New Boys Choir Hamburg in Concert

Perlen von Holstein Folge 65

Unser Frühstück nahmen wir nicht im YMCA zu uns, sondern in einer etwas heruntergekommenen Frühstücksbäckerei. Marc wies die jüngeren Knaben ein.

«Okay, wenn der Mann hinter der Theke euch fragt, was ihr haben wollt, dann sagt ihr: ‹One bagel with cream cheese and orange juice, please!›. Es sei denn, ihr wollt Kakao haben, dann sagt ihr: ‹One bagel with cream cheese and cacao, please!›. Verstanden?»

Es kam, wie es kommen musste.

«Wann bäigell wiss kriem-tschieß änd orändsch-dschuß, pließ!»

Der Mann hinter der Theke nahm’s gelassen. Es bestellten sowieso alle das Gleiche. Und viel lustiger als die englische Aussprache der Knaben war sowieso Marcs Angewohnheit, statt Kakao immer Kaukau zu sagen.

Weil der Platz in der Bäckerei hinten und vorne nicht reichte, nahmen wir an den Außentischen Platz. Kaum hatten wir uns hingesetzt, wehte der Wind meine Serviette auf den Boden. Ich machte keine Anstalten, sie aufzuheben. In der Schule hatte ich gelernt: Seinen Müll aufzuheben war peinlich. Peinlicher noch als ein Killerspiel zu spielen, das ohne Altersbeschränkung freigegeben war.

Doch: Andere Länder, andere Sitten.

«Leo, is that your stuff lying on the floor?», sagte Annika.

«Ähm, ja –», erwiderte ich.

«Well, you should better pick it up right now. When a police officer sees it, you must pay fifty dollars.»

Ach, deshalb war hier alles pieksauber, obwohl es weit und breit keinen öffentlichen Mülleimer gab. Ich hob die Serviette dennoch rasch auf. Meine fünfzig Dollar wollte ich doch lieber in Battlefield 1942 angelegt wissen.

Nach dem Frühstück stand Sightseeing auf dem Programm. Wir schlenderten über die Streets und Avenues zum Ground Zero. Hier hatten noch vor rund einem Jahr die Türme des World Trade Centers gestanden. Daran erinnerte nicht viel, um nicht zu sagen: Überhaupt nichts. Der Ground Zero war nichts weiter als ein rechteckiges Loch, das von einem Bauzaun umgeben war. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte ihn für eine in der Entstehung begriffene Tiefgarage oder U-Bahnhaltestelle gehalten.

Dennoch herrschte andächtiges Schweigen, als wir uns endlich einen Platz in der ersten Reihe erkämpft hatten.

Danach wurden wir in Patengruppen aufgeteilt. Ich hoffte, nun endlich mit Annika meinen dringenden Einkauf erledigen zu können. Daraus wurde leider nichts. Annika zog es vor, mit Frau Siebenkittels Tochter Andrea und einigen Männern in eine Gruppe zu gehen. So geriet ich an Frans, Max-Frederick und ihren Vater Norbert, einen eher handfester Typen mit Glatze und teurem Mantel. Ich brauchte ihn gar nicht erst zu fragen, ob er mir meinen sehnlichsten Wunsch erfüllte. Er würde sowieso nein sagen.

Außerdem hatten wir doch gar keine Zeit. Im mittleren Gewaltmarschtempo scheuchte Norbert uns den Bürgersteig entlang. Wo er eigentlich hinwollte, konnte oder wollte er uns nicht sagen. Er selbst schien es aber sehr genau zu wissen.

Immerhin: An roten Ampeln machte Norbert halt. Alles andere wäre in dieser Stadt wohl auch ziemlich töricht gewesen. Ich nutzte die Verschnaufpause, um mich ein wenig umzusehen. Alles war riesengroß: Die Häuser, die Fahrbahnen, die Bürgersteige, die Leuchtreklamen, die Menschenmengen. Den Ausdruck klein schien man hier überhaupt nicht zu kennen. Ich begriff nun, warum Hamburg im Killerspiel Microsoft Flight Simulator für Windows 95 nicht mehr als eine Wiese mit Startbahn gewesen war. Den Amerikanern musste unsere Stadt schlicht so vorkommen.

«Jetzt komm, Lenni-Löwe», fuhr Norbert mich an.

Die Ampel zeigte inzwischen grün oder eigentlich weiß. Ein gehendes weißes Männchen, um genau zu sein. Der Gewaltmarsch konnte weiter gehen. Einige hundert Meter später waren wir an Norberts Ziel angekommen: einem Burger King.

Norbert stellte sich mit uns vorne an und fragte nacheinander, was wir wollten. Als ich an der Reihe war, hatte ich mich noch nicht entschieden. Daran sollte sich auch in den folgenden zehn Sekunden nichts ändern.

Nobert drängte: «Na los jetzt, Lenni-Löwe, was willst du?»

Nun wurde es mir allmählich zu bunt.

«Just fries and a coke, please», sagte ich zu der Frau an der Kasse.

Die verstand mich jedoch nicht. Norbert fragte mich nicht noch einmal, sondern bestellte einfach irgendetwas.

Zum Hinsetzen war keine Zeit, Norbert wies uns an, im Gehen zu essen.

«Und machte bitte schnell, der Busfahrer sieht es bestimmt nicht gerne, wenn ihr während der Fahrt esst!»

Ich versuchte gar nicht erst, gleichzeitig zu essen und mit Norbert Schritt zu halten. Frans und Max-Frederick gelang das fünfzig Meter lang irgendwie, dann machten auch sie schlapp. Norbert blieb nichts anderes übrig, als sich unserem Tempo anzupassen.

Wir waren dennoch als erstes beim Bus. Er sollte uns zu unserem Auftritt in der St. Patrick’s Cathedral bringen. Diese lag ebenfalls in Manhattan. Der Grund, dass wir dort nicht zu Fuß hingingen, war so einfach wie pikant: Wir mussten noch unsere Chorkleidung anziehen und die Zeit reichte nicht aus, das in der Kirche zu tun.

Während der Bus nun also durch die belebten Straßen kurvte, rissen wir uns die Kleider vom Leib. Zwar waren die Vorhänge zugezogen, doch so ganz wohl war mir bei der Sache nicht. Das Problem waren ja nicht die Menschen da draußen – die sah ich sowieso nie wieder – das Problem waren die Menschen hier drinnen. Ich verkroch mich in die hinterste Ecke meines Sitzes und versuchte, von niemandem gesehen zu werden.

Imanuel hingegen zog es vor, sich im Feinrippunterhemd auf den Gang zu stellen. Die Strafe folgte auf dem Fuß.

«Imanuel, wenn du dir nicht sofort etwas über dieses Unterhemd ziehst, dann kotz’ ich!», sagte Klaas.

Die St. Patrick’s Cathedral sah genauso aus, wie man sich eine Kathedrale vorstellte, also wie die im Killerspiel Serious Sam: The Second Encounter. Will heißen: Sie wirkte älter als sie war, älter als sie überhaupt sein konnte. Mit ihrem graubraunen Mauerwerk, ihren mandalaartigen Fenstern und ihren Wappen über den Portalen schien sie dem finstersten Mittelalter entsprungen zu sein. Sie passte damit natürlich nicht so richtig ins Stadtbild – sah man jetzt einmal davon ab, dass auch sie groß war. Doch war das womöglich so gewollt.

Die Bedingungen bei unserem Auftritt hier waren denkbar ungünstige. Wir sangen nicht vor einem Publikum im eigentlichen Sinne, vor einer großen Gruppe Menschen also, die von Anfang bis Ende still lauschten. Die meisten Leute rannten herein und heraus, wie es ihnen passte. Manche setzten sich hin und verweilten ein wenig. Viele aber zückten nur kurz Fotoapparat oder Videokamera und verschwanden dann wieder. Sie hielten es nicht einmal für nötig, die Pause zwischen den Stücken abzuwarten.

Ob das der Grund war, dass ich mit unserer heutigen Leistung so überhaupt nicht einverstanden war? Ich hörte, wie um mich herum an falschen Stellen eingesetzt wurde, Konsonanten klapperten, lange Noten nicht bis zum Ende ausgesungen wurden.

In der Probe würde sich Frau Siebenkittel uns jetzt wohl daran erinnern, dass derartige Fehler eigentlich überhaupt nicht gemacht werden durften. ‹Das sind alles Basics!›, würde sie sagen. Ihr momentaner Lieblingsspruch.

War es so? Waren wir schlechter geworden? Oder hatten wir all diese Fehler schon immer gemacht und ich hatte es schlicht nicht gehört, es nicht hören können oder wollen? Ich war mir irgendwie nicht ganz sicher. Die Zeiten, in denen ich uns für den mindestens besten Knabenchor der Welt gehalten hatte, waren lange vorbei. Gut aber waren wir, so viel stand fest. Andererseits war ich hier seit über sechseinhalb Jahren Mitglied. Ich konnte wohl behaupten, ein recht geschultes Gehör zu haben.

Ich fand keine Antwort. Zumindest keine, die mich zufriedenstellte. Der Auftritt war bald vorbei und wir wurden von Frau Siebenkittel – selbstverständlich – über den grünen Klee gelobt.