Ein neuer Anfang

Perlen von Holstein Folge 99

Januar 2005

Mein neues Leben im Neuen Knabenchor begann mit einer bösen Überraschung.

«Was, die Männerprobe ist am Freitag? Was soll denn die Scheiße jetzt», sagte ich.

«Ja», entgegnete meine Mutter, «das ist bei der letzten Vollversammlung so beschlossen worden, weil Freitag für die Männer, die berufstätig sind, besser ist als Dienstag. Die Gesamtchorprobe ist natürlich jetzt auch Freitag.»

Die Männer, die berufstätig sind? Seit wann interessierte sich irgendwer für die Belange von Minderheiten? Aber ja, sie waren schließlich berufstätig und demzufolge als der Geldadel unseres bescheidenen Knabenchors anzusehen. Somit hatten wir uns nach ihren Bedürfnissen zu richten, ob wir wollten oder nicht.

Die Probe war jetzt also Freitag von siebzehn bis neunzehn Uhr, wobei wir die erste Stunde gemeinsam mit den Knaben üben würden. Immerhin würde ich anders als zu Knabenzeiten nur einmal die Woche zum Chor kommen müssen.

Wohl deshalb sah meine Mutter das Problem auch weniger in den Probenzeiten als vielmehr in den Probeninhalten.

«Also ich weiß ja nicht, ob dir das, was der Kaiser macht, so gefallen wird. Der lässt euch nur langweilige Sachen singen, unter anderem dieses grässliche Innsbruck, ich muss dich lassen

Tatsächlich war Innsbruck, ich muss dich lassen das erste Stück, das wir bei meiner ersten Probe als Mann sangen. Nach den ungewöhnlich deutlichen Worten meiner Mutter war ich zunächst etwas skeptisch. Schnell aber gelangte ich zu dem Schluss, dass ich das Stück kein bisschen langweilig fand. Schon der Anfang war großartig: Erst sangen nur wir Bässe und der Alt. Dann kamen Tenöre und Soprane dazu und vervollständigten den Klang. Wirklich auf einen gemeinsamen Nenner kamen alle Stimmen aber erst bei der zweiten Silbe, sodass es richtig schön herausknallte, dieses -bruck. Verstärkt wurde dieser Effekt dadurch, dass es anders als Inn- aus lauter harten Konsonanten bestand. Jene konnten wir, wenn es nach Herrn Kaiser ging, gar nicht deutlich genug aussprechen.

Am besten gefiel mir aber ‹In fremde Land dahin›. Wie in alten Zeiten war dies eine Stelle, auf die ich mich beim Singen die ganze Zeit freute. Anders als früher faszinierte mich jedoch weniger die Melodie meiner eigenen, sondern der Zusammenklang aller Stimmen. Einige Sekunden lang hangelten wir Singenden uns von Akkord zu Akkord, von einer Anspannung zur nächsten. Ich spürte, wie sich auch in mir alles anspannte und zusammenzog. Als dann die Auflösung kam und sich alles gleichzeitig entspannte, machte sich ein wohliges Gefühl in der Magengegend breit. Einfach traumhaft. Ich konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, was meine Mutter gegen das Stück hatte.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Die Abneigung meiner Mutter gegen Innsbruck, ich muss dich lassen ist vor allem deshalb schwer zu erklären, weil seine Melodie zwei Mal in ihrer heißgeliebten Matthäus-Passion Verwendung findet. Einmal bei Ich bin’s ich sollte büßen, noch einmal bei Wer hat dich so geschlagen? Überhaupt waren diese Töne einst sehr populär gewesen. Sie dienten als ursprüngliche Melodie von Der Mond ist aufgegangen und stehen bis heute bei Nun ruhen alle Wälder in den Kirchengesangbüchern. Alles Einwände, die meine Mutter nicht gelten lässt.

Nicht nur die Probenzeit, auch der Probenort hatte sich geändert. Vermutlich, weil die beiden Studiosäle am Freitagabend häufig anderweitig benötigt wurden, hatte man uns in die Aula der Fremdsprachenschule verbannt. Die Fremdsprachenschule lag direkt neben der Jugendmusikschule und wollte oder musste mit letzterer kooperieren. Dementsprechend war ich bereits einige Male in ihrer Aula gewesen. Sie sah aus, wie Schulaulen eben aussahen, also wie die der Handelsschule Kellinghusenstraße. Statt einer alles umgebenden Fensterbank wies sie jedoch eine Bühne auf und war deutlich größer. Außerdem hingen an der Decke Traversen mit klobigen Scheinwerfern. Sie wirkten inmitten von modrigen Holzwänden, Holzstühlen und Parkett ein wenig deplatziert.

Als ich dieses Ambiente heute betreten hatte, war Philipp mit ausgestrecktem Arm auf mich zugestürmt gekommen. Nicht, um mir die Hand zu geben oder – wir hatten uns ja nun einige Zeit nicht gesehen – mich herzlich zu umarmen. Nein. Sein Interesse hatte alleine dem Textil gegolten, das meinen Oberkörper bedeckte. Mit nacktem Finger hatte er darauf gedeutet.

«Diesen Pullover! Den hast du schon so scheiße lange!», hatte er gesagt.

Was sollte man dazu sagen? Den Bad-und-Mad-Pullover, auf dem eine Katze eine Computermaus frisst, hatte ich in der Tat schon angehabt, als wir noch in der Handelsschule Kellinghusenstraße geprobt hatten. Vinzent hatte sich damals köstlich über ihn amüsiert. Inzwischen war mir natürlich ein wenig zu klein. Eigentlich war er mir viel zu klein. Für mich kein Grund, ihn auszumustern. Für Philipp ein Quell maßloser Empörung.

Die Pause verbrachte er dementsprechend lieber mit einigen Knaben als mit mir. Das wäre nicht weiter tragisch gewesen, hätte David heute den Weg hierher gefunden. Offensichtlich aber hatte er das nicht. Meine anderen Kumpanen waren ebenso entweder heute nicht gekommen oder im Mutantenchor. Ich würde mir die zehn Minuten wohl alleine vertreiben müssen. Anders als in der Schule sah ich keinen Anlass, mich für die Dauer dieser zehn Minuten zu verstecken. Hier machte sich doch schließlich keiner etwas daraus, dass ich jene Art Mensch war, die es eben abbekam, oder?

Natürlich machte man sich auch hier etwas daraus. Keine Minute verging und ich hatte ungebetene Gesellschaft. Ein Knabe stellte sich zu mir. Er hatte pechschwarze Haare, pechschwarze Augen und eine für seine offenbar südländische Herkunft ungewöhnlich blasse Haut. Außerdem hatte er Pausbacken, rund und voluminös. Man verspürte schon beim ersten Anblick den Drang, kräftig in sie hineinzukneifen.

So gesehen war er ein rechter Wonneproppen. Ein Wonneproppen, der sich darüber lustig machen wollte, dass ich ein Mensch war, der es eben abbekam. Er sagte nichts, sondern trat immer näher an mich heran. Dabei starrte er mich mit seinen pechschwarzen Augen an.

«Ey, komm, jetzt geh mal woanders hin.» sagte ich. Er reagierte nicht.

«Ey, jetzt hau ab», sagte ich. Er reagierte noch immer nicht.

Ich schob ihn einige Zentimeter weg. Er kam sofort wieder zurück.

Da stand ich auf und setze mich woanders hin. Er folgte mir. Es beeindruckte ihn nicht einmal, dass ich ein Buch hervorholte und demonstrativ zu lesen begann. Schließlich packte ich ihn am Nacken.

«Du verschwindest jetzt», sagte ich. Er reagierte nicht.

Mein Schicksal war besiegelt. Nächste Woche würde er wiederkommen, aber dann würde er nicht mehr alleine sein. Er würde allen erzählen, was ich war: Ein Mensch, der es eben abbekam. Und bald würde ich auch im Chor keine ruhige Minute mehr haben.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Entgegen landläufiger Meinung kann es durchaus ein Zeichen von Geistesgröße sein, wenn einer als Kind andere hänselt. Als Beweis hierfür mag Carl Philipp Emanuel Bach dienen. Über diesen stöhnte ein einstiger Mitschüler – der spätere Thomaskantor Johann Friedrich Dohles – er hätte «von klein auf, wie nicht wenige Knaben behenden Geistes und Körpers, an der Sucht gelitten, andere mutwillig zu necken.»