Das Ende einer Ära

Perlen von Holstein Folge 82

April 2003

Unser letzter Auftritt unter Frau Siebenkittels Leitung fand in St. Johannis-Harvestehude statt. Das konnte man merkwürdig finden. Unsere Stammkirche war schließlich noch immer die Hauptkirche St. Jacobi. Sie war bedeutend größer und immer Schauplatz unserer wichtigsten Konzerte gewesen. Gefüllt hätten wir sie heute wohl mühelos.

Die Entscheidung für St. Johannis mochte aus pragmatischen Gründen gefällt worden sein: Das Gotteshaus lag nur einen Steinwurf vom Gebäude der Jugendmusikschule entfernt. Unsere Heimstätte war also fußläufig zu erreichen. Von St. Jacobi hätte man fahren müssen. Ein fast nahtloser Übergang zur Abschiedsfeier wäre somit nicht möglich gewesen.

Das Innere von St. Johannis war düster, selbst für die Verhältnisse eines Gotteshauses. Schon bei der Generalprobe war der Kirchenraum mit allerlei Leuchtwerk erhellt. Ich rieb mir dennoch die Augen, als wir danach in die Frühlingssonne traten. Architektonisch reizvoll aber war der Turm. Seine achteckige Hauptspitze wurde von vier kegelförmigen Mini-Spitzen umgeben. Sie wirkten auf mich stets wie vier Startraketen, die dem eigentlichen Flugkörper, der achteckigen Hauptspitze, das Abheben erst ermöglichten. Doch schon bald würde er wieder herunterkommen. Wie die Atomrakete in dem Killerspiel Alarmstufe Rot 2.

Das Konzert war erwartungsgemäß überfüllt. Aber nicht nur auf den Bänken, auch auf dem Podest ging es eng zu. Zahlreiche Ehemalige und Fast-Schon-Ehemalige wollten bei Frau Siebenkittels letztem Konzert dabei sein; die letzte Gelegenheit nutzen, noch einmal Frau Siebenkittels Lieder zu singen: Frau Siebenkittels Unser Leben ist ein Schatten, Frau Siebenkittels Sei Lob und Preis mit Ehren, Frau Siebenkittels A Hymn to the Virgin. Der Wunsch war ihnen erfüllt worden. Hinter uns tummelten sich stattliche dreißig Männer. Kein einziger zu viel. Schließlich war es auch unser Unser Leben ist ein Schatten, unser Sei Lob und Preis mit Ehren und unser A Hymn to the Virgin. Wir hatten diese Stücke so lange und so häufig gesungen, dass sie beinahe zwangsläufig Teil unseres Lebens geworden waren. Das galt besonders für uns Knaben, die wir mit diesen Stücken aufgewachsen waren. Man konnte wohl ohne Übertreibung sagen, dass sich unsere persönliche und musikalische Entwicklung an ihnen ablesen ließ. Die Zeiten, in denen ich A Hymn to the Virgin und seinen Komponisten Benjamin Britten gehasst habe, waren lange vorbei. Ebenso die, in denen mir die Koloraturen von Unser Leben ist ein Schatten so unmöglich zu singen erschienen waren.

Das Konzert stand ganz im Zeichen des Abschieds unserer Chorleiterin. Totto liefen bei seiner Rede beinahe die Tränen herunter. Marc sprach ebenso ungewöhnlich persönliche Worte. Zuletzt bat er dann Frau Siebenkittels Nachfolger Ulrich Kaiser nach vorne. Der sah in seinem Anzug kein bisschen mehr wie Referendar aus. Eher wie ein Konfirmand. Marc nannte ihn einen begabten Musiker und würdigen Nachfolger für Brigitte Siebenkittel. Der so Gepriesene bedankte sich mit artigem Lächeln und setzte sich dann ohne viel Aufsehen wieder hin. Es war nicht seine Stunde.

Nachdem der letzte Applaus verklungen war, begaben sich Chor und ein Großteil des Publikums zur Jugendmusikschule. Dort hielt auch Herr Sobirey noch einmal eine Laudatio auf unsere Chorleiterin. Dann trat Marc nach vorne, in der Hand einen Zettel. David, Imanuel, Philipp, Lukas und ich grinsten erwartungsfroh. Wir wussten, was auf ihm stand.

Irgendeine Mutter hatte vor zwei Monaten die Idee gehabt, Frau Siebenkittel zum Abschied eine Mappe zu schenken. Darin: Selbstverfasste Texte von allen Chormitgliedern. Ich hatte nicht lange überlegen müssen, was ich beisteuern würde. Seit jenem Abend in Los Angeles hatte es die Runde gemacht, jenes: «Lenni-Löwe, du kannst nach Hause gehen und deiner Mutter sagen: dass sie fünf Jahre lang das Geld für den Chor aus dem Fenster geschmissen hat, weil du immer noch nicht den Mund aufmachst!» Ich brauchte es eigentlich nur niederzuschreiben. Zusammen mit einer ganzen Reihe anderer hübscher Zitate. Marcs Anfrage, ob er es heute vorlesen dürfe, hatte nicht lange auf sich warten lassen. Kein Zweifel: Mein Geschenk war das beliebteste.

«So», sagte Marc, «auch wenn dies ja eine eher traurige Stunde ist, möchte ich jetzt doch mal zu was Lustigem kommen. Wie Sie ja alle wissen, ist unsere Frau Siebenkittel nie um einen flotten Spruch verlegen. Die meisten von uns lachen einmal darüber und vergessen sie dann gleich wieder. Einer aber hat sie sich gemerkt und für uns aufgeschrieben, nämlich Lenni-Löwe. Natürlich ist es am schönsten, wenn er sie selbst vorliest, denn niemand kann unsere Frau Siebenkittel so schön nachmachen wie er. Möchtest du vielleicht nach vorne kommen und uns das mal kurz demonstrieren?»

Ich schüttelte energisch mit dem Kopf. Ich imitierte unsere Frau Siebenkittel ja für mein Leben gerne, aber doch nicht vor Hunderten von Leuten.

«Kein Problem, Lenni-Löwe, dann mache ich das. Also: ‹Opa David, jetzt setz dich hin, das geht ja wohl auch einmal ohne das ganze Geluder.»

Kein besonders altes Zitat. Frau Siebenkittel hatte das vor einigen Wochen gesagt. Wir hatten einen großen Kreis im Probenraum bilden sollen und jeder im eigenen Tempo singen sollen. Jeder für sich, wie unsere Chorleiterin dieses Spiel noch immer nannte. Den Weg zurück zu unseren Stühlen hatten einige genutzt, um ein wenig Probenzeit zu schinden. David jedoch hatte es auf die Spitze getrieben. Mit frivolem Grinsen und gewaltigem Lärm war er durch den Raum geschlurft. Frau Siebenkittel hatte das aber als Gelunder bezeichnet, nicht als Geluder. So stand es auch auf dem Zettel. Zwar war Gelunder ein Wort ohne Bedeutung, doch wer Frau Siebenkittel kannte, wusste, was gemeint war. Außerdem las Marc Frau Siebenkittels Worte vor, als entstammten sie irgendeinem Buch. Aber, was sollte es: Die Leute lachten schallend und das war wohl das Wichtigste.

Elfeinhalb Jahre war Frau Siebenkittel Leiterin dieses Chores gewesen. Für sie als Frau in den besten Jahren mochte das ein zu überblickender Zeitraum sein, mir erschien das unvorstellbar lang. Für mich waren ja schon die sieben Jahre, die ich inzwischen hier war, viel. Mein halbes Leben sang ich jetzt schon im Knabenchor. Eines stand fest: Auch wenn mir die Proben wohl niemals Spaß machen würden, auch wenn ich meine Mitgliedschaft hier besser für mich behielt, austreten würde ich nicht. So lange bei etwas dabei zu sein war schließlich etwas, auf das man stolz sein konnte. Ich würde hier bleiben, alleine schon, weil ich bereits so lange hier war.

Was aber diese Veranstaltung anging, befanden meine kleine Schwester und ich, dass es Zeit zum Gehen sei. Sie hatte noch einige unglaublich wichtige Hausaufgaben zu erledigen. Ich hatte einen Computer, der zuhause auf mich wartete, und bestimmt ebenfalls Hausaufgaben auf. Meine Mutter gab unserem Drängen schließlich nach. Durch einen Hintereingang beim Treppenhaus schlichen wir nach draußen. Uns noch einmal persönlich von Frau Siebenkittel verabschieden mussten wir nicht. Für uns Knaben war es ohnehin nur der vorletzte Auftritt mit Frau Siebenkittel gewesen.