Ein folgenreicher Tag

Perlen von Holstein Folge 56

Es war ein ganz gewöhnlicher Dienstag, an dem etwas ganz und gar Ungewöhnliches passierte. Kurz vor Ende der Probe klingelte Frau Siebenkittels Handy. Wir wussten sofort: Es musste sich um etwas Wichtiges handeln. Das Handy unserer Chorleiterin klingelte nicht einfach so. Sie umgab sich schließlich nur mit drei Arten von Menschen:

  1. Menschen, die mit ihr in diesem Raum saßen oder früher einmal gesessen hatten.

  2. Menschen, die Menschen kannten, die mit ihr in diesem Raum saßen oder früher einmal gesessen hatten.

  3. Menschen, denen aus anderen Gründen bekannt war, dass Frau Siebenkittel jetzt Probe hatte und Anrufe tabu waren.

Deshalb hatte sie ihr Handy wohl auch nicht abgeschaltet.

«Was, ehrlich?», sagte unsere Chorleiterin, «Na gut, dann bis später.»

Sie legte das Handy auf den Tisch und kniff irritiert das Gesicht zusammen.

«Andrea meint, in New York ist ein Haus eingestürzt», sagte sie.

Niemand von uns wusste etwas dazu zu sagen. Es war ohne Zweifel tragisch, wenn ein Haus zusammenstürzte. Das war doch aber kein Grund, die Probe zu unterbrechen. Katastrophen geschahen doch andauernd irgendwo.

Wir probten also einfach weiter. Fünf Minuten später war der Zwischenfall vergessen.

Als ich am Abend nach Hause kam, dämmerte es bereits. Dennoch brannte im Flur kein Licht. Mein Bruder schaltete es auch nicht ein, als er zur Tür kam. Er forderte mich nicht einmal zum tausendundeinten Mal auf, endlich einen Schlüssel mitzunehmen. Ihn interessierte gerade nur eines:

«Hast du schon mitbekommen, was passiert ist?»

«Nein –»

«Du kennst doch das World Trade Center, oder?»

«Klar, das ist doch dieses Hochhaus in New York.»

«Das sind zwei Hochhäuser und die sind beide eingestürzt! Da sind welche mit Flugzeugen reingeflogen! Mach deinen Fernseher an, die zeigen das gerade überall. Es läuft nichts Anderes!»

Ich ging in mein Zimmer und schaltete den Fernseher an. Sie zeigten es tatsächlich auf allen Programmen. Die Flugzeuge, wie sie in das World Trade Center krachten und sie erst zum Brennen und dann zum Einsturz brachten.

Dragonball Z fiel an diesem Abend aus, ebenso GIGA GAMES. Letzteres sollte wie viele andere Sendungen und Sender erst in einigen Wochen wieder laufen.

Ich sah mir die Bilder an. Es waren immer wieder die gleichen, wodurch sie sich rasch abnutzten. Was dazu erzählt wurde jedoch, klang wirklich beängstigend.

Es hieß, nach diesen schrecklichen Anschlägen würde nichts mehr sein wie zuvor. Die Welt sei gefährlicher geworden, die Spaßgesellschaft vorbei. Der Frieden, in dem wir so lange gelebt hatten, existierte nicht mehr. Vor allem aber sei nicht daran zu denken, jetzt einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen.

Ich stand dennoch irgendwann auf und schaltete meinen Computer an.

Sorgen musste ich mir schließlich keine machen. Sie hatten den Verantwortlichen ja bereits ermittelt: Osama bin Laden. Ein Mann mit Turban und schwarzem Vollbart, der über ein Land namens Afghanistan herrschte. Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte den Amerikanern bereits uneingeschränkte Solidarität für den Kampf gegen diesen Mann zugesagt. Schon bald würden sie ihn mit vereinten Kräften angreifen. Sie würden ihn in die Enge treiben und in einer gewaltigen Schlacht vernichtend schlagen.

Genau wie in meinen Killerspielen.

Am nächsten Tag war zwar Schule, Unterricht fand aber keiner statt. Den ganzen Vormittag lang sprachen wir über die gestrigen Ereignisse, unterbrochen nur von den fünf deutschlandweiten Schweigeminuten.

Zu Anfang ging ich noch davon aus, dass das nur die erste, vielleicht die ersten beiden Stunden so gehen würde. Als dann aber auch der vierte Lehrer seinen Unterricht mit der gleichen Frage eröffnete, hatte ich Gewissheit: Heute hätte ich den schweren Rucksack genauso gut zuhause lassen können.

Die Lehrer redeten selbst nicht viel. Sie ließen uns erzählen, was wir empfunden hatten, als wir von den Anschlägen erfahren hatten. Diese Schilderungen bewegten sich größtenteils auf sachlichem Niveau. Eine aber – das Mädchen, das damals mit David und mir in der U-Bahn gesessen hatte – rang mit den Worten.

«Ich konnte das ja erst gar nicht glauben, dass das wirklich passiert ist. Ich habe die ganze Zeit noch gehofft, das wäre nur ein Film, den sie da zeigen. Ich habe echt gedacht: Wie kann so etwas Schreckliches passieren.»

Das erzählte sie jedem Lehrer in fast dem gleichen Wortlaut. Natürlich regte sich beim fünften Mal allmählich leiser Spott, dennoch: Der Schock saß bei den meisten tief. Und die Überraschungs-Eier, die unsere Klassenlehrerin einigen Kameraden und mir heute nachträglich zum Geburtstag geschenkt hatte, blieben ungeöffnet.

Die Stimmung schlug jedoch schnell um. Bereits am zweiten Tag nach den Anschlägen kursierten die ersten Witze.

‹Was sagt ein Zauberer, der ein Haus wegzaubern will? – Simsala bin Laden!›

Bilder in Schulbüchern, die grimmig dreinschauende Menschen und Flugzeuge zeigten, wurden um handgemalte Turbane, Bärte und das World Trade Center ergänzt.

Osama bin Laden und der Elfte September wurden zu einem ähnlich beliebten Quell schwarzen Humors wie vor ihnen nur Hitler und der Holocaust. Dinge, über die man sich nicht lustig machen durfte, waren nun einmal unglaublich komisch. Zumindest, wenn es eigentlich keinen Grund gab, sich nicht über sie lustig zu machen. Waren wir doch mal ehrlich: Bisher hatten zwei Hochhäuser, die irgendwo am anderen Ende der Welt eingestürzt waren, doch recht wenig Einfluss auf unser Leben gehabt.

Für mich und für die anderen Chormitglieder drohte sich das jedoch bald zu ändern. Es war schließlich seit langem beschlossene Sache, dass wir im Oktober nach Amerika flogen. Die Proben dafür befanden sich in der Endphase.

Wir Knaben machten uns wenig Gedanken – Wieso sollte es ausgerechnet uns erwischen? Ich war zudem ziemlich überzeugt, dass die Terroristen kaum so dumm sein würden, es zwei Mal so kurz hintereinander mit dem gleichen Trick zu versuchen.

Einigen Chormuttis jedoch war die Angelegenheit zu heikel. Sie sahen ihre kleinen Söhne schon jetzt im Bauch eines Flugzeugs um ihr Leben schreien. Herr Sobirey hatte ebenso Bedenken. Eine außerordentliche Vollversammlung war unvermeidlich. Meine Mutter kehrte erst nach Mitternacht von ihr zurück. Das Ergebnis: Der Neue Knabenchor Hamburg würde nach Amerika fahren. Im Oktober 2002.

Mein lang geplanter Killerspiel-Großeinkauf würde ein weiteres Jahr warten müssen.