Generationenkonflikt

Perlen von Holstein Folge 103

März 2005

Der Knabe, der mir bei meiner ersten Probe als Mann ungebeten Gesellschaft geleistet hatte, hieß Laurence. Ich wusste das, weil Friedhelm Mönter einen anderen Knaben und ihn bei Sonntakte interviewt hatte. Ausgesprochen wurde sein Name französisch. Das war ungewöhnlich genug bei einem Jungen, der dem äußeren Anschein nach südländischer Herkunft war. Noch ungewöhnlicher war es, wenn man wusste, dass er aus Armenien stammte.

Wie ich befürchtet hatte, war er in der nächsten Probe wieder angekommen. Allerdings war nicht er derjenige gewesen, der dieses Mal nicht alleine gewesen war. David hatte neben mir gestanden und sich mit mir unterhalten. An sich hatte Laurence unser Gespräch nicht gestört, denn abermals hatte er nichts gesagt. Abermals hatte er mich nur mit pechschwarzen Augen angestarrt. Das hatte nicht nur mich, sondern auch David recht schnell gestört.

«Jetzt geh mal weg, Junge», hatte er gesagt.

Mir waren indes – und durch Davids Gegenwart – jedwede Skrupel abhanden gekommen. Beherzt griff ich Laurence in den Nacken. Mit meiner Vermutung, dass er hier kitzelig sein würde, wenn man nur fest genug zudrückte, hatte ich goldrichtig gelegen. Augenblicklich hatte er den Kopf in den Nacken gezogen und sich zu winden begonnen.

«Och, ist er nicht süß?», hatte ich zu David gesagt.

«Ja, das ist echt ein richtiger Wonneproppen, hihi», hatte der erwidert.

Laurence hingegen hatte endlich sein Schweigen gebrochen.

«Lass mich sofort los!», hatte er gesagt. Dies hatte er mit der Stimme eines Schlägers getan. Keines Schulhofschlägers, wohlgemerkt. Die eines Schlägers, der vor einem Lagerhaus stand, während drinnen illegal gebrannter Schnaps umgeladen wurde. In Kombination mit seiner geringen Körpergröße war das einfach nur zum Schreien komisch gewesen.

«Haha! Sonst?», hatte ich gesagt.

«Sonst zeig’ ich dir, was ’ne Faust ist.»

Er hatte ein Gebilde emporgereckt, das von der Größe und der Festigkeit her einem weichgekochten Frühstücksei glich.

«Och, guck mal, sein Fäustchen. Ach, wie ist das süß», hatte David gesagt. Dann hatte er getan, was ich schon beim ersten Anblick von Laurence hatte tun wollen: Er hatte ihm in die rechte Pausbacke gekniffen.

«Ja, der ist wirklich sowas von süß», hatte ich gesagt. Ich hatte Laurence’ Nacken losgelassen und ihm in die linke Pausbacke gekniffen.

Seine pechschwarzen Augen hatten böse gefunkelt.

In der Woche darauf war nicht nur David, sondern auch Max-Frederick bei mir gewesen. Der hatte bereits eine geballte Ladung schlechter Laune mit zur Probe gebracht.

«Ey, als ich vorhin an der U-Bahn-Station stand, waren da zwei solche Bonzen. Der eine mit so ’nem Polohemd und Bonzenkragen. Das hat mich so aufgeregt, Mann!»

Laurence’ Gegenwart war ihm da ein gefundenes Fressen gewesen.

«Ey, was will der Scheiß-Knabe hier?», hatte er gesagt.

«Ach, komm», hatte David erwidert, «Laurence ist unser Maskottchen.» Dabei hatte er dem Jungen in die Pausbacke gekniffen.

Max-Fredericks Laune hatte sich schlagartig verbessert.

«Haha, der Oma-Griff, hahaha. Ey, komm, lass mich auch mal.»

David hatte Laurence’ rechte Pausbacke los- und Max-Frederick das Feld überlassen. Der hatte keine halben Sachen gemacht und den von ihm so getauften Oma-Griff an beiden Pausbacken von Laurence vollzogen. Oma-Griff hatte freilich nur heißen sollen, dass der Griff von dem einer Oma inspiriert war, nicht, dass er mit der Kraft einer Oma ausgeführt wurde. Laurence hatte einen Schmerzlaut von sich gegeben. Von Max-Frederick war dies mit hämischer Hyänenlache quittiert worden. Dies hatte einige andere Knaben auf den Plan gerufen.

«Ey, lass Laurence in Ruhe.»

Max-Frederick hatte jedoch nicht im Traum daran gedacht.

«Ihr Scheiß-Knaben, verpisst euch!»

Und damit hatte er begonnen, der große Generationenkonflikt des Neuen Knabenchors Hamburg.

Als ich heute zur Probe kam, wurde ich bereits von Laurence in Empfang genommen. Ich zauderte nicht lange und griff ihm in den Nacken. Das tat ich jedoch nur, um ihn ausreichend wehrlos zu machen, dass ich seine eigentliche Schwachstelle zu fassen kriegte: den Bereich über seinen Knie. Eine kleine Berührung genügte und der Junge kapitulierte bedingungslos. Weil er das wusste, versuchte er durch Schütteln der Beine meine Hand abzuwehren. Es half ihm nichts. Schon hatte ich den Bereich über seinem Knie zu fassen gekriegt. Laurence legte sich in dem Versuch, eine Schonhaltung einzunehmen, auf den Boden.

Das hätte man nun gemein finden können. Doch wie hatte Opa Max schon immer gesagt: ‹Gemein ist, wenn man seine Großmutter die Treppe runterschubst und sagt: «Oma, warum rennst du so?»›

«Lass mich los», sagte Laurence unter Ächzlauten, «Bitte, Lennart!»

«Hörst du dann auf, mich zu nerven?», erwiderte ich. Ich griff noch ein wenig fester zu.

«Ja! Ja, Lennart! Bitte, lass mich los!»

Ich ließ von dem Jungen ab. Sofort stand er wieder auf den Beinen. Er dachte nicht im Traum daran, wegzugehen.

«Hab’ dich angelogen», sagte er.

Ich versuchte, ihm erneut in den Nacken zu greifen. Doch er legte seinen Kopf so weit nach hinten, dass ich nicht herankam. Blieb also nur der altbewährte Oma-Griff. Ich kniff Laurence in die Pausbacke, gleichwohl ich wusste, was das nach sich ziehen würde. Der Oma-Griff nämlich schien irgendwelche Pheromone freizusetzen, der andere Knaben anlockte. In Scharen anlockte. Tatsächlich dauerte es nur wenige Sekunden, bis ich umzingelt war.

«Lass Laurence in Ruhe», sagte einer, der mich immer Papa nannte.

Zum Glück ließ meine Rettung nicht lange auf sich warten. Max-Frederick kam und stürzte ich direkt ins Getümmel.

Ich hörte ihn brüllen: «Scheiß-Knaben! Scheiß-Bonzenkinder! Alle erschießen!»

«Genau, Scheiß-Kinder», sagte ich.

«Du bist doch selber noch ein Kind», entgegnete einer der Knaben.

«Nee», sagte ich, «mit über vierzehn ist man in Deutschland ein Jugendlicher.»

«Du bist trotzdem noch ein Kind»

«Halt’s Maul, Scheiß-Knabe!», brüllte Max-Frederick.

«Ach, ihr hier immer mit euerm: ‹Scheiß-Knaben’. Scheiß-Männer!»

Da packte Max-Frederick ihn an der Schulter und zog ihn dicht an sich heran.

«Ey, Junge, du hältst – jetzt – die Fresse!»

Ich lachte schallend. Dabei war ich mir gar nicht so sicher, ob Max-Frederick wirklich nur Spaß machte. Das war man sich bei ihm irgendwie nie.

In der Probe schimpfte Max-Frederick weiter auf die Knaben.

«Mann, ey, diese Scheiß-Knaben», sagte er.

Ich kicherte.

«Nee, ehrlich. Wie respektlos die zu uns Männern sind. Das hätten wir uns früher nicht getraut, Mann.»

«Ja, hast schon recht.»

«Und wie scheiße die singen, Alter. Weißt du, als du, ich, Ulrich und so früher im Alt waren, da war das die beste Stimme. Und jetzt, ey, zieh dir doch mal rein, wie kacke sich das anhört.»

Als hätte Herr Kaiser Max-Fredericks Worte gehört, ließ er den Alt die Stelle aus Cantate Domino noch einmal singen. Es dauerte keine drei Töne, da stimmte schon überhaupt nichts mehr. Herr Kaiser brach wütend ab, Max-Frederick quittierte es mit hämischer Hyänenlache.

Nun hätte man anführen könne, dass der Alt bei Herrn Kaiser nicht mehr das war, was er bei Frau Siebenkittel gewesen war: Die Elite-Stimme für Philipp und die Knaben, die kurz vorm Stimmbruch standen. Der Alt stand nun jedermann offen, der der Auffassung unseres Chorleiters tief genug kam. Dazu gehörten Knaben aller Altersklassen, unter ihnen Laurence und der war gerade mal Neun. Doch eben weil Laurence dem Alt angehörte, konnte ich diesen Einwand nicht gelten lassen. Ich pflichtete Max-Frederick also bei.

«Ja, vom Alt könntest du echt einige rausschmeißen», sagte ich.

«Rauschschmeißen? Erschießen! Ey, es gibt so eine russische Geheimdienstpistole, die hat so ’nen krassen Schalldämpfer. Wenn du damit schießt, macht es nur so: Tick. Damit möchte ich mich hier echt mal hinsetzen und jedes Mal, wenn der Alt wieder verkackt: Tick, tick, tick.»

Herr Kaiser ließ den Alt die Passage aus Cantate Domino zum nunmehr fünften Mal singen. Sie misslang erneut.

Max-Frederick und ich formten unsere Hände zu Pistolen.

«Tick, tick, tick, tick.»

Dann ließ Max-Frederick einen von ihn schon zu Kellinghusenstraßen-Zeiten kultivierten Scherz wieder aufleben: Er tippte einem vor ihm sitzenden Knaben auf die Schulter.

Arglos drehte sich der Junge um.

«Boah, guck nach vorne!», sagte Max-Frederick.

Ich wusste von früher nur zu gut, wie es war, von Max-Frederick gepiesackt zu werden. Dennoch lachte ich. Es war schließlich nicht einfach nur unsere subjektive Wahrnehmung, dass diese Knaben anders als wir waren. Es entsprach der Wahrheit. Meine Mutter hatte erzählt, dass Herr Kaiser nur Kinder in den Chor aufnahm, die eine halbe Stunde stillsitzen konnten. Sie selbst hatte das bei der letzten Vollversammlung erfahren.

«Haha, da wäre Lennart aber niemals in den Chor aufgenommen worden», hatte sie nach eigenen Angaben gesagt.

«Nein, haha, das wäre er ganz bestimmt nicht», soll Zwergo gesagt haben.

Nein, ich wäre nicht in den Chor aufgenommen worden. Ich hatte als Sechsjähriger nicht eine halbe Stunde stillsitzen können, ich konnte es jetzt als Sechzehnjähriger nicht und ich würde es wahrscheinlich auch als Sechzigjähriger nicht können. Das war nichts, dessen ich mich zu schämen brauchte. Ich befand mich damit schließlich in bester Gesellschaft. David konnte nicht stillsitzen, Philipp konnte nicht stillsitzen, Max-Frederick konnte nicht stillsitzen. Imanuel konnte es und sogar ganz vorzüglich. Doch, nun ja, der war ja schon immer irgendwie herausgefallen.

Diese Knaben waren also rein objektiv betrachtet anders als wir. Zumal man sagen musste, dass ich auch schon von Erwachsenen gehört hatte, dass sich die heutigen Kinder generell von denen vor zehn Jahren unterschieden. Erst jüngst hatte mein Klarinettenlehrer dies beklagt. Die Schuld sah er in der Zeichentrickserie SpongeBob Schwammkopf. In dieser spielt Griesgram Thaddäus Klarinette. Leider nicht besonders gut. Die Resonanz des Publikum ist entsprechend meist negativ. Entweder schlafen die Leute ein oder sie zerstören das Instrument. Dem Ruf der Klarinette bei Kindern war das natürlich nicht unbedingt zuträglich. Entsprechend genervt hatte mein Lehrer reagiert, als ich ihn einmal auf Thaddäus angesprochen hatte.

«Hör auf mit Thaddäus. Ich hasse Thaddäus! Weißt du, früher, da gab es diesen tollen Film: Jenseits der Stille. Kennst du den? Der handelt von so einem Mädchen, dessen Eltern beide taub sind und die das Klarinettenspiel für sich entdeckt. Und da wollten alle Kinder Klarinette lernen. Und wenn du jetzt zu den Kindern gehst und sagst: ‹Ich spiele Klarinette.› Mit was kommen sie dann? Mit Thaddäus!»

Was übrigens Laurence anging, so war ich nicht der erste, dem er in jeder Pause ungebetene Gesellschaft leistete. Bevor ich in den Männerchor gekommen war, war dies Imanuel gewesen. Wie der darauf reagiert hatte, wusste ich nicht. Jedenfalls kannte Laurence ihn jetzt, wo ich da war, nicht mehr.