Auf der Suche

Perlen von Holstein Folge 96

Mai 2004

Herr Kaiser hatte in seiner Zeit im Dresdner Kreuzchor nicht mit nach Japan reisen dürfen, weil er kurz zuvor in den Stimmbruch gekommen war. Eine Erfahrung, die unter ihm kein Chormitglied machen sollte. Jeder, der wollte, durfte nach Maschen und in all die anderen Orte mitkommen. Meine Mutter wollte unbedingt, dass ich mitkam zum Chorwochenende nach Mölln. Jeder Tag, den ich nicht mit meinen Killerspielen verbringen konnte, war schließlich ein gewonnener Tag.

So ging es diese Woche nach der Schule zur Shell-Tankstelle am Bahnhof Dammtor, unserem Treffpunkt. Genauso und nicht anders stand es im Chorplan: Wir treffen uns an der Shell-Tankstelle am Bahnhof Dammtor. Besagte Tankstelle hatte ich dort sicher schon häufig gesehen. So richtig bewusst als Landschaftsmarke wahrgenommen hatte ich sie jedoch nie. Ich musste eine Weile suchen, bis ich sah, dass sie tatsächlich direkt gegenüber des Bahnhofsgebäudes stand.

Mölln war mir nicht unbekannt, schon gar nicht seine Jugendherberge. Rund zehn Jahre mochte es her sein, dass wir mit der Familie hier gewesen waren zum Bildungsurlaub der Deutschen Verkehrswacht. Es hatte mir sehr gefallen. Mit Socken, Blöcken und Bleistiften hatte man unsere Herzen im Sturm erobert. Massenweise Werbegeschenke abzustauben war schließlich immer gut gewesen. Noch besser waren die Till-Eulenspiegel-Motive gewesen, die den Speisesaal geziert hatten. Sie waren zudem das einzige, was ich an der Jugendherberge wiedererkannte, als wir dort ankamen.

Mein Zimmergenosse war Lukas. Das war gut, Lukas war ein lustiger Geselle. Erst neulich hatten wir uns beim Vorspielabend des Knabenchors getroffen. Er hatte mich da sehr zum Lachen gebracht. Der dreimonatlich stattfindende Vorspielabend nämlich war von Herrn Kaiser eingeführt worden, damit jeder einmal zeigen konnte, was er drauf hatte – oder eben nicht drauf hatte. Ich hatte auf der Klarinette nicht viel drauf, aber genug, um mich nicht völlig zu blamieren. Das hatte man von dem Mann mit dem Cello und dem Jungen mit der Geige nicht behaupten können. Wobei: Das Problem war nicht unbedingt mangelhafte Spieltechnik. Das Problem war eher, dass die beiden es nicht für nötig befunden hatten, einmal nachzuprüfen, ob ihre Instrumente auch in der gleichen Tonart spielten.

Oder um es mit Lukas auszudrücken: «Man sollte das Instrument vorher eventuell einmal stimmen.»

Er hatte geklungen wie ein verrückter Professor, der Kindern die menschliche Fortpflanzung zu erklären versucht, ohne dabei ins Fettnäpfchen zu treten. Eine Begebenheit, die mich hatte kichern lassen.

Lukas als Zimmergenossen zu haben, war aber auch schlecht. Er war nämlich kein Mutant und musste somit die Proben wahrnehmen. Die meiste Zeit war ich also allein. Ich vertrieb sie mit Das fünfte Kind, das ich für die Schule lesen musste. Es war jedoch nicht besonders dick. Schnell war ich mit den zweihundert Seiten fertig. Nun blieb mir wirklich nichts weiter übrig, als das Ende des Tages abzuwarten. Einmal mehr brachte eine Reise nur die Erkenntnis, wie toll es doch war, einen Computer zu haben. Warum nur investierte meine Mutter so viel Energie hinein, mich diese Erkenntnis machen zu lassen? Eine Erweiterung meines Wissens stellte das doch nun wahrhaftig nicht dar.

Immerhin, der Sonntag versprach etwas unterhaltsamer zu werden. Uns Mutanten wurde ganz offiziell erlaubt, das Gebiet der Jugendherberge zu verlassen. Das ließen David, Moritz Von Und Zu und ich uns nicht zweimal sagen. Gleich nach der Mittagspause brachen wir auf zu einem Einkaufsbummel in der Möllner Innenstadt.

Die Jugendherberge lag, wie sich das für eine Jugendherberge gehört, am äußersten Rand der Stadt. Bevor wir überhaupt auf eine asphaltierte Straße kamen, mussten wir noch ein kleines Waldstück durchqueren. Das gefiel mir gar nicht schlecht. Bei strahlendem Sonnenschein und azurblauem Himmel fühlte ich mich frei und ungebunden. Zugleich hatte ich zwei Kameraden bei mir, auf die ich mich im Zweifel würde verlassen können. Es war wie in dieser Mission von Codename: Panzers, in der ich mit Oberst Hans von Gröbel und seinen Getreuen in der atemberaubenden Berglandschaft Serbiens auf Partisanenjagd gegangen war.

Das Gefühl ging auf der asphaltierten Straße nicht verloren. Sie war menschenleer. Wir folgten ihr, bis wir zu einer Brücke kamen, die über Bahnschienen führte. Uns rief dann auch sogleich die Ferne.

«Mann, ey, jetzt könnt’ man sich ja theoretisch einfach in den Zug setzen und nach Hause fahren», sagte David.

Dasselbe war mir auch gerade durch den Kopf gegangen.

Auf Läden stießen wir nicht. Zumindest nicht auf welche, die geöffnet hatten. Einzig in einer winzigen Eckkneipe war Leben zu erkennen, wir konnten uns aber nicht für sie begeistern.

«Ey, nee, lass lieber noch ein bisschen weiter in die Stadt reingehen», sagte David, «hier muss doch noch irgendwas anderes offen haben.»

Wir zogen weiter. Doch auch in der Innenstadt war alles verrammelt und verriegelt. Ein steinerner Till Eulenspiegel stand auf einem Brunnen und lachte uns aus. Dazu hatte er allen Grund. Weil nämlich auch der hiesige Karstadt geschlossen hatte, begriffen wir endlich: Es war Sonntag. Und da hatte auch in Hamburg allenfalls die Shell-Tankstelle am Bahnhof Dammtor geöffnet.

Frustriert traten wir den Rückzug an. Wir kamen noch einmal an der Eckkneipe vorbei. Wirklich begeistern konnten wir uns für sie noch immer nicht. Doch sollte dieser Ausflug ja nun nicht völlig umsonst gewesen sein. Wir gingen also hinein.

Der einzige sonstige Kunde hatte den Kopf auf den Tresen gelegt und schlief. Er schien ein Stammgast zu sein. Für sein Wohl sorgte eine zu jung gekleidete Frau mit einer erstaunlichen Zahl an Sommersprossen. Sie blickte uns einige Sekunden etwas verwundert an. Nein, Menschen wie wir waren hier kein häufiger Anblick. Trotzdem fragte sie ganz freundlich: «Wollta was kaufen?»

Ihr Missingsch und ihre Truckerfrau-Stimme waren so entwaffnend komisch, wir konnten nicht anders als schallend zu lachen. Das nahm die Dame jedoch recht gelassen. Während wir noch immer lachten, holte sie Schokoriegel und Weingummi hervor. Wir nahmen, was wir uns leisten konnten, und gingen. Draußen lachten wir immer noch.

«Wollta was kaufen?», sagte David.

Wir johlten.

Wieder in der Jugendherberge angekommen, stolzierten wir mit unserer Beute an der Panoramascheibe des Probenraums vorbei. Der Mann, der unseren Chor jetzt leitete, warf uns einen missbilligenden Blick zu, die Knaben applaudierten.

Bevor wir ins Haus gingen, stellte David mir eine Frage.

«Sag mal, bist du eigentlich ganz alleine in dem Zimmer oben?»

«Öhm, ja –», antwortete ich.

«Ist das nicht ein bisschen langweilig?

«Doch, eigentlich schon.»

«Ja, Mensch, warum kommst du denn nicht zu uns? Du weißt doch, wo unser Zimmer ist.»

In der Tat, das wusste ich. Ich wusste auch, wo in der großen Pause meine Klassenkameraden immer steckten. Ich ging trotzdem nicht zu ihnen. Ich wusste nämlich vor allem, was besser für mich war.

Aber wenn David mich schon so fragte, setzte ich mich natürlich gerne bei ihm und Moritz Von Und Zu ins Zimmer. Es sollte sich für mich lohnen. David lieh mir seinen Gameboy Advance mit Super Mario Land 2. Und so konnte ich heute doch noch endlich Killerspiele spielen. Super Mario Land 2 bot zwar keine Streifzüge durch atemberaubende serbische Berglandschaften, mir aber reichlich Anlass, mich aufzuregen. Sehr zur Freude von David und Moritz Von Und Zu.

«Das ist Murphy’s Law!», sagte ich zum sicher zehnten Mal.

Die beiden kicherten.