Erwachsene unter sich

Perlen von Holstein Folge 107

Herr Kaiser präsentierte sich uns heute in Höchstform.

«David, also was du hier heute für einen Scheiß zusammensingst: die ganze Probe ist im Eimer!»

Davids Blick war zu entnehmen, dass er diese Schelte nicht über Gebühr ernst nahm. Er nahm Schelten generell nicht über Gebühr ernst. Schimpfte Marc etwa: «Könnt ihr jetzt mal bitte aufhören, so mit den Noten zu rascheln?», raschelte David erst recht mit den Noten. Kein Zweifel, bei ihm biss Herr Kaiser auf Granit.

Die Knaben waren da schon einfachere Opfer.

«Florian, Waldorfschule ist jetzt vorbei. Wenn ich etwas sage, dann ist das ein Befehl.»

Die Reaktion auf solche Äußerungen war betretenes Schweigen. Nur Max-Frederick ließ voller Genugtuung seine hämische Hyänenlache erschallen.

«Die Knaben sind aber echt mal wieder nur am Verkacken», sagte er.

Der nächste Einsatz des Soprans ließ ihn gar noch lauter lachen.

«Scheiße, Alter. Wie kann man nur so verkacken? Hahaha.» Dann tippte er einem vor ihm sitzenden Knaben auf die Schulter. Arglos drehte sich der Junge um.

«Boah, guck nach vorne!», sagte Max-Frederick.

Herr Kaiser war zu wütend, um dies mitzubekommen.

«Henric, wenn du beim nächsten Einsatz wieder nicht zu mir guckst, schicke ich dich für vier Wochen zurück in Vorchor Drei. Julian, wenn du weiter mit dem Nachbarn quatscht, schicke ich dich für vier Wochen zurück in Vorchor Drei.»

Das wirkte. Der nächste Einsatz klappte. Für Max-Frederick kein Grund, die russische Geheimdienstpistole im Halfter zu lassen.

«Tick, tick, tick, tick, tick –»

Ich machte mit, selbst am meisten erstaunt darüber, dass ich überhaupt hören konnte, wie die Knaben verkackten. Sie setzten nämlich nicht etwa zu spät oder sprachen irgendwelche Konsonanten zu spät ab, der Knackpunkt war die Intonation. Die Knaben wurden beständig zu hoch oder zu tief. Welches von beiden, konnte ich nicht sagen, so gut konnte ich nicht hören. Aber ich bekam mit, dass mit der Intonation etwas nicht stimmte. Das war beachtlich. Schließlich war es gar nicht so lange her, dass ich überhaupt nicht verstanden hatte, was Frau Siebenkittel hatte, wenn sie sagte: «Der Alt sackt!»

Dies hätte nun ein Grund sein müssen, Verständnis für die Knaben vor mir zu haben. Leider konnte ich mich hierzu absolut nicht überwinden.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Wem Max-Fredericks Strafvorschläge für verkackende Knaben allzu drakonisch erscheinen, dem sei eine Beschäftigung mit der Biografie Carl Marias von Weber anempfohlen. Der polterte einst bei einer Probe: «Die Notisten, diese Sakramenter, sollte man mit den Ohren an den Tisch nageln!» Grund waren die mit Fehlern übersäten Abschriften der von ihm höchstpersönlich angefertigten Partitur des Don Giovanni. Auch mit seinen Sängern ging Weber hart ins Gericht: «Nehmen Sie sich tüchtig zusammen, Sie singen ja heut wie die Schweine!» Jedoch entschuldigte er sich für diese Äußerung, nachdem seine Sänger eingestanden hatten, dass er ihre Leistung zu Recht getadelt hatte.

In der Männerprobe wurden andere Töne angeschlagen. Es war nun nicht mehr Herrn Kaisers, sondern Zwergos Stimme, die den Satz sagte: «Imanuel, du kommst gleich für vier Wochen zurück in Vorchor Drei.»

Damit erzielte er bei unserem Chorleiter einen eher mäßigen Lacherfolg. Herrn Kaisers Blick verriet: Derartige Drohungen meinte er todernst. Zwergo ließ sich davon jedoch nicht die Laune verderben. Guter Dinge war auch Morle, der zwischen mir und David saß.

«Lennart und David: Wir sitzen mit Stolz.»

Er bezog sich damit auf die von uns Sitzhaltung. Für sie hätte wohl selbst Frau Siebenkittel noch einen geeigneten Namen finden müssen: Wir hatten, wie von Herrn Kaiser gefordert, auf der vorderen Stuhlkante Platz genommen. Jedoch saßen dabei nicht aufrecht, sondern lehnten uns an. Stolz strahlte das natürlich nicht aus. So bequem machte ich es mir nicht einmal im Matheunterricht.

Morles Worte waren für mich kein Anlass, dies zu ändern. Er sollte sie zudem bald bitter bereuen.

«Steht mal bitte auf», sagte Herr Kaiser.

Und schon musste Morle feststellen, dass David und ich ihm selbst krumm stehend noch auf den Kopf hätten spucken können. Dabei war er doch um einiges älter als wir.

David und ich lachten triumphierend.

«Mensch, ey», sagte Morle, «noch nicht mal Haare am Sack –»

Darüber lachte nun die halbe Männerreihe.

«So, dann singen wir jetzt Wer nur den lieben Gott lässt walten

Wer nur den lieben Gott lässt walten war ein Männerchorstück, das ich vor allem deshalb schätzte, weil es eine Anweisung Herrn Kaisers so schön ad absurdum führte: Unser Chorleiter fand, dass man Konsonanten gar nicht laut genug aussprechen konnte. Nun hatte schon Frau Siebenkittel einst gepredigt: «Dritte Chorregel: Beim Singen muss man übertreiben», es hatte ihr jedoch genügt, wenn wir die Ts, Ks und Ps deutlich sprachen. Herr Kaiser hingegen war erst dann zufrieden, wenn sie die Raumluft aufpeitschten. In der ersten Strophe von Wer nur den lieben Gott lässt walten peitschte alleine das T achtzehnmal die Raumluft auf. So oft kam es – teilweise in Form von hart gesprochenen Ds – vor. Mitunter sogar mehrmals direkt hintereinander.

David und ich machten uns einen Jux daraus, diese Eigenart des Stückes besonders herauszustellen.

«Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn alle Zeit, den wirdr wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott dem allerhöchstem traut, der hat auf keinen Sand gebaut.»

«Sehr schön, eure Aussprache, Lennart und David», sagte Herr Kaiser.

Woraufhin wir uns die übrigen beiden Strophen lang schwer das Lachen verkneifen mussten.

Nachdem wir fertiggesungen hatten, wollte Herr Kaiser etwas wissen.

«Da in Takt vier und fünf, was der zweite Tenor und der erste Bass dort haben, wie nennt man das?»

Volker antwortete ohne zu zögern.

«Terzparallele»

David und ich johlten. Morle sagte: «Boah! Sie nannten ihn Volker.»

«Das gefällt mir doch schon sehr gut», sagte Herr Kaiser.

«Tja», sagte Jürgen, «mit der Wirtschaft geht es ja auch wieder bergauf.»

Darüber lachten alle, am allerlautesten Marc. Generell zeigte er sich in den Männerproben als ein unverhofft humorvoller Geselle. Über jede noch so bemühte Bemerkung lachte er. Am lautesten über die unseres Chorleiters. Es gab keinen Grund, an der Echtheit seiner Lache zu zweifeln. Herr Kaiser war damals schließlich sein ausdrücklicher Wunschkandidat gewesen. Insgesamt betrachtet also waren die Männerproben so ganz anders als die Gesamtchorproben Stunden des Friedens und der Harmonie.