Gesinnungswandel

Perlen von Holstein Folge 108

Juni 2005

Heute war unser großes Sommerkonzert in St. Johannis-Harvestehude. Herr Kaiser war bereits in der Generalprobe bester Laune.

«Was ist das für ein Rauch da hinter euch?», fragte er.

«Ich glaub’, das ist von den Kerzen, die da an der Wand hängen.»

«Achso, ich dachte schon der Papst –»

Marc lachte wieder einmal schallend.

«Hahaha, ‹der Papst›.»

Wir anderen blieben stumm. Dabei hatte wohl selbst der kleinste Knabe diesen Witz verstanden. Zwei Monate war es her, dass weißer Rauch aus der Sixtinischen Kapelle aufgestiegen und Joseph Ratzinger zum Papst ernannt worden war. Damit war für das deutsche Volk eine lange Durststrecke zu Ende gegangen. Über vierhundert Jahre war es her gewesen, dass einer ihrer Landsleute in dieses Amt gekommen war. Blieb zu hoffen, dass der nächste WM-Titel schneller kommen würde.

Meine Laune war kaum schlechter als die unseres Chorleiters. In zwei Wochen waren Sommerferien und wie üblich war schon jetzt in der Schule überhaupt nichts mehr los. Wir lungerten den ganzen Vormittag in der Klasse herum und werkelten an sogenannten Projekten. Und die Lehrer, denen auch das noch zu viel Arbeit war, versuchten gar nicht erst, den Anschein von Unterricht aufrechtzuerhalten. Sie brachten lieber irgendwelche Videokassetten mit. Ich hätte so gesehen auch gleich zu Hause bleiben und tun können, was ich mir für die Sommerferien vorgenommen hatte: Die Killerspiele GTA: San Andreas und Fallout Tactics.

Gute Laune zu haben war prinzipiell etwas Feines. Heute aber bewirkte sie, dass ich mir einer Sache so richtig bewusst wurde: Unsere Stücke ließen mich das ganze Konzert über so sonderbar kalt. Das ging so weit, dass ich die ganze Zeit nur überlegte, wie viele Werke es noch bis zum Schluss waren. Als besonders arg entpuppte sich in diesem Zusammenhang die Missa St. Crucis von Rheinberger. Sie bestand aus einer schier unüberschaubaren Zahl von Einzelsätzen. An sich mochte ich jeden Einzelnen von ihnen. Man konnte sich dabei so schön wie ein junger Intellektueller fühlen, der sich immer wieder für einen kurzen Augenblick erlaubte, kontrolliert ergriffen zu sein. Kontrolliert ergriffen in einer Weise, wie sie für junge Intellektuelle eben typisch war. Jetzt aber nervte es mich, dass sich die Missa St. Crucis immer so hinzog. Andererseits war das auch vom Vorteil: War sie einmal vorbei, war das Konzert schon zu mehr als der Hälfte überstanden.

Das waren Gedanken, die mich selbst schon ein wenig erstaunten. Über Jahre waren die Konzerte das einzige gewesen, was ich am Chorknabendasein noch genossen oder zumindest nicht als vollkommen unerquicklich empfunden hatte. Von daher musste ich sie doch eigentlich jetzt lieben, sang ich unsere Stücke inzwischen doch ausgesprochen gerne. Nicht nur im Probenraum, auch an anderen Orten ließ ich sie erklingen, wenn sich dies aus der Situation ergab. Meist war dies beim Spielen meiner Killerspiele der Fall. Kommt her zu mir alle von Emanuel Vogt eignete sich für sie ausgezeichnet. Was gab es schließlich Schöneres, als mit dem Sturmgewehr in der Hand einen Korridor zu betreten und in Erwartung der heranstürmenden Feinde diese Worte zu singen: «Kommt her zu mir alle, a-alle, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken!» Erst neulich hatte ich es wieder getan, bei Chrome: Specforce. Ich hatte daran irgendwie mehr Gefallen gefunden als an den zahlreichen Getränkeautomaten. In wirklich jedem Gang und auf wirklich jedem Flur hatten sie herumgestanden. Ein schon irgendwie belustigendes Sinnbild für die Ideenlosigkeit der Entwickler.

Wenn ich unsere Stücke nicht sang, hörte ich sie. Natürlich nicht immer, aber doch gerne und häufig. Große Auswahl hatte ich nicht: Von den Stücken, die wir bei NDR Sonntakte gesungen hatten, waren nur Cantate Domino und, natürlich, Ein Vogel saß auf einem Baum gesendet worden. Ersteres langte mir aber völlig. Es war doch bemerkenswert, wie viel Spaß Klassikhören bereiten konnte. Man musste die Stücke offenbar nur schon mal selbst gesungen haben.

Dafür, dass unsere Musik mich nun ausgerechnet bei den Konzerten kalt ließ, konnte es nur eine Erklärung geben: Wir sangen stur – ein Stück nach dem anderen – unser Programm herunter. Man wusste anders als in der Probe vorher, welches Stück wann dran kommen würde. Man musste sich nicht eine halbe Stunde gedulden, bis endlich die Lieblingsstelle geprobt wurde. Man konnte sicher sein, dass jedes Werk genau einmal gesungen werden würde.

Mir fehlte bei der ganzen Angelegenheit irgendwie der Selbstzweck. Der Selbstzweck, den es hatte, wenn ich beim Spielen meiner Killerspiele ein Lied anstimmte. Der Selbstzweck, aus dem ich Cantate Domino auch noch ein zehntes Mal hörte. Beim Konzert sangen wir, weil wir singen mussten, weil die Leute Eintritt dafür bezahlt hatten. Jedem Stück wurde exakt so viel Zeit gewidmet, wie man benötigte, es durchzusingen. Keinem wurde irgendwie besondere Aufmerksamkeit zuteil. Wir beschäftigten uns nicht mit den Klängen, wir gaben sie nur wieder. Wie sollte da Freude aufkommen?