End of the Line

Perlen von Holstein Folge 76

Am nächsten Morgen setzte sich Philipp im Bus neben mich, um mir etwas zu zeigen.

«Hier, guck mal, Lenni-Löwe.»

Er holte das Killerspiel RollerCoaster Tycoon aus seinem Rucksack hervor.

«Oh, cool!», sagte ich.

«Kennst du das?»

«Klar kenne ich das. Das haben mein großer Bruder und ich vor drei Jahren die ganzen Sommerferien lang gespielt.»

Die Verpackung von RollerCoaster Tycoon war ähnlich aufgemacht wie die von Battlefield 1942. Es handelte sich also um eine amerikanische Originalversion. So gesehen war Philipp nun mit mir gleich auf. Natürlich war er das nicht, denn sein Killerspiel war drei Jahre alt. Sowas heute noch zu spielen war ja wohl megapeinlich. Außerdem war es vollkommen gewaltfrei, zumindest prinzipiell. Mit Achterbahnunglücken war das schließlich so eine Sache: Manchmal geschahen sie einfach, manchmal hatte man irgendwie Lust gehabt, sie sozusagen mutwillig herbeizuführen.

«Wo hast du das her?», fragte ich.

«Hast du noch nicht gesehen? Gegenüber vom Motel ist ein Target!»

Ich blickte aus dem Fenster: Tatsächlich, keine zwanzig Meter von uns entfernt gab es einen Target. War ich also umsonst in San Francisco und San Diego mit Annika in die Ferne zu irgendwelchen Modeläden geschweift. Hier in Chicago war das Gute ganz nah. Ich hätte nur geduldig bis zum letzten Tag der Reise warten müssen. Der Kauf von Battlefield 1942 wäre für meine Schwester eine Sache von einer Viertelstunde gewesen.

Ob das für sie wohl ausreichend kurz gewesen wäre, sich darauf einzulassen? Ich wagte es zu bezweifeln. Wäre Löning nicht gewesen, ich wäre wohl tatsächlich ohne Killerspiel wieder nach Hause geflogen.

Die Concordia Lutheran Church war der Größe Chicagos nicht angemessen: Ein Gotteshaus von eher unterdurchschnittlichen Ausmaßen. Sie war überdies aus rotem Backstein gebaut und nicht sonderlich prunkvoll. Welchen Grund das hatte, war offensichtlich: Anders als die St. Patrick’s, die St. Paul’s und die Grace Cathedral war das hier nicht die bedeutendste Kirche der Stadt. Und ausgerechnet hier sollte unsere Amerika-Tournee ihr großes Finale erleben.

Das Format der Kirche war jedoch nicht das eigentliche Problem, sondern die Orgel. Sie war kaputt. Das gesamte tiefe Register funktionierte nicht. Unser Organist Jünne versuchte sein Bestes, doch so konnte er nicht arbeiten. Er behalf sich schließlich mit einem Klavier.

Frau Siebenkittel versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch es war deutlich zu merken: Auch sie hatte sich unseren letzten Auftritt auf amerikanischem Boden anders vorgestellt. Dabei hatte er noch nicht einmal begonnen.

Als es endlich soweit war, herrschte im Kirchenschiff gähnende Leere. Annika, Andrea, die mitgereisten Choreltern und den Busfahrer einmal ausgenommen, saßen dort zwanzig, maximal dreißig Leute. Sie waren aber immerhin so nett gewesen, sich vorne in den vorderen drei Reihen dicht zusammenzukuscheln. So entstand zumindest ein den Eindruck, dass man sich auch hier um uns reißen würde.

Es war aber dennoch gut, dass die Atmosphäre eines Wirf dein Anliegen auf den Herrn oder Unser Leben ist ein Schatten keine volle Kirche und keine heile Orgel brauchte. Es dauerte nicht lange und die Zuhörer hatten jene selige Augen, die für die Menschen in diesem Land so typisch waren. Nur zu gerne sangen wir für sie zum letzten Mal unser Abschiedslied, den Irish Blessing von Bob Chilcott.

«Ma-ay Go-od hold you! May God ho-old you! Ever in the Pa-alm of his ha-a-and.»

Ich liebte diese Stelle. In meinem Kopf kehrten dabei Helden des Fantasy-Killerspiels The Legend of Shaismonthos alle in ihr jeweiliges Heimatdorf zurück. Das Abenteuer war überstanden und hatte ihnen Freunde fürs Leben beschert. Nun konnten sie in Frieden alt werden.

Der Applaus war tosend, ohne bemüht zu wirken. Die zwanzig Zuschauer waren wirklich ganz aus dem Häuschen. Auch unser Busfahrer war begeistert. Auf dem Rückweg zum Motel improvisierte er für uns ein kleines Ständchen.

«– you have sung just great mu-usic!»

Es war ein herrlicher letzter Abend.

Am nächsten Tag sollten wir zurück nach Hamburg fliegen, doch es bestand kein Grund zur Eile. Erst am Abend würden wir uns am Chicago O’Hare International Airport einfinden müssen. Es wurde von Seiten Marcs lauter darüber nachgedacht, ob die Zeit wohl noch ausreichte, auf den Sears Tower zu gehen. Dieser war nicht nur deutlich höher als das Empire State Building, er war auch höher, als es das World Trade Center gewesen war. Genau genommen war er mit 527 Metern das höchste Gebäude der Welt. Ich fragte mich, warum ich noch nie von ihm gehört hatte. Dank des Killerspiels Alarmstufe Rot 2 kannte ich doch alle wichtigen amerikanischen Gebäude. Die meisten von ihnen hatte ich auch schon mindestens einmal von meinen Mannen in Schutt und Asche legen lassen.

Wir fuhren aber letztlich doch nicht zum Sears Tower. Ich war froh darüber. Die 320 Meter des Empire State Buildings hatten meiner Höhenangst schon genügt.

So verbrachten wir den Tag an verschiedenen, niedriger gelegenen Orten. Sie boten ausreichend Gelegenheit, Philipp noch ein paar Male seine beiden Lieblingszitate aus dem Gamestar vorzulesen.

«‹Gewöhnungsbedürftiger 3D-Bastelbogen-Look mit kunterbunten Farben.› – ‹Necromania blamiert sich schon nach wenigen Spielminuten als grottenhässlicher, sterbenslangweiliger Spielspaßkiller.›»

Einige Stunden später saßen wir dann alle im Bauch einer Boeing der United Airlines. Wir waren müde und hofften, auf diesem Nachtflug Schlaf finden zu können. Eine Stewardess platzte herein, eine Teekanne in der Hand.

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Nun waren wir alle wieder wach und um einen Lacher reicher.

Acht Stunden dauerte der Flug. Zum Schlafen war die Zeit theoretisch also ausreichend. Doch die trockene Luft, der Motorenlärm und die Notbeleuchtung ließen mich nur zwei Stunden Ruhe finden. Den Rest des Fluges döste ich. Doch war das egal. Von den Herbstferien waren noch vier Tage übrig. Ich würde genug Gelegenheit haben, mich vom Jetlag zu erholen. Und um Battlefield 1942 zu spielen.