsam fand ich auch, dass diese Jugendherberge unheimlich war.

«Ey, das mit diesen drei Türen ist ja schon ein wenig suspekt», sagte ich.

«Oh, was ist denn daran suspekt, Lennart?», entgegnete Imanuel. Er klang nun mehr gereizt als verwundert.

«Ja, das mit diesen drei Türen ist ja wohl mal richtig unheimlich», sagte David, «Heute Nacht sind dahinter bestimmt solche Dimensionsportale und wenn man die dann durchschreitet, gelangt man zur wahren Erkenntnis, haha.»

In dem Moment kam Morle aus dem Toilettenraum heraus.

«Ey, in dem Bad riecht das voll nach Wichse», sagte er.

«Riecht deine Wichse?», entgegnete David, «Meine nicht.»

«Tja, Morle, hast du dich da drinnen wohl selbst betätigt, was?», sagte Imanuel.

Ich war ja nun wirklich für eine Menge zu haben, aber das war doch kein Thema, das ich vertieft sehen wollte.

«Was sind das denn jetzt für Gesprächsthemen», sagte ich.

«Was ist denn daran schlimm?», erwiderte Imanuel, «Alle wichsen, also kann man sich da ruhig auch drüber unterhalten. Leute, die was dagegen haben, machen das doch selbst am meisten. So wie dieser Typ beim Campingurlaub, der sich so derbe darüber aufgeregt hat, dass meine Schwester mit ihren acht Jahren da in Schwimmklamotten rumlief. So ein ekelhafter Pädophiler!»

Ich kam zu den Schluss, dass es besser war, zu schweigen. Nicht, dass noch irgendein unaussprechlicher Verdacht auf mich fiel.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Womit wir bei einem Komponisten angekommen wären, der aus ganz anderen Gründen mit dem Gesetz in Konflikt geraten war. Fünfzehn Jahre lang hatte Johann Rosenmüller in Leipzig gelebt und gewirkt. In dieser Zeit war ihm bereits das Thomaskantorat und damit die Leitung des Thomanerchors in Aussicht gestellt worden. Bedauerlicherweise war Rosenmüller der erste Leiter des Thomanerchores gewesen, der schon bevor er Leiter des Thomanerchors wurde, einfach nicht die Finger von den Chorknaben hatte lassen können. Sage und schreibe zwanzig Sänger soll er bereits zu sich in die Kammer geholt haben, als man ihm auf die Schliche kam. Rosenmüller wurde inhaftiert, büxte jedoch rasch aus und floh nach Venedig, wo man das alles Jahrtausende alten Traditionen gemäß nicht ganz so eng sah. Johann Rosenmüller konnte als Giovanni Rosenmiller ein neues Leben beginnen.

Ich ging in einen der Toilettenräume. Als ich wieder herauskam, war Morle verschwunden. Das kam mir ganz gelegen. So konnte ich David von meiner Entdeckung berichten.

«Ey, hast du schon diesen komischen Wirbel über dem Klo gesehen?», fragte ich.

«Nee, zeig mal.»

Ich zog die Tür des Toilettenraumes auf und deutete auf den Bereich über dem Spülknopf. Dort befanden sich vier blaue und vier weiße dreieckige Fliesen. Ihre Anordnung sollte ohne Zweifel einen Wirbel darstellen.

«Alter, das ist ja echt mal mordsunheimlich», sagte David.

«Leute, das ist nur ein Muster», sagte Imanuel, «Habt ihr mal in das Bad geguckt? Da ist auch sowas!»

Ich zog die Tür zu dem anderen Toilettenraum auf. Tatsächlich, neben dem Spiegel befand sich ein weiterer Fliesenwirbel.

«Ey, wenn man da drauf fasst, wird man in eine andere Dimension gezogen. Mann, ist das unheimlich!», sagte David, «Aber am krassesten finde ich ja immer noch diese Hunde.»

«Was für Hunde?», fragte ich.

«Na, diese Hunde auf den Bildern, die draußen auf dem Flur hängen. Die sind echt so krass unheimlich. Komm, ich zeig dir die mal.»

David führte mich auf den Flur und zeigte mir die Bilder. Als ich sie in Augenschein nahm, fragte ich mich, wie ich sie hatte übersehen können. Zwei Stück waren es. Sie hingen an den Gangenden. Auf ihnen zu sehen war ein gezeichneter Hund mit merkwürdig proportioniertem Körper und kreisrunden Kulleraugen, die den Betrachter lüstern anstarrten. An sich waren die Bilder identisch, nur die Fellfarbe des Hundes unterschied sich jeweils. Auf dem einen Bild war sie grün, auf dem anderen blau.

«Scheiße, sind die unheimlich», sagte ich.

«Leute, das sind Bilder von Hunden», sagte Imanuel, «Jetzt erklärt mir bitte: Was findet ihr daran unheimlich?»

Ich trat näher an eines der Bilder heran. Dabei fiel mir etwas auf.

«Ey, David, der Boden hier vor unserem Zimmer ist nicht richtig gerade. Wenn du mal genau drauf achtest, merkst du, dass man ganz leicht bergab geht.»

David probierte es aus.

«Stimmt», sagte er, «Ey, wenn man versucht, auf das Bild dahinten zuzulaufen, wird der Gang bestimmt plötzlich unendlich lang. Alter, dieses ganze Haus ist einfach nur mordsunheimlich.»

Imanuel gab nicht auf.

«Leute, dieses Haus ist nur eine Jugendherberge. Ich verstehe nicht, wie ihr eine Jugendherberge unheimlich finden könnt!»

Wir gingen zurück ins Zimmer. David stellte sich in die Raummitte und sagte, während er nacheinander auf die vier Kleiderschränke zeigte: «Opfer-Sarkophag Nummer Eins, Opfer-Sarkophag Nummer Zwei, Opfer-Sarkophag Nummer Drei, Opfer-Sarkophag Nummer Vier»

Darüber konnte sogar Imanuel lachen. Er zog es dennoch vor, zu Marc, Herrn Kaiser und den anderen Erwachsenen zu gehen. Diese saßen im Speisesaal und spielten Meiern. David war überzeugt, dass das nichts für ihn sein würde, schloss sich Imanuel aber trotzdem an.

So war ich nun ganz alleine in dem mordsunheimlichen Zimmer.

Ich blickte auf die drei Türen. Sie standen allesamt geschlossen. Draußen war es stockfinster. Alles, was ich sah und was ich hörte, fand in diesem Raum statt. Das war nicht sonderlich viel. Zu dieser Jahreszeit gab es hier nicht einmal Insekten. Die einzigen Sinnesreize waren das schwache Licht der Energiesparlampe und das Knacken der Heizungsrohre.

Was ich wohl machen würde, wenn David nie mehr zurück kam? Wenn ich auf eine der drei Türen zugehen und feststellen würde, dass sie sich nicht öffnen ließ? Natürlich war es töricht, sich das zu fragen. Interessanter als die Frage, was ich machen würde, war schließlich die: Was würde die Höhere Macht mit mir machen? Würde aus dem Nichts eine Stimme erklingen und mir Anweisungen geben? Würde anschließend eine gespenstische Musik erklingen, der dritte Satz aus B♭-A-C-B von Steffen Schorn, gesungen vom Windsbacher Knabenchor? Würde ich zu diesen Klängen ganz allmählich die wahre Natur des Ortes erkennen, an den ich hier geraten war? Würde es für mich einen Ausweg aus ihm geben oder war mein Todesurteil bereits unterschrieben? Würde ich überhaupt normal weiterleben können mit dem Wissen, dass die Welt, in der wir lebten, nur eine Illusion war? Eine Illusion geschaffen von der Höheren Macht?

Ich wurde davon aus meinen Gedanken gerissen, dass David wieder hereinkam.

«Ey, Mann, ehrlich, genauso, wie ich mir das vorgestellt hatte: Imanuel sitzt da zwischen Marc und Herrn Kaiser und macht einen auf erwachsen. Boah, nee, lass’ über was Anderes reden.»

So redeten wir einmal mehr darüber, wie mordsunheimlich die Jugendherberge Darmstadt doch war.

«Weißt du», sagte David, «ich finde solche Sachen wie diese Jugendherberge ja viel unheimlicher als Horrorfilme. Über die habe ich mich schon als Kind totgelacht. Viel besser finde ich ja Thriller, also Filme, bei denen du nicht weißt, was eigentlich los ist. Das ist tausendmal gruseliger, weil du dir so alles in deiner Fantasie ausmalen musst und die weiß viel besser, wovor du Angst hast, als irgendwelche Filmemacher.»

Wir kamen auf die Schränke zu sprechen, die David so schön als Opfer-Sarkophage bezeichnet hatte.

«Haha, jeder Bewohner dieses Zimmer hat seinen eigenen Opfer-Sarkophag», sagte ich, «Und in welchem man landet, hängt davon ab, in welchem Bett man schläft.»

Da bekamen Davids Augen plötzlich etwas Kaltes. Seine Bewegungen wurden langsam und roboterhaft.

«Ist was, David?», sagte ich.

«Derjenige, den du David nennst, ist in Wahrheit Vernichtungseinheit X-39568 und hier, um dich auszulöschen.»

«Ja, nee, ist klar!»

«Opfer Nummer Drei wiegt sich in Sicherheit. Das ist gut. So wird es noch leichter sein, es seinem Sarkophag zuzuführen.»

Er hatte die Augen weit aufgerissen und den Mund zu einem unverhohlen geisteskrankem Lächeln geformt. Wie er mich so anstarrte, war er mir beinahe unheimlich.

«Ach, David, du bist so geil», sagte ich. Um unbeeindruckt zu wirken, begann ich, meine Killerspielzeitschrift zu lesen.

«Opfer Nummer Drei hat sich hingelegt und blättert in einer Zeitschrift. Es scheint ernsthaft zu glauben, dass es das retten wird!»

Nun bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun.

«Ich bin nur hergekommen, um im Sarkophag zu landen? Nur dafür habe ich also die ganze Zeit gelebt?», fragte ich.

«Opfer Nummer Drei scheint zu begreifen», erwiderte David. Er fletschte die Zähne. Seine Augen funkelten bedrohlich.

«David!»

David lachte laut auf.

Als wir am nächsten Morgen vom Frühstück zurückkehrten, ließ sich die Tür zu unserem Zimmer nicht öffnen. Wir probierten alle vier Magnetkarten aus, doch das Lesegerät reagierte nicht. Imanuel ging zur Rezeption und sagte Bescheid.

«Ey, wenn jetzt gleich jemand kommt und die Tür aufmacht, sind bestimmt alle unsere Sachen verschwunden und das Zimmer sieht aus, als ob nie jemand drin gewesen wäre», sagte David.

Imanuel kehrte zurück. Ihm folgte ein junger Mann mit ungepflegten langen Haaren, Bart und Schlabberklamotten. Offensichtlich handelte es sich um den Zivildienstleistenden des Hauses.

Sichtlich unmotiviert machte er sich ans Werk: Er schraubte das Lesegerät von der Tür ab und schloss sie mit einem Schlüssel auf.

«Da», sagte er. Er drückte Imanuel den Schlüssel in die Hand und trottete davon.

Das Zimmer sah noch genauso aus, wie wir es vorhin verlassen hatten. Die Betten waren ungemacht, auf dem Boden lagen Davids und meine Sachen herum.

Es war eben doch ein ganz normales Zimmer in einer ganz normalen Jugendherberge.