O Mensch, bewein dein Sünde groß

Perlen von Holstein Folge 61

April 2002

Das Spektakulärste an der diesjährigen Aufführung der Matthäus-Passion im Michel war ohne Zweifel der Inhalt meiner Schaulandt-Tüte: Renegade.

Seit zwei Monaten besaß ich nun schon einen Computer, auf dem auch aktuelle Killerspiele liefen und nicht nur welche, die fünf Jahre alt waren. Bislang hatte ich diese über Klassenkameraden beziehen müssen. Heute aber hatte das Geld von Oma und Opa endlich ausgereicht, mir selbst eines kaufen.

Zehn Minuten noch, dann würden wir einziehen müssen und, ich konnte einfach nicht länger widerstehen. Ich musste sie mir einfach noch einmal ansehen, diese herrliche Verpackung, dieses wunderschöne Gebilde aus Hartplastik und Hochglanzpapier.

Ich öffnete meinen Rucksack und zog die Tüte mit dem Spiel hervor. Ich beließ es darin – was ging die anderen mein Renegade an? Im Licht der Deckenlampen konnte ich auch so erkennen, was auf der Verpackung stand.

«Absoluter Angriff – Kämpfe in der Perspektive der ersten oder der dritten Person.»

Das klang doch schon einmal sehr verheißungsvoll. Wie freute ich mich schon auf heute Abend, wenn ich die Chorkledage in die Ecke schmeißen und mir den guten alten Schlafanzug überziehen konnte. In ihm spielte es sich noch immer am besten.

Wir wirkten dieses Jahr noch bei einer zweiten Aufführung der Matthäus-Passion mit. Sie fiel ziemlich aus dem Rahmen. Zunächst einmal fand sie nicht im Michel statt, sondern in der Laeiszhalle. Dann wurde sie nicht von Herrn Schoener dirigiert, sondern von Herrn Schönheit. Schließlich wirkten wir dieses Mal noch nicht nur beim ersten Satz mit, sondern auch beim Finale des ersten Aktes: O Mensch, bewein dein Sünde groß.

Die Laeiszhalle war Hamburgs erste Adresse, wenn es um klassische Musik ging, man aber deswegen nicht gleich in die Oper rennen wollte. Ein prachtvoller Konzertsaal von gewaltigen Ausmaßen, ein Michel in Kastenform. Rot waren der Teppich und die Polster der Bestuhlung. Goldfarben waren die Schnörkel an Emporen und Decken und Wänden und über der Orgel. Goldfarben waren auch die aufgemalten Hände, die einem auf den Fluren den Weg zur Toilette wiesen.

Ich kannte das Bauwerk schon seit Kindestagen. Mein Vater war mit meiner kleinen Schwester und mir hier immer zum Kinderkonzert der Hamburger Symphoniker gegangen. Ein vierteljährlich stattfindendes Spektakel, bei man sich alle Mühe gegeben hatte, Klassik als etwas zu präsentieren, das sie nicht war.

Selten, nur in absoluten Ausnahmefällen eigentlich, war ein Werk je vollständig gespielt worden. Meist hatte man sich die unterhaltsamsten Passagen herausgepickt und sie immer wieder wiederholt. Im Falle des Largos aus dem Winter der Vier Jahreszeiten so oft, dass es mir noch heute zu den Ohren heraushing.

Hauptattraktion war aber nicht die Musik, sondern der Moderator gewesen. Immer hatte er einen flotten Spruch auf Lager gehabt. Und für die von ihm erdachten Melodietexte hatte meist gegolten: Zu dämliche Reime gibt es nicht. Hatte er uns dann in die wohlverdiente Pinkelpause entlassen, hatte es immer Langnese Eiskonfekt gegeben.

Meiner Schwester und mir hatte das immer sehr gefallen. Mein Vater aber hatte nach drei Jahren die Schnauze voll gehabt. Wir waren nie wieder hingegangen.

Seitdem war ich sporadisch immer mal wieder in der Laeiszhalle gewesen. Zuletzt mit meiner Mutter zu einem Konzert des von ihr so hoch geschätzten Thomas Quasthoff. Ich war sogar einmal im Großen Saal aufgetreten, mit der Musikalischen-Früherziehungs-Gruppe meiner Flötenlehrerin.

Das war freilich zu lange her, um sich im Backstage-Bereich des Gebäudes irgendwie auszukennen. Auch sonst wusste kein Knabe so recht, wo wir lang mussten. So irrten wir im langen Gänsemarsch über Treppen und durch Korridore. Schließlich stießen wir auf Totto, der sich schon gefragt hatte, wo wir so lange geblieben waren. Er wies uns an, jetzt einfach direkt über die Bühne zu gehen. Unser Aufenthalts- und Probenraum befand sich auf der anderen Seite.

Auf der Bühne war die Generalprobe gerade in vollem Gange. Links von unserer Marschroute befand sich das Orchester, der Dirigent und die Solisten, rechts der Chor.

«Welchen wollt ihr unter diesen zweien, den ich euch soll losgeben?», sang ein Bass.

«Sie sprachen», ein Tenor.

Ich konnte gerade noch denken: ‹Na, was kommt jetzt?›, da brach er über uns herein, der Klang-Tsunami.

«Barrabam!», sangen die rund hundert Menschen des Chors alle gleichzeitig. Was heißt sangen? Sie schrien vielmehr, jeder seinen eigenen schrillen Ton.

Es erwischte mich dermaßen eiskalt, dass ich um ein Haar in die Oboisten gestürzt wäre. Ich fand das Gleichgewicht aber gerade noch rechtzeitig wieder. Das Gelächter, das bereits unter den Knaben hinter mir ausgebrochen war, erfasste nun auch mich. An geordnetes Geradeausgehen war damit endgültig nicht mehr zu denken. Nur mit Mühe gelang es uns, den Bühnenausgang zu erreichen, ohne alles umzustoßen.

Ähnlich heiter ging es zu, als wir dann zur Generalprobe dazu stießen.

Herr Schönheit hieß zwar so ähnlich wie Herr Schoener, war als Mensch aber vollkommen anders. Er begrüßte uns nicht, er brachte nicht seine Freude über unsere Anwesenheit zum Ausdruck. Er begann vielmehr wild mit den Armen zu rudern, kaum dass wir unsere Plätze eingenommen hatten.

Rudern war wirklich der einzig treffende Ausdruck für seine Art zu dirigieren. Er zeigte den Grundschlag mit durchgängigen Kreisbewegungen. Sie waren kraftvoll, schnell und voll feuriger Leidenschaft. Als würde er zwei Flegel in den Händen halten und die feste Absicht haben, jemanden mit ihnen umzubringen. Unterbrochen wurde diese Bewegung nur, wenn er deutlich hörbar seine Noten umblätterte oder irgendeinen Fehler bemerkt hatte. Dann fixierte er den Übeltäter mit Taktstock und dem Weiß seiner Augen und schnaubte, fauchte, stöhnte oder brüllte ihm etwas Verächtliches zu.

Als er schließlich mit einer wütenden Handbewegung sein Notenpult vom Podest katapultierte, gab es für uns endgültig kein Halten mehr. Wir lachten hemmungslos. Das war Herrn Schönheit reichlich schnurz. Er wuchtete das Pult zurück an seinen Platz und dirigierte weiter, als wäre nichts gewesen.

Das Konzert am nächsten Tag ging mit einem schweren Belastungstest einher. Wir sangen wie gesagt dieses Mal nicht nur den ersten Satz, sondern auch das Finale des ersten Aktes mit. Dazwischen lag rund eine Stunde. Eine Stunde, in der wir nichts zu tun hatten. Uns in dieser Zeit nach draußen gehen lassen, konnte und wollte man nicht. Wir mussten also solange stillsitzen und gegebenenfalls genießen.

Erschwerend kam hinzu, dass man uns nicht wie sonst hinter oder über dem Erwachsenenchor positioniert hatte. Wir saßen hintereinander in Viererreihen in der Mitte des Orchesters. Eine denkbar exponierte Lage.

Den Versuch zu ergründen, was meine Mutter so ergreifend an der Matthäus-Passion fand, hatte ich längst aufgegeben. Ich lehnte mich zurück und ergab mich der gediegenen Langeweile. Immerhin, einen erhellenden Augenblick gab es.

«Ich will be-ei me-einem Jeee-e-e-esu wa-a-achen», sang der Tenor. Er tat es mit so viel Swing, dass man sich fragte, wann er sich den imaginären Hut zurechtrücken würde. Ich hätte am liebsten mitgewippt. Natürlich hielt die Freude nicht lange an. Wenige Takte später ging es schon wieder los, das erbarmungslose Herummodulieren. Aber immerhin, einen erhellenden Augenblick hatte es gegeben.

Ein Knabe drei Reihen vor mir wusste das nicht zu würdigen. Genüsslich schmökerte er in seinem Lustigen Taschenbuch. Wäre jetzt Probe und Frau Siebenkittel würde ihn dabei erwischen, es würde wie folgt ablaufen: Sie würde auf ihn zugehen, mit der linken Hand weiterdirigieren, mit der rechten Hand nach dem Buch greifen und es gegen die Wand pfeffern. Wie sie jetzt im Konzert reagieren würde, wenn sie nur könnte, wollte ich mir gar nicht ausmalen.

Natürlich, wenn man es nüchtern betrachtete, war der Einfluss auf das Konzerterlebnis der Besucher gering. Die meisten Leute würden den Gegenstand auf dem Schoß des Knaben wohl kaum ausmachen können. Entweder sie saßen zu weit weg oder sie saßen auf den Rasiersitzen, wie Opa Max die Plätze der ersten Parkettreihe genannt hatte. Dort konnte man froh sein, wenn man außer dem Dirigenten überhaupt etwas sah. Blieben die Menschen in den vorderen Logen. Von denen hatten einige das Lustige Taschenbuch bestimmt bemerkt. Ob sie sich davon aber den teuren Konzertnachmittag verderben lassen wollten? Ich bezweifelte es irgendwie.

Doch seit wann interessierte sich irgendjemand für nüchterne Betrachtungsweisen?

Dem Auftritt folgte eine riesige öffentliche Standpauke. Besonders Totto war außer sich.

«Das ist das gleiche, was ich neulich in der Oper erlebt habe und da habe ich mich auch beschwert, dass da während der Arie der Trommler seinen Spiegel ausgepackt hat!»

Nach einer geeigneten Strafe musste man nicht lange suchen. Seit zwei Jahren bekamen wir Knaben Geld für die Matthäus-Passion. In den letzten beiden Jahren fünf Mark, seit diesem Jahr drei Euro. Auf dieses Geld würde der Junge nun verzichten müssen.

Dafür hatte er, wie man so hörte, aber durchaus Verständnis.

Zwei Monate später hatten wir einen Auftritt in der Hauptkirche St. Petri. Mitten im Sei Lob und Preis mit Ehren begann ein Handy zu klingeln. Es befand sich in der Tasche einer Jacke in der ersten Zuschauerreihe. Die Jacke gehörte aber keinem Zuschauer, sie gehörte Totto. Der überlegte nicht lange. Er schob die vor ihm stehenden Knaben bei Seite, rannte vom Podest herunter, griff sich die Jacke und stürmte durch den Mittelgang nach draußen.

Frau Siebenkittel ließ sich nichts anmerken, wir wussten trotzdem: Sie war stinksauer. Der Einfluss, den dieser Vorfall auf das Konzerterlebnis der Besucher gehabt hatte, war enorm gewesen. Da half auch keine nüchterne Betrachtungsweise.

Eine öffentliche Standpauke blieb aus. Totto blieb verschwunden, wahrscheinlich war er schon nach Hause gefahren. Nach einer geeigneten Strafe musste Frau Siebenkittel aber ohnehin nicht lange suchen.

«Dass das klar ist: Für die Aktion gibt Totto euch allen ein Eis aus!»

Dafür hatte Totto kein Verständnis. Vielleicht war Frau Siebenkittels Ankündigung auch nichts weiter als eine leere Drohung gewesen. Seit wann wurden denn Erwachsene bestraft? Ein Eis bekamen wir alle jedenfalls nicht.

Ich regte mich nicht darüber auf. Ich hatte seit einigen Wochen völlig andere Sorgen.