Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist

Perlen von Holstein Folge 111

September 2005

Herr Kaiser wollte nur Knaben, die mindestens eine halbe Stunde stillsitzen konnten. Und Knaben, die mindestens eine halbe Stunde stillsitzen konnten, bekam er auch. Unsere Knaben waren in der Tat ganz ausgezeichnete Stillsitzer und ließen sich auch sonst alles gefallen. Egal, welches Stück unser Chorleiter ihnen auftischte, sie sangen es, ohne zu murren. Ob sie es nun mochten oder nicht. Wir Männer machten es ihm da schon schwerer. Wenn es uns ein Werk nicht zusagte, ließen wir ihn das wissen. Und weil wir nun einmal durch die Siebenkittel-Schule gegangen waren, konnte das nicht nur musikalische Ursachen haben, sondern auch inhaltliche.

Das hätte Herr Kaiser bedenken sollen, als uns einmal einen Männerchorsatz vorsetzte, dessen Komponist mit seiner Liebe zum Jesuskind eindeutig zu weit ging. In blumigen Worten wurde beschrieben, wie es dalag in der Krippe, so zart, nackt und hilflos. Nicht nur David gelangte nach dem ersten Lesen zu dem Schluss: «Das ist ja voll pädophil, Mann.»

Max-Frederick und ich lachten.

«Und zieh dir mal diese Frakturschrift rein», sagte ich, «Das sind voll solche Nazi-Noten, Alter.»

David stieß eine Lachsalve aus, die jedes Proben unmöglich machte.

«Nein», sagte Morle, «das sind keine Nazi-Noten. Frakturschriften waren im Dritten Reich verboten, die galten als Schwabacher Judenlettern und durften ab 1941 nicht mehr verwendet werden.»

Nun denn, dann waren das also keine Nazi-Noten, sondern Schwabacher Judenlettern. Trotzdem sah das große K aus wie ein großes R. Für David ein Quell grenzenloser Erheiterung.

«Schlaf süßes Rind», sang er und fügte hinzu: «Haha, das ist unterbewusste Beeinflussung mit diesen Buchstaben, hahaha.»

Ich kippte vor Lachen beinahe vom Stuhl.

«David!», brüllte Herr Kaiser. Er sah aus, als ob er drauf und dran wäre, die Probe abzubrechen. Aber unser Chorleiter blieb wacker. Eine volle halbe Stunde lang ertrug er Davids hämische Kommentare. Danach jedoch sahen wir das Stück nie wieder.

David war damit das Unmögliche gelungen: Er hatte Einfluss auf das Repertoire genommen. Normalerweise war das ein Punkt, in dem unser Chorleiter absolut nicht mit sich verhandeln ließ. Zwergo hatte einst den Versuch unternommen, ein Mitbestimmungsrecht einzuführen. Herr Kaiser trug ihm das bis heute nach.

Und auch ich hatte es nicht geschafft, ihn davon zu überzeugen, dass man die dritte Strophe von Aus meines Herzens Grunde, eigentlich doch gut weglassen konnte. Dabei schätzte Herr Kaiser meine Meinung sehr. Immer wieder bekam ich es in der Einzelstimmbildung von ihm zu hören: «Lennart, bei deinen scharfsinnigen, leicht bissigen Bemerkungen, da lohnt es sich immer zuzuhören.» Ich hatte mir fest vorgenommen, mir einfach mal zu merken, was ich selbst sagte. Vielleicht würde ich dann eines Tages dahinterkommen, was er damit eigentlich meinte. Merkwürdigerweise aber sagte er es immer bei Äußerungen, die ich selbst nicht für besonders hielt und sofort wieder vergaß.

Zur dritten Strophe von Aus meines Herzens Grunde hatte ich angemerkt, dass sie eine Rechtfertigung der Ständegesellschaft darstellte. Wortwörtlich hieß es da nämlich: ‹Darauf so sprech’ ich Amen und zweifle nicht daran, Gott wird es all zusammen in Gnaden sehen an. Und streck’ nun aus mein Hand, greif’ an das Werk mit Freuden. Dazu mich Gott beschieden in mein’ Beruf und Stand.›

Herr Kaiser hatte meinen Einwand durchaus verstehen können.

«Ja, das hast du sehr richtig erkannt, Lennart, das ist eine Rechtfertigung der Ständegesellschaft. Aber warum sollte das ein Grund sein, die Strophe nicht zu singen? Die gehört doch dazu.»

Ja, warum sollte das ein Grund sein? Das Stück war großartig, so wundervoll beschwingt. Das hatte im Repertoire des Ulrich Kaisers Seltenheitswert. Warum sollte man es also um ein Drittel kürzen, nur weil es etwas rechtfertigte, was es doch eigentlich nicht mehr gab?

Ich hatte beschlossen, es wie unser Chorleiter zu machen: Ich stellte meine Freude an der Musik über meine politischen Ansichten.

Einige Wochen später versuchte er Kaiser abermals, uns einen Männerchorsatz näherzubringen: Am Traunsee von Carl Isenmann. Die Noten ließen einmal mehr Böses ahnen. Nicht nur, dass die Worte in Schwabacher Judenlettern dastanden. Sie waren nicht nur winzig, sondern auch derart grobkörnig gedruckt, dass sie kaum zu entziffern waren.

«Ulrich, wo hast du denn diese Noten aufgetrieben?», fragte Zwergo.

«Das habe ich aus einem Liederbuch des Dresdner Kreuzchors. Ich habe geguckt, ob man von dem Stück auch bessere Noten bekommen kann, aber die gibt es nicht. Ich habe noch nicht mal Lebensdaten zu dem Komponisten gefunden.»

So machten wir uns zunächst einmal an das gemeinsame Lesen des Textes. Ich verstand bald, wie sich jener Mitschüler gefühlt haben musste, der noch in der vierten Klasse jedes Wort Buchstabe für Buchstabe entziffert hatte. Und dann wurde auch noch recht schnell eines klar: Bevor ich den Text des Stücks gekannt hatte, war ich genauso glücklich gewesen.

‹Schweigsam treibt mein morscher Einbaum, klar und ruhig wogt der See, pupurwarme Abendschatten färben der Gebirge Schnee. Eines Eilands Klosterhallen dämmern aus der Flut empor›, begann die erste Strophe.

David, Max-Frederick und ich brachen darüber in schallendes Gelächter aus. Dabei hatten wir noch längst nicht alles gesehen.

‹Summend, singend, rein verklingend, süß ersterbend kommt der Ton. Luft und Welle führen schwingend seinen letzten Hauch davon. Und die Rechte senkt das Ruder, im Gebet erschweigt das Herz.»

Bei einem solchen bisher ungekannten Maß an Geschwollenheit konnte einem das Lachen schon im Halse stecken bleiben. Blieb es aber nicht.

«Hahaha, was ist das denn für ein Scheiß?», sagte Max-Frederick.

Herr Kaiser gab sich demonstrativ unbeeindruckt. Und er hatte Glück: Der Text enthielt keinerlei Passage, die lustig wurde, wenn man das K als R las. Und wenn Carl Isenmann offensichtlich auch sonst so manches gewesen war, pädophil gewesen war er nicht. Nach einer Viertelstunde hatten David, Max-Frederick und ich uns wieder eingekriegt. Unser Chorleiter konnte in Ruhe mit uns proben.

Was nicht heißen sollte, dass das Stück in unserem Ansehen gestiegen wäre. Herr Kaiser bot uns mit ihm schließlich nicht weniger als eine auf drei Minuten zusammenkomprimierte Folge Musikantenstadl. Zumindest vom emotionalen Anspruch her. Man fragte sich, ob der Mann im Geiste nicht selbst längst ein Achtzigjähriger war.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Der Komponist Carl Isenmann ist heutzutage ein ganz und gar Unbekannter. Sollte die Klassik-Industrie ihn jemals für sich entdecken, wird sie sich etwas einfallen lassen müssen, um potentiellen Käufern seine Musik schmackhaft zu machen. Denkbar ist, dass sie sich dabei des gängigen Tricks bei der Vermarktung von unbekannten Meistern bedient: Dem Verweis auf einen deutlich berühmteren Komponisten. Der Zusammenhang darf dabei gerne ein wenig an den Haaren herbeigezogen sein. Bei CDs mit Musik von Johann Hermann Schein etwa wird meist Heinrich Schütz ins Spiel gebracht. Irgendjemandem ist nämlich einmal aufgefallen, dass die Nachnamen Johann Hermann Scheins, Samuel Scheidts und Heinrich Schütz’ doch tatsächlich alle drei mit Sch anfingen. Also nannte er sie «die drei großen Sch». Das ließe sich theoretisch bei allen drei Meistern anführen, geschieht aber erstaunlicherweise immer nur bei Scheidt und Schein, nie bei Schütz. Ebenso wird wohl in keinem Beiheft einer Bach-CD jemals erwähnt werden, dass Bach das gleiche Amt innehatte wie hundert Jahre vor ihm Johann Hermann Schein. Hingegen ist die Erwähnung Bachs in Begleittexten zur Musik von Schein durchaus üblich. Im Falle von Carl Isenmann bietet sich übrigens ein Verweis auf dessen Zeitgenossen Robert Schumann an: Beide Meister starben im Irrenhaus.

Einige Wochen vergingen. Wochen, in denen Am Traunsee zum Glück eine eher untergeordnete Rolle spielte. Schließlich aber war es wieder mal so weit.

«Schweigsam treibt mein morscher Einbaum, klar – und ruhig wogt der See, pupurwarme Abendschatten färben der Gebi-irge Schnee. Eines Eilands Klosterhallen dämmern aus der Flut empo-or.»

Und da sah ich es plötzlich vor mir, als wäre es eine Szene aus einem Killerspiel. Das Boot, wie es unter Gestrüpp hindurch durch das dunkle Wasser trieb. Den steilen Bergpfad, den ich im Schutze der Dunkelheit emporklettern würde, bis ich das Gemäuer an der Spitze erreicht hätte. Endlos fern schien es. Noch war keine Menschenseele zu sehen, noch war alles ruhig. Doch schon bald würde sich das ändern. Schon bald würde ich den ersten meucheln und dann in ein gewaltiges Feuergefecht verwickelt werden. Bis es aber soweit war, würde ich die Abgeschiedenheit und die Landschaft genießen können.

Fortan forderte ich es bei jeder Männerprobe: «Am Traunsee, Herr Kaiser.» Beim ersten Mal hatte unser Chorleiter mich etwas verwundert angesehen, war meinem Wunsch dann aber gerne nachgekommen. Es war schließlich zu begrüßen, dass ich mich auf das gebotene Repertoire einließ, statt daran herumdoktern zu wollen.