Die große Gala

Perlen von Holstein Folge 102

Herr Kaiser war einmal mehr sichtlich erleichtert, als er mich hereinkommen sah.

«Ah, ich sehe, Lennart», sagte er, «Du bist wiedergekommen, obwohl du auch heute wieder einen Anzug tragen musst. Ich kann dann also wirklich davon ausgehen, dass du uns erhalten bleibst?»

«Ähm, ja», antwortete ich.

«Schön.»

So häufig, wie er in den vergangenen Tagen über Anzüge gesprochen hatte, musste ich jetzt doch einmal einen genaueren Blick auf seinigen werfen. Er saß ihm wirklich wie angegossen. Um nicht zu sagen: Unser Chorleiter sah aus, als wäre im Anzug geboren worden. Das lag aber wohl vor allem daran, dass er trotz aller Veränderungen an seinem Probenstil auch weiterhin ein recht formeller Mensch war. An seiner Erfahrung im Tragen von Anzügen lag es nicht. Zumindest hoffte ich das. Anderenfalls würde ich wohl demnächst wirklich austreten müssen. Das fehlte noch, dass jemand sagte: Lennart sieht aus, als wäre er im Anzug geboren worden.

Herr Kaiser blieb bei mir stehen, als Gaming-Max sich zu mir gesellte. Er blieb auch bei mir stehen, als er hörte, um welches Thema es mal wieder ging.

«Ey», sagte Gaming-Max, «ich spiel’ gerade so derbe viel Battlefield Vietnam, Alter. Ich brauch’ da richtig täglich meinen Intus, sonst überstehe ich den Tag nicht, Mann.»

«Ach, ich fand Battlefield Vietnam jetzt nicht so toll und habe mir das auch nicht gekauft. Spielst du das denn online oder mit Bots?»

«Mit Bots. Aber das ist trotzdem geil. Weißt du, was ich übrigens derbe scheiße finde? Far Cry

«Haha, ja, das ist irgendwie etwas übertrieben schwer, was? Ich weiß noch, wie ich im letzten Level, da im Vulkan, so ausgerastet bin, wie in meinem ganzen Leben noch nicht.»

«Schwer? Mag sein. Ich habe das gar nicht so weit gespielt, weil dann halt irgendwann solche Viecher kamen. Und ich mag nicht so gerne solche Spiele wie Half-Life, wo du auf Viecher schießt. Ich schieß’ lieber auf Menschen.»

Nun wurde es unserem Chorleiter aber zu bunt.

«Findet ihr es eigentlich wirklich gut, dass man in solchen Spielen immer Gewalt ausüben muss?», sagte er, «Wäre es für euch nicht viel spannender, darin auf Schatzsuche zu gehen oder einen Detektiv zu spielen?

Auf Schatzsuche gehen oder den Detektiv spielen. Der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, hatte wirklich Vorstellungen. Als würden derartige Sujets nicht dafür geeignet sein, eine beträchtliche Anzahl von Menschen gewaltsam aus dem Leben scheiden zu lassen. Als gäbe es nicht längst Killerspiele mit derartigen Sujets, in denen genau das passiert.

Eine Folge von NDR Sonntakte war genau zwei Stunden lang. Die Chor-Gala, aus der sie heute zusammengeschnitten werden würde, sollte vier bis fünf Stunden gehen. Völlig entgegen meiner Art beschloss ich, ein wenig Reife zu zeigen: Ich ärgerte mich nicht über die viele Zeit für meine Killerspiele, die mir verloren ging, sondern genoss die Show.

Das Rolf-Liebermann-Studio von der Funktion her Tonstudio und Konzertsaal in einem. Optisch glich es aber eher dem Hörsaal einer Universität: Es gab steil aufsteigende Reihen aus hölzernen Klappsitzen. Sie waren jedoch gepolstert und mit Armlehnen ausgestattet. Dadurch waren sie bequemer, als sie aussahen. Die mehrstufige Bühne war eher klein, dafür gab es davor eine großzügige Freifläche. In ihrem Zentrum stand das Prunkstück des Saales: Ein Steinway-Flügel. Links und rechts an den Wänden hingen Leuchtflächen, die auf den ersten Blick wie Fenster anmuteten. Sie sollten wohl, ähnlich wie das helle Holz, darüber hinwegtäuschen, dass dieser Saal mit seinen schallisolierten Wänden genauso gut ein Bunker hätte sein können.

Ich konnte nicht mehr sagen, wer bei unserem Auftritt bei NDR Sonntakte vor drei Jahren die Sendung moderiert hatte. In meiner Erinnerung war es eine Frau gewesen. Jedenfalls war es nicht Friedhelm Mönter gewesen. An den hätte ich mich unter Garantie erinnert. Alles an dem Mann sagte laut und deutlich: Ich. Bin. Schwul. Sein von Herzen kommendes Grinsen, seine kreisrunde Hornbrille und natürlich seine Art zu sprechen. Mit kindlicher Freude präsentierte er Sänger und Chöre. In Interviews zeigte er sich auch schon einmal neckisch. Vor allem aber versuchte er nicht einmal, sein Lispeln und seinen Sprachfehler zu unterdrücken: Hinter jedes K schlich sich bei ihm eine kleine Pause ein. Das kam natürlich besonders schlimm bei einer Sendung, bei der lauter K-nabenchöre zu Gast waren.

Mit anderen Worten: Friedhelm Mönter war der richtige Mann für eine Sendung, deren Zielgruppe wohl überwiegend weiblich und weit über sechzig war. Auch solche Menschen würden schließlich noch träumen dürfen.

Der erste Act des Tages war der Operettenchor Hamburg. Hinter diesem ganz und gar gewöhnlichen Namen verbarg sich ein ganz und gar außergewöhnlicher Chor. Er bestand zu einhundert Prozent aus Männern jenseits der Siebzig. Schon gestern bei der öffentlichen Generalprobe war deshalb kein Auge trocken geblieben.

«Zwergo, wenn ich achtzig bin, möchte ich mit dir zusammen in einem solchen Chor sterben», hatte Morle gesagt.

Ans Sterben dachten diese Alten wohl aber nicht einmal im Traum. Sie strotzen nur so vor Leben. Feurig wie falsch sangen sie: «Die Juliska, die Juliska aus Buda-budapest, die hat ein Herz aus Paprika, das kein’ in Ruhe lässt»

Die Menge tobte.

Mönters Interesse galt aber weniger den alten Herren als vielmehr deren Leiterin Doris Vetter.

«Doris Vetter, wie ist das, siebzig Männer zu dirigieren? Ist das ’n tolles Gefühl für eine Frau, mal die Macht über siebzig Männer zu haben?»

«Ja, von wegen, hehe: die Verantwortung! Ich brauche keinen Kaffee an solch einem Morgen.»

‹Touché›, konnte man nur sagen. Junge, Junge, der Dame machte keiner etwas vor. Die konnte sicher auch für weit mehr als siebzig Männer die Verantwortung übernehmen.

Wir alle dachten, dass der Operettenchor in Sachen Unterhaltungswert nicht zu überbieten sein würde. Doch damit sollten wir uns gewaltig geirrt haben. Herr Mönter wusste bereits Bescheid.

«So, meine Damen und Herren, jetzt wird’s bunt. Wir wollten ihnen natürlich auch nicht nur was für die Ohren, sondern auch was für die Augen bieten. Freuen Sie sich auf dreißig attraktive junge Männer, auf Schola Cantorosa, der schwule Männerchor Hamburg.»

Er sollte nicht zu wenig versprochen haben. Dreißig schnittige junge Kerle im Piratenkostüm betraten das Podest. Sie hätten eigentlich gar nicht mehr singen müssen, das Publikum war schon jetzt fest auf ihrer Seite.

Ihre ersten zwei Stücke waren aus ihrem aktuellen Programm entnommen, einem Piraten-Musical. Es handelte von einer Bande gestandener Seeräuber, die im Höhepunkt der Schlacht ihre Gefühle für den Feind entdeckten. Wesentlich interessanter war ihre ganz eigene Version des Titelsongs von Flipper, die sie danach sangen.

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Das Publikum lachte schallend. Morle johlte und klatschte die Hände über dem Kopf zusammen.

Fürwahr: Wir hatten eine schwere Nachfolge anzutreten, als nun wir auf das Podest kamen. Glücklicherweise hatte Herr Kaiser neben Innsbruck, ich muss dich lassen und Cantate Domino noch ein weiteres Stück mit uns einstudiert: Ein Vogel saß auf einem Baum. Was zunächst wie ein Volkslied anmutete, und von Friedhelm Mönter auch als ein solches angekündigt wurde, war eine frech Kritik an einer gewissen Art von Fernseh- und Radioprogramm. Zum Glück hatte das gestern bei der öffentlichen Generalprobe niemand mitbekommen, sodass wir das Lied auch heute singen durften. Es handelte von einem Vogel, der versuchte, mit seinem schönen Gesang die Aufmerksamkeit eines vorübergehenden Manns auf sich zu ziehen. Der jedoch geht nicht darauf ein. Davon brüskiert, entleert der Vogel seinen Darm auf den Mann. Die Reaktion folgte prompt. Und die Moral von der Geschicht: ‹Die Kunst hat’s schwer heut allzumal, der Mist kommt immer an›.

Auch heute bemerkte wohl keiner die Hintersinnigkeit dieser Töne. Wir mussten das Singen für bestimmt eine halbe Minute einstellen, so sehr lachten und applaudierten die Leute nach: «Doch weil der Mann nicht aufwärts sieht – da lässt er etwas fall’n. Da lässt er etwas, lässt er etwas, lässt er etwas fall’n, o-oje

Ein weiteres Merkmal des Liedes war das Pfeifsolo im Refrain. Es wurde von Zwergo übernommen. Seine Performance war dermaßen überwältigend, dass meine Mutter noch Jahre später erzählen sollte, sie hätte noch nie jemanden so perfekt pfeifen hören. Ich konnte ihr nur zustimmen, wunderte mich jedoch, dass sie so überrascht davon war. Wenn einer mit so viel spitzbübischem Charme wie Zwergo etwas können musste, dann doch wohl pfeifen.

Uns folgten die Männer der Chorknaben Uetersen. Sie waren mir bis gestern so unbekannt gewesen wie der Ort, aus dem sie stammten. Ich konnte aber davon ausgehen, dass er in der Nähe von Hamburg lag, anderenfalls hätten sie wohl kaum teilnehmen dürfen. Das sollte keineswegs bedeuten, dass sie provinziell klangen, weit gefehlt. Sie sangen mit einer technischen Perfektion, die einen das Fürchten lehren konnte. Ihr Pseudo-Yoik von Jaakko Mäntyjärvi schlug kein bisschen weniger in die Entertainment-Kerbe als unser Ein Vogel saß auf einem Baum. Es klang wie ein ausufernder schottischer Volkstanz, bei dem das gesamte Mobiliar zu Bruch ging. Vor allem aber war es wohl eines: Sauschwer zu singen. Dementsprechend klatschten die Leute nicht nur begeistert Beifall, als sie fertig waren. Sie stampften auch auf den Boden. Es war nicht zu leugnen: Dieser Chor hatte uns an die Wand gesungen.

Das konnte man von einem gewissen anderen Knabenchor weiß Gott nicht behaupten. Meine Mutter hatte recht gehabt: St. Nikolai sang die gleichen Stücke wie wir unter Frau Siebenkittel. Canticorum Jubilo, das Mariä Wiegenlied und Zum Ziele führt dich diese Bahn aus der Zauberflöte. Letzteres hatten wir zwar nicht gesungen, dafür Bald prangt, den Morgen zu verkünden. Ich konnte mich nicht mehr entsinnen, wann das gewesen war. Es mochte tatsächlich sogar bei unserem letzten Auftritt bei NDR Sonntakte gewesen sein. Eines aber wusste ich mit Gewissheit: Bei uns hatte es definitiv besser geklungen. Was die St.-Nikolai-Knaben dort mit kehligen, dünnen Stimmen vor sich hinquetschten, war nicht mehr als schön zu bezeichnen. Frau Siebenkittel hätte wohl jallerig dazu gesagt. Ich versuchte, mich von meinen bösen Gedanken gegenüber diesem Chor und seiner Leiterin zu befreien. Doch so sehr ich mich auch mühte: Ich fand noch immer schlecht, was ich dort hörte.

Trotzdem durfte St. Nikolai wesentlich mehr Stücke als wir singen, das Rahmenprogramm gestalten und bekam zudem von allen Chören die meiste Interviewzeit. In ebendieser Interviewzeit erfuhren wir den Grund, den das hatte. Der Hamburger Knabenchor St. Nikolai war einst der Knabenchor des Norddeutschen Rundfunks gewesen. Man konnte nur hoffen, dass sie damals besser gewesen waren. Selbst meine Mutter musste am Ende zähneknirschend zugeben.

«Naja, auch wenn ich Innsbruck, ich muss dich lassen noch immer langweilig fand: ihr habt den alten Knabenchor damit ziemlich an die Wand gesungen. Ich hätte echt nicht für möglich gehalten, dass die so schlecht sind. Und man muss ja doch sagen: Ihr habt ja auch eure Konflikte untereinander schon immer gehabt, aber wenn ihr auf der Bühne steht, merkt man davon überhaupt nichts. Dann seid ihr ein Chor. Bei denen hast du dagegen echt den Eindruck, dass die sich alle wegen irgendwas im Clinch liegen. Ich möchte echt nicht wissen, was bei denen hinter den Kulissen los ist.»

Das war natürlich etwas, das nur meiner Mutter aufgefallen sein konnte. Doch so sehr sie sich auch oft irrte, in solchen Dingen war auf ihr Gespür Verlass. Eigentlich sonderbar. Man sollte doch meinen, dass Abenteuerurlaub in Amerika, Südafrika und Shanghai die Gemeinschaft stärkte. Unsere Fahrten nach Israel und in die USA hatten das zweifelsohne. Doch geschah das wohl nur dann, wenn man in ein fremdes Land fuhr, um dorthin zu fahren, nicht, um anderen Chören davon erzählen zu können.