Auf dem Abstellgleis

Perlen von Holstein Folge 98

Dezember 2004

Ich war überzeugt gewesen, dass David, Moritz Von Und Zu und ich es geschafften hatten: Von nun an würden wir keine Intervalllehre mehr machen. Wir würden nur noch König in Thule singen. Doch es war alles anders gekommen. Als ich eine Woche später wieder zur Mutantenchor gegangen war, waren David und Moritz verschwunden gewesen. An ihrer Stelle hatten Lukas und Max-Frederick auf der Sofaecke vor dem Seminarraum herumgelungert.

Ich hatte mir schon denken können, was passiert war. Offenbar hatten David und Moritz beim Singen von König in Thule den Mann, der unseren Chor jetzt leitete, beeindruckt. So sehr, dass er sie noch in derselben Woche zum Männerchor geschickt hatte. Ich hingegen war im Mutantenchor geblieben und durfte unsere beiden Neuzugänge nun einweisen in die hohe Kunst des Antworten-Vorhustens, denn: Natürlich machten wir jetzt wieder Intervalllehre. Der König in Thule war in das Loch zurückgekrochen, aus dem Herr Kaiser ihn geholt hatte.

Lukas und Max-Frederick hatten sich für die Intervalllehre des Mannes, der unseren Chor jetzt leitete, kaum mehr begeistern können als David und Moritz. Entsprechend waren all die von mir kultivierten Späße bei ihnen auf positives Echo gestoßen. Besonders das Vorhusten von Antworten hatte dank Lukas bald Hochkonjunktur genossen. Herrn Kaiser war wohl schnell klar geworden, dass Geschichte sich wiederholen würde, wenn er nicht bald etwas unternahm. Und so war es gekommen, wie es hatte kommen müssen: Herr Kaiser hatte mich aus dem Mutantenchor hinausgeworfen.

Wobei, wirklich hinausgeworfen hatte er mich nicht. Er hatte meiner Mutter lediglich telefonisch mitgeteilt, dass er es nicht für sinnvoll erachtete, dass ich weiter im Mutantenchor bliebe. Ähnliches hatte er mir in der Einzelstimmbildung erzählt.

«Ja also, Lennart, es ist ja so, dass du alles, was wir im Mutantenchor machen, eigentlich schon kannst. Deshalb glaube ich, dass es besser für dich ist, wenn du nicht mehr kommst, und wir hier zusammen in der Einzelstimmbildung ein bisschen anspruchsvollere Sachen machen.»

Als ob das alles nicht schon vor Monaten gegolten hätte.

Inzwischen war wieder ein halbes Jahr vergangen. Es war Dezember. Und alles war wie gehabt: Einmal die Woche kam ich zu Herrn Kaiser in die Einzelstimmbildung. Andere Chormitglieder traf ich allenfalls zufällig auf dem Flur. Ein Mitglied des Neuen Knabenchors Hamburg war ich nur auf dem Papier. Für meine Mutter ein zunehmend untragbarer Zustand. Jede Woche lag sie Herrn Kaiser in den Ohren, wann er mich denn nun aus dem Stimmbruch zu entlassen gedachte. Und jede Woche lag Herr Kaiser mir in den Ohren, dass meine Mutter ihm jede Woche in den Ohren lag, wann er mich denn nun aus dem Stimmbruch zu entlassen gedachte.

Er schien nicht zu begreifen, dass ich nichts dagegen tun konnte. Dass niemand etwas dagegen tun konnte. Meiner Mutter ging es schließlich um etwas ganz Elementares: Ich sollte endlich wieder weniger Zeit mit meinen Killerspielen verbringen können. Die Anzahl meiner freien Nachmittage nämlich befand sich derzeit auf einem Allzeithoch. Nicht nur der Mutantenchor, auch der Klavierunterricht war weggefallen. Mein Lehrer war zu alt und zu krank geworden, um weiter unterrichten zu können. Und weil meine kleine Schwester und ich ohnehin schon seit geraumer Zeit nicht mehr geübt hatten, hatte meine Mutter sich die Mühe gespart, für Ersatz zu sorgen. Somit hatte ich jetzt nur noch Klarinettenunterricht und Einzelstimmbildung. Am gleichen Tag.

Doch damit würde bald Schluss sein. Herr Kaiser hatte mir eine frohe Botschaft zu verkünden: «Lennart, du kannst deiner Mutter sagen, dass ich dich ab Januar bei uns im Männerchor mitsingen lasse.»

Um dies gebührend zu feiern, ließ er mich gleich einmal meinen neuen Part bei Es ist ein Ros entsprungen ausprobieren. Den Bass-Part wohlgemerkt. Einen Tenor würde er auch dieses Mal nicht bekommen. Das hatte der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, inzwischen eingesehen. Trotzdem war es auch für ihn ein großer Tag. Er hatte mir nämlich noch eine frohe Botschaft zu verkünden.

«Ja, Lennart, das ist ein Halte- und kein Bindebogen. Das weiß ich mittlerweile.»

Man konnte den Einunddreißigjährigen wirklich nur beglückwünschen.

Im Januar würde ich wieder reguläres Mitglied des Neuen Knabenchors Hamburg sein. Das bedeutete vor allem eines: Weihnachten fiel auch dieses Jahr für mich aus. Zumindest Weihnachten im eigentlich Sinne, also Weihnachten in im Michel, im Torhaus Wellingsbüttel und in Tabea. Immerhin, in St. Jacobi würde ich dieses Jahr wieder zu Gast sein. Zwar nicht als Sänger, aber immerhin als Zuhörer. Meine Mutter fand es sinnvoll, dass ich hinginge. Interessanterweise nicht wegen des zu erwartenden schönen Gesangs – über den verlor sie kein Wort. Nein, wen ich laut ihr unbedingt einmal erleben sollte, war Daniela Ziegler. Eine bekannte Schauspielerin, wie meine Mutter meinte. Sie übernahm dieses Jahr die Vorlesung.

Am Eingang von St. Jacobi wurde ich in altvertrauter Weise begrüßt.

«Autsch! Und da hab’ ich mir mit dem Kartoffelmesser in die Finger geschnitten.» sagte Lukas. Er fand diesen Witz auch nach zwei Jahren noch immer gleich komisch.

Auf dem Weg zu unseren Ehrenplätzen – morsche Holzstühle im Seitenschiff – erzählte er mir ein wenig vom Mutantenchor.

«Hihi, Mutantenchor ist so geil», sagte er, «Mit Antworten-Vorhusten! Oder, wenn Herr Kaiser einen Ton wissen will, zu sagen: ‹Also, Dis weiß ich jetzt nicht›, hihihi.»

Mit anderen Worten: Es hatte sich nichts verändert. Wie viele Generationen von Mutanten wohl noch von den von David, Moritz und mir erfundenen Späßen zehren würden?

Das Konzert begann, für Lukas kein Grund, mit dem Reden aufzuhören.

«Ach, Unser lieben Frauen Traum. Das könnte ich noch immer auswendig mitsingen», sagte er.

So wie er das sagte, konnte man fast meinen, das Stück sei einer unserer Evergreens. Das war schlicht falsch: Herr Kaiser hatte es letztes Jahr eingeführt. Ich erinnerte mich dunkel daran, es vor dem Stimmbruch noch einige Male mitgeprobt zu haben. Über den ulkigen Text hatte ich mich schon damals gewundert. Er hatte für mich überhaupt nichts Weihnachtliches. Außerdem forderte es geradezu dazu auf, wörtlich genommen zu werden, dieses «Und unser lieben Frauen Traum der traumet, tra-aumet i-ihr ein Traum. Wie u-unter i-ihrem Herzen gewa-achsen wär, gewachsen ein Baum.» Man konnte nur hoffen, dass die inneren Organe unserer lieben Frauen diesen Vorgang unbeschadet überstanden hatten.

Nein, dieses Stück war gewisslich kein Evergreen. Es war jener ganz speziellen Art und Weise weltfremd, die dem Mann, der unseren Chor jetzt leitete, eben entsprach. Frau Siebenkittel hätte es uns wohl niemals singen lassen. Wobei, die dritte Strophe hatte etwas. Vollkommen unvermittelt durfte man brüllen: «Herr! Jesu! Christ!» Das war nach minutenlangem befremdlichen Gesäusel über irgendwelche imaginären Bäume wahrhaftig eine Wohltat.

Daniela Ziegler war an der Reihe. Sie las von einer Palme, die von der Geburt Jesu erfahren hatte und sich deshalb zur Erde herunterbeugte. Ein denkbar hanebüchener Plot. Und wie Daniela Ziegler ihn vortrug, das war so atemberaubend langweilig, dass man einschlafen wollte. Ein Willen, bei dem es bei Lukas wohlgemerkt nicht blieb.

«Mann, war das langweilig», sagte ich.

«Ach, wirklich? Keine Ahnung, hab’s nicht mitgekriegt, bin eingeschlafen, hihihi.»

Meine Mutter konnte sich nach dem Konzert ebenso nur wundern.

«Irgendwie ist es ja komisch, dass die Vorlesung so langweilig war. Dabei ist das eine wirklich gute Schauspielerin. Naja, das liegt ihr wohl einfach nicht –»

Nein, das tat es weiß Gott nicht. Nun ja, nächstes Jahr würde es anders werden, nächstes Jahr würde jemand anders die Vorlesung übernehmen. Nächstes Jahr, wenn ich wieder mitsang.