Unerhört durchsetzungsschwach

Perlen von Holstein Folge 60

März 2002

«Jannik, jetzt komm doch mal bitte aus deinem Schrank raus.»

Ulrich war einer, der wusste, wie man Lehrer und Angehörige verwandter Berufsgruppen zur Weißglut treiben konnte. Er war ihnen gegenüber nämlich nicht einfach nur konsequent unverschämt. Er war es in einer solch charmanten Weise, dass man einfach über ihn lachen musste. Ob man ihn nun eigentlich mochte oder nicht. Zudem besaß er ein unglaubliches Gespür für Timing. Er war wie dieses kleine Männchen, das im Computer saß und ihn immer dann abstürzen ließ, wenn es gerade am allerwenigsten sein durfte. Wenn man nach fünf Wochen und zweitausend Versuchen in einem Killerspiel endlich dieses blöde Vieh zur Strecke gebracht hatte, beispielsweise.

«Jannik, jetzt komm aus deinem Schrank raus.»

«Bei der nächsten Übung», hatte Frau Siebenkittel einmal gesagt, «summt ihr den letzten Ton mal bitte so lange, wie ich dirigiere. Wenn einer keine Luft mehr hat, darf er atmen, aber nicht, wenn jemand anders es auch gerade tut. Ich möchte, dass keine Löcher entstehen.»

So war es geschehen. Frau Siebenkittel hatte dirigiert, wir hatten gesummt, keiner hatte geatmet, wenn ein anderer es gerade ebenfalls tat.

«Jannik, jetzt komm endlich aus deinem Schrank raus!»

Das Lächeln im Gesicht unserer Chorleiterin war mit jedem Takt strahlender geworden. Sie war fürwahr hochzufrieden gewesen. Doch dann, im Augenblick ihrer höchsten Glückseligkeit, hatte Ulrich den von ihn gesummten Ton langsam nach unten schmieren lassen. Es hatte geklungen wie mein alter Kinder-Kassettenrekorder, wenn mal wieder die Batterien leer gewesen waren. Ein in dieser Situation einfach nur urkomischer Effekt.

Die gesamte zweite Reihe war in Gelächter ausgebrochen.

Frau Siebenkittel, wieder ganz die Dompteuse unseres Chors, hatte wütend die Arme gehoben.

«Nein, Nein!», hatte sie gebrüllt.

Ausgeschimpft oder gar bestraft hatte sie Ulrich aber nicht.

«Jannik Schuett – jetzt komm endlich aus deinem Schrank raus!»

Das nämlich war es eigentlich, was Lehrer und Angehörige verwandter Berufsgruppen an Ulrich verzweifeln ließ: Drohungen und Strafen schreckten ihn nicht. Einmal hatte er einen Organizer mit zur Probe gebracht. Er hatte ihn wohl als Prämie für irgendein Zeitschriftenabo erhalten. Pünktlich zum regulären Pausenbeginn hatte das Gerät zu piepen begonnen, begleitet von Ulrichs erwartungsvollem Grinsen.

Frau Siebenkittel jedoch hatte nicht mit sich verhandeln lassen: «Wenn du das noch einmal machst, dann machen wir gar keine Pause.»

Ulrich hatte keine Miene verzogen.

«Und du musst fegen!», hatte sie hinzugesetzt.

Ulrich hatte noch immer keine Miene verzogen. Da hatte Frau Siebenkittel einfach weitergeprobt.

Ulrich war jedoch seit heute nicht mehr der einzige, der unserer Chorleiterin erfolgreich Paroli bot.

«Jannik Schuett – jetzt komm endlich – aus deinem Schrank raus!», brüllte sie zum heute sicher zehnten Male.

Jannik verzog keine Miene. Vor allem aber machte er keine Anstalten, endlich aus seinem Schrank herauszukommen. Dieser bestand aus seiner Chormappe. Jannik hatte sie aufgeklappt, auf seinen Schoß gestellt und die Arme um sie gelegt. Ein Anblick, für unsere Chorleiterin schlicht nicht zu ertragen war.

«Jannik Schuett – jetzt komm – endlich – aus deinem Schrank – raus!»

Jannik verzog keine Miene. Und setzte sich damit selbst ein Denkmal.