Von alten Damen

Perlen von Holstein Folge 89

Juni 2003

Zwei Monate war Herr Kaiser inzwischen der Mann, der unseren Chor jetzt leitete. Kein allzu langer Zeitraum verglichen mit den zwölf Jahren, die Frau Siebenkittel unsere Chorleiterin gewesen war. Er hätte also ruhig noch ein wenig mit dem ersten Auftritt warten können. Doch Einladungen des Michel schlug man nun einmal nicht aus. Natürlich ließ man uns kein ganzes Konzert singen – die paar neuen Stücke hätten es auch gar nicht füllen können. Unsere Aufgabe war es, den sonntäglichen Gottesdienst aufzuwerten. So gesehen war der erste Auftritt des Mannes, der unseren Chor jetzt leitete, zugleich einer im großen und einer im kleinen Rahmen.

Vor allem aber war es ein Auftritt, der Herrn Kaiser nicht allzu viele Möglichkeiten bot, ihm Profil zu verleihen. Gottesdienste waren nun einmal Gottesdienste. Wir sangen Jauchzet dem Herrn alle Welt und Aller Augen warten auf dich, Herre und säuselten dazwischen die heutigen Gemeindelieder. Es war eigentlich wie immer. Star-Gast waren aber auch nicht wir, sondern Bischöfin Frau Maria Jepsen. Sie hielt die heutige Predigt. Deren Inhalt war nicht sonderlich bemerkenswert. Es ging darum, dass wir alle im Verzicht leben und den Armen geben sollten.

Ich hörte schon nach einer halben Minute nicht mehr zu. Meine Gedanken kreisten um einen Satz aus dem Killerspiel No One Lives Forever. ‹Weil es Aufmerksamkeit erregen würde, wenn ich dich erschießen würde.› Eine Äußerung, die vor allem deshalb prägnant war, weil sie von einer etwa sechzig Jahre alten Baroness kam. Sie sagte das zu einem ihrer Leibwächter auf dessen Frage, warum er entlassen sei.

Die Baroness war keine besonders Nette. Zu einem Wachsoldaten sagte sie etwa: «Bringt mir Armstrong hier hoch. Ich möchte einen kompetenten Türwächter hier haben.»

«Das ist nicht nett, sowas zu sagen», erwiderte der somit Geschasste.

Ein Einwand, für den die Baroness wenig Verständnis hatte: «Ist das so? Wenn Sie ihn geschnappt haben, wollen Sie rausgehen und sich erschießen lassen? Da haben Sie wenigstens einen Grund, sich zu beschweren.»

Ja, die Baroness war schon gemein. Deswegen sagte sie ja auch: ‹Weil es Aufmerksamkeit erregen würde, wenn ich dich erschießen würde.› Das sollte einen wohl ein wenig entsetzen, doch das tat es nicht, denn irgendwie klang das doof, zwei Mal ‹würde› in einem Satz. Sie hätte vielleicht besser sagen sollen: ‹Weil es Aufmerksamkeit erregte, wenn ich dich erschösse.› Das wiederum klang aber irgendwie schrecklich gestelzt. Kein Mensch sagte so etwas. Sinnvoller war wohl der Mittelweg, also entweder: ‹Weil es Aufmerksamkeit erregte, wenn ich dich erschießen würde› oder ‹Weil es Aufmerksamkeit erregen würde, wenn ich dich erschösse.› Doch nein, auch das klang blöd. Um diesen Worten wirklich Wirkung zu verleihen, musste man wohl den ganzen Satzbau gründlich über den Haufen werfen. Wie man das am besten bewerkstelligte? Ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Frau Bischöfins Predigt war zu Ende.

Der Gottesdienst war geschafft, doch Herr Kaiser wollte uns noch nicht gehen lassen. Nicht, bevor wir noch ein erstes Chorfoto mit ihm gemacht hatten. Wir begaben uns zu einer Grünfläche. Hier gab es eine breite Treppe aus grauem Stein, die den Betrachter nicht zu sehr vom Michel ablenkte, der deutlich sichtbar dahinter emporragte. Ein ideales Motiv für einen Knabenchor.

Die Fotografin hatte sichtbar gute Laune und war entschlossen, uns damit anzustecken. Zumindest für die Minuten, die brauchte, um uns abzulichten. Als Fotografierter sollte man bekanntermaßen lächeln. Statt jedoch die alte Leier ‹Ameisenscheiße› zu bemühen, versuchte die Dame es mit einem Witz.

«Was heißt Sonnenuntergang auf Finnisch? Helsinki.»

Zwei von den Männern jedoch lachten nicht nur nicht, sie reagierten mit Spott.

«Herr Ober, eine Brechstange! Der Witz klemmt.»

«Haha, Herr Ober, eine Gabel! Zum kitzeln.»

Darüber konnten sie lachen und ich ebenso. Ich wusste sogar, wie sich das fortspinnen ließe: ‹Herr Ober, eine Kurbel! Der Witz springt nicht an.› Ich hielt mich aber zurück. Wozu so etwas führen konnte, hatte ich jüngst in der Klasse erlebt.

Ein Mädchen hatte als Reaktion auf schlechte Witze zwei Sprüche populär gemacht: ‹Holla, die Waldfee, war das witzig›, und: ‹Tick, tick, der Holzwurm klopft.›

Ein Kamerad hatte das ein wenig weitergesponnen: «Ja, ‹Holla, die Waldfee› ist gut. Oder noch besser: ‹Holla, der Waldfuchs.›»

Er hatte Gelächter geerntet.

Für mich ein guter Grund, an ihn anknüpfen zu wollen: «Oder: ‹Holla, der Waldwolf›»

Die Strafe war auf dem Fuß gefolgt.

«Weißt du, Lennart, das ist schon komisch: Irgendwie ist alles, das eigentlich cool ist, bei dir irgendwie voll Scheiße.»

Der Gottesdienst mochte gewöhnlich gewesen sein. Die Reaktion meiner Mutter war es nicht. Kein Wort dazu, wie schön und ergriffen wir wieder gesungen hatten. Stattdessen redete sich über die Predigt von Frau Bischöfin tüchtig in Rage.

«Dass die echt die Chuzpe besitzt, uns zum Verzichten aufzufordern. Die soll ja selbst erst einmal auf ihren Chauffeur verzichten! Wenn ich ja alleine schon immer diese AIDS-Kranken sehe, die beim Michel vor der Tür sitzen. Die Pfaffen müssen die rein bitten, wenn sie Christen sind! Weißt du: Wenn Jesus das da alles sehen würde: diese Souvenir-Shops! Und dass die da Eintritt verlangen! Der würd’ kommen und die alle rausschmeißen. Und dann würde er Frau Bischöfin mit ihrem Chauffeur nehmen und die auch rausschmeißen. Das hat der nämlich damals im Tempel von Jerusalem gemacht, weil die da schon genauso drauf waren wie heute!»

Ich konnte es direkt vor mir sehen: Jesus, wie er die Bischöfin über seinen Kopf stemmte, nach draußen ging und auf das Pflaster schleuderte. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie auf einem mittelalterlichen Wandteppich. Ein Bild für die Götter. Ach, was war das doch immer herrlich, wenn meine Mutter sich über etwas aufregte. Nur zu gerne befeuerte ich sie noch ein wenig.

«Sie predigten Wasser und tranken Wein», sagte ich. Ein von ihr bei allerlei Gelegenheiten zitierter Spruch, auf den sie erwartungsgemäß einging.

«Genau! Das passt zu der Jepsen wie die Faust aufs Auge.»

Nun hatte sie sich über alles aufgeregt, über das man sich im Bezug auf Frau Bischöfin aufregen konnte. Ein neues Thema musste her. Ich wusste schon eins.

«Ein Tschiiiiabatta-Brötchen.»

Es war eine Szene, die sich seit geraumer Zeit jeden Morgen abspielte. Meine Mutter ging zur Bäckerin und kaufte für uns alle Ciabatta-Brötchen. Gebildet wie sie nun einmal war, sprach sie das Wort korrekt italienisch Tschabatta-Brötchen aus. Nur um von der Bäckerin falsch korrigiert zu werden: «Ein Tschiiiiabatta-Brötchen.» Meine Mutter fand das unverzeihlich. Der Müllmann, der jeden Morgen in der Schlange hinter ihr stand, sprach das Wort nämlich ebenso korrekt italienisch aus.

«Also, weißt du: Wenn sogar ein Müllmann das sagt, dann kann man sich ja wohl mal überlegen, ob das nicht vielleicht doch richtig ist», sagte sie häufig.

Meine kleine Schwester hatte sie schon mehrfach darauf hingewiesen, dass die Bäckerin vielleicht gerade deswegen dachte, dass das falsch war. Schließlich konnte die doch genauso Vorurteile gegenüber Müllmännern haben.

Meine Mutter tat mir nicht den Gefallen, sich noch einmal über das Ciabatta-Brötchen und den Müllmann in Rage zu reden. Stattdessen erzählte sie, was sie an ihrem Arbeitsplatz, einer Krankenhaus-Bibliothek, gerade so richtig auf die Palme brachte.

«Weißt du, bei uns im Krankenhaus, da dürfen wir jetzt unsere ganzen Büromaterialien nicht mehr selbst anschaffen, dafür gibt es jetzt eine Abteilung: ‹Strategischer Einkauf›. Und was ‹strategisch› heißt, ist natürlich klar: Die kaufen von allem nur das Billigste. Und was wir von dieser ‹Strategie› haben, sehen wir ja: Gummibänder, die reißen, wenn man sie anguckt!»

Ich konnte es direkt vor mir sehen: Meine Mutter, wie sie ein Gummiband vor sich auf den Tisch legte und mit den Augen fixierte. Die Kamera zeigte abwechselnd das Gesicht meiner Mutter und das Gummiband. Mit jedem Schnitt rückte der Bildausschnitt näher an die Augen meiner Mutter heran, bis zuletzt nur noch die Pupillen zu sehen waren. Das Gummiband riss und ging in Flammen auf. Ein Bild für die Götter. Ach, was war das doch immer herrlich, wenn meine Mutter sich über etwas aufregte.