Eine seltene Begegnung

Perlen von Holstein Folge 43

April 2000

Es kam nicht häufig vor, dass ich auf dem Weg zum Chor jemanden aus der Klasse traf, und wenn, dann passierte es innerhalb Finkenwerders. Außerhalb Finkenwerders geschah das nie. Den Grund dafür wusste meine Mutter immer wieder anschaulich zu erklären.

«Mein Gott, heute Morgen war beim Bäcker wieder so eine Trulla: ‹Ich muss heute früh los, ich fahr’ nämlich in die Stadt.› Diese Finkenwerder tun echt so, als wäre das die totale Weltreise. Die können sich absolut nicht vorstellen, dass es Leute gibt, die jeden Tag ‹in die Stadt› fahren. Die kennen nur ihr Finkenwerder.»

So hatte ich beim Betreten der Fähre oft das Gefühl, Segel zu setzen in eine andere Welt.

Umso überraschter war ich, als ich heute den Bahnsteig des U-Bahnhofs Landungsbrücken betrat. Dort, neben einer Gruppe ratloser Touristen, stand eine mir wohlbekannte junge Dame. Sie betrachtete die Plakatwände zwischen den Gleisen, sodass sie mich nicht bemerkte. Zum Glück.

Es war nicht so, dass ich nichts mit ihr anfangen konnte, weil sie eben ein Mädchen war. Am Anfang hatte ich sogar geglaubt, dass sie eine von diesen Lieben wäre, die nie ein böses Wort verloren. Sie hatte blaue Äugelein, die leuchteten wie zwei Stern, strohblonde Haare und ein blässliches Gesicht, das mit Sommersprossen übersät war. Kurzum: Sie sah aus wie ein Engel.

Leider war sie alles, nur nicht das.

Gemeinsam mit ihrer Freundin hatte sie sich ein Lied ausgedacht und mich eingeladen, mitzusingen oder eher zu sprechen. Mein Part war ein denkbar einfacher: Ich sollte auf meine spezifischen Art ‹Nö!› und am Ende einmal ‹Warum diese Frage?› sagen. Im Wechselspiel mit ihrem Gesang klang das dann etwa so:

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Heute sang sie nicht. Als sie mich schließlich doch bemerkt hatte, taxierte sie mich nur kurz und sah dann demonstrativ woanders hin.

Endlich kam die U-Bahn.

Meine Klassenkameradin stieg in den gleichen Wagen wie ich, entfernte sich drinnen aber so weit wie möglich von mir. Sie setzte sich entgegen der Fahrtrichtung. Erst nach einiger Zeit begriff ich, warum: Sie wollte mich im Auge behalten. Immer wieder warf sie mir verächtliche Blicke zu. Ich erwiderte, doch das schien sie nicht im Mindesten zu stören. So etwas erlebte ich sonst nur im Bus in Finkenwerder.

Gut, dass die Fahrt nach Kellinghusenstraße nur elf Minuten dauerte. Spätestens dann wäre ich so los.

An der Haltestelle Schlump erhielt ich unverhoffte Verstärkung. David stieg zu.

«Ey, machst du mich an?», begrüßte er mich.

«Ich mach’ dich gleich aus», entgegnete ich. Ein Scherz, der sich seit Wochen konstanter Beliebtheit erfreute.

Lachend setzte David sich auf den freien Platz mir gegenüber. So saß er mit dem Rücken zu meiner Klassenkameradin und nahm nicht wahr, wie ihr bei seinem Anblick beinahe die Augen ausfielen. In seiner Gegenwart störte mich ihre jedoch nicht mehr. Wir sahen nach draußen. Dort stand eine Plakatwand mit Werbung für die Teletubbies.

«Boah, ey, Teletubbies, so ein Scheiß, ey», sagte David.

«Ja, ey, die sind echt mal voll behindert, Mann», erwiderte ich.

Eigentlich fand ich die Teletubbies nicht behindert. Mein großer Bruder und ich sahen ihre Sendung fast jeden Tag und lachten uns dabei krumm und schief. Noch zu gut erinnerte ich mich an die Folge, in der sie von einer überdimensionierten Schwimmhilfe in Form einer Vier verfolgt worden waren. Alles Weglaufen hatte nichts geholfen, immer wieder hatte die Zahl plötzlich neben ihnen gestanden. Ihr Erscheinen war dabei mit einem Geräusch unterlegt gewesen, das man eher auf einer Toilette erwarten würde. Mein großer Bruder und ich wären vor Lachen beinahe von den Sesseln gekippt.

Natürlich konnte man niemandem erzählen, dass man so eine peinliche Babysendung schon einmal gesehen hatte. Wenn jemand nachfragte, behauptete ich einfach, ihre Inhalte nur vom Hörensagen zu kennen. Gleiches tat Vinzent, obwohl es ihm kein Mensch glaubte, so ergreifend komisch wie er die Geräuschkulisse der Teletubbie-Welt imitieren konnte.

«Ey, ehrlich, wie die da immer reden», sagte David, «So: ‹Ah-Oh!›, und: ‹Winke-Winke!›»

«Ja!», erwiderte ich, «Weißt du, wenn die am Ende alle so ‹Winke-Winke!› sagen und dann so runterfallen, stelle ich mir ja immer vor, wie ich mit so einer Knarre dastehe und die alle abknalle. So: Bum, tschack-tschack»

«Haha. Ey, kennst du das: Tinky-Winky steckt seinen Dipsy in Laa-Laas Po. Haha. Die Antenne, die der eine auf dem Kopf hat, sieht sowieso voll aus wie so ein Dildo, Alter. Hahaha»

An der nächsten Haltestelle hing wieder in Plakat von den Teletubbies.

«Ey, welche bescheuerte Firma macht denn das überhaupt?», sagte ich und las: «›BBC› Haste ’ne Ahnung, was das ist?»

«Nee, Mann, noch nie gehört. Bestimmt irgendso’n Drogenladen»

«BBC ist der Britische Rundfunk», sagte eine Frau, die neben David saß. Sie lächelte mutterhaft.

David schenkte dem nicht viel Beachtung.

«Ey, kennst du diese Werbungen von Giochi Preziosi?», fragte er.

«Klar, Mann!»

«Ey, ehrlich, das sind so bescheuerte Sachen und dann werben die immer mit so bescheuerten Liedern und so bescheuerten Kindern, die so bescheuert gucken Ich frage mich ja echt, wer darauf reinfällt»

Ich fand es ja bemerkenswert, dass David es Reinfallen nannte, wenn sich jemand etwas kaufte, nachdem er die dazugehörige Werbung gesehen hatte. Ansonsten aber musste ich ihm voll und ganz zustimmen. Über die Werbespots für Barbie und Action Man lachte ich ja auch und das nicht zu knapp. Trotzdem hielt ich es prinzipiell für vorstellbar, dass jemand die darin beworbenen Produkte haben wollte. Das konnte ich im Falle der bunte Gebilde der Firma Giochi Preziosi wahrlich nicht behaupten. Man fragte sich, wie dieser Verein es sich überhaupt noch leisten konnte, TV-Spots zu schalten.

Der Zug erreichte den U-Bahnhof Kellinghusenstraße, David und ich mussten aussteigen. Meine Klassenkameradin sollte ich erst am nächsten Tag wiedersehen.

«Ey, die Leute aus deinem Chor sind ja echt noch behinderter als du», sagte sie.

Ich fragte sie nicht, weshalb er das ihrer Meinung nach war. Ich wusste: David war behindert, weil er eben behindert war. So wie ich ja auch.