Ach, wie flüchtig, ach, wie nichtig

Perlen von Holstein Folge 31

Israel war ein heißes Land. Obwohl wir Oktober hatten, herrschten hochsommerliche Temperaturen. Es war schon ziemlich quälerisch, dabei im dicken Chorpullover herumlaufen zu müssen. Unendlich fern schienen die Diskusionen, die ich mit meiner Mutter vor unseren Weihnachtskonzerten immer gehabt hatte. Sie hatte mir dringend empfohlen, mir eine lange Unterhose unterzuziehen und einfach nicht kapieren wollen, dass ein Junge keine Leggings trug. Nicht auszudenken, was die anderen sagten, wenn sie mich damit erwischten. An einem Tag wie diesem war es unvorstellbar, dass sie in gerade einmal eineinhalb Monaten hundertprozentig wieder damit ankommen würde.

Wir hatten einen Außenauftritt und die pralle Sonne schien uns in Gesicht. Frau Siebenkittel merkte davon nicht viel, sie hatte dem Himmelskörper den Rücken zugewandt. Mit halbzugekniffenen Augen, die lieber ganz zugekniffene Augen gewesen wären, versuchte ich, ihrem Dirigieren zu folgen. Eine Tortur. Eigentlich hatten wir schon bei der Ankunft in Tel Aviv alle ein Baseballcap in die Hand gedrückt bekommen und eigentlich waren wir alle angehalten worden, dieses nach Möglichkeit immer aufzusetzen, wenn wir nach draußen gingen. Doch auch, wenn sie farblich hervorragend zu unserer Chorkleidung gepasst hätte – sie war weiß mit einem roten Schirm – hätten wir jetzt wohl ziemlich komisch damit ausgesehen.

Zum Glück war es nur ein Auftritt und kein Konzert. Wir waren hoch hinaus auf einen Berg gefahren, auf dessen Spitze eine Art Kloster oder Palast stand. Sein großzügiger Garten war von mehreren hohen Mauerstücken umgeben. Vor einem solchen standen wir nun auf einer Bühne. Allzu viel Publikum hatten wir nicht, zumindest kein stehendes oder sitzendes. Die meisten Leute flanierten umher, denn wir waren nicht die einzigen, die hier heute sangen. Überall vor und hinter den Mauerstücken und Bäumen standen Chöre und buhlten um die Gunst der Zuhörer.

Als es endlich überstanden war, zogen wir uns in einem kleinen Raum um und gingen dann zum Bus. Der Tag war noch nicht vorbei, eigentlich sollte er jetzt erst wirklich beginnen, ein Tag im Zeichen des KZs. Wir fuhren zum Grab von Oskar Schindler. Es war kleiner als es in Schindlers Liste ausgesehen hatte und wenn ich nicht um seine Verbindung zum KZ gewusst hätte, ich hätte ihn wohl niemals vermutet. Dennoch waren wir alle still, während wir davor standen.

Still waren wir auch an unserem nächsten Reiseziel: Einer Holocaust-Gedenkstätte. Es war jedoch nicht die Art von Stille, die sonst so häufig bei Museumsbesuchen herrschte. Jene, mit der wir der gediegenen Langeweile Ausdruck verleihen wollten, die uns umfing. Eine, die nur deshalb nicht schon lange in Radau umgeschlagen war, weil es sonst Ärger gab. Es war nicht einmal so, dass wir völlig schwiegen. Einige Knaben sangen sogar, wenn auch gedämmt: «Wirf de-ein Anliegen auf den Herrn, der wird dich versorgen u-und wird den Gerechten nicht ewiglich in Unruhe lassen, denn seine Gnade reicht, soweit der Himmel ist. Und keiner wird zu Schanden, der seiner harret.»

Dabei war es hier nach dem Verständnis von Erwachsenen schön: Wir schritten an einer langen Reihe von Bäumen vorbei, man konnte die Vögel zwitschern hören. Es war mehr wie in einem Park als wie an einem Ort, der einen an das KZ denken lassen sollte. Doch der Schein trog. Marc erzählte uns, dass jeder Baum für einen Menschen stand, der Juden vor dem Tod gerettet hatte. Ich fand es erfreulich, dass es trotz allem auch in jener schrecklichen Zeit noch viele nette Leute gegeben hatte.

Wir ließen den Park hinter uns und gelangten zu einem Gebäude mit einer Ausstellung über den Holocaust. Holocaust, so nannte man, wenn ich das richtig verstanden hatte, außerhalb Deutschlands das KZ. Vermutlich, weil das nicht so harmlos klang, eher ein bisschen wie Hölle und das passte doch ganz gut.

Die Ausstellung bestand aus Wänden mit Fotos, Zeitungen und Gegenständen, die irgendwas mit dem KZ und dem Zweiten Weltkrieg zu tun hatten. Wir sahen Menschen, die so dünn war, dass man ihre Brustknochen sehen konnte und zerstörte Häuser. Obwohl ich das alles nun schon mehrmals gesehen hatte, zog es mich doch noch immer in seinen Bann. Etwas merkwürdig fand ich aber, dass in einer der Zeitungen eine Zeichnung von einer Frau abgebildet war, die ihr Gesicht in die Hände gelegt hatte und zu schluchzen schien. Darunter stand zu lesen: ‹Dein Sohn ist für Volk und Führer gefallen! Wie lange noch müssen deutsche Mütter weinen?›

Meine Mutter hatte mir erzählt, dass ihre Großmutter, also meine Urgroßmutter, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg mehrere Briefe bekommen hatte, in denen das drinnen gestanden hatte: ‹Ist für Volk und Vaterland gefallen› oder ‹Ist für Volk und Führer gefallen›. Sie sei deswegen ganz furchtbar traurig und nie wieder glücklich geworden. Doch warum stand so etwas in der deutschen Zeitung? Nachdem, was meine Mutter mir gesagt hatte, hatten sie doch damals im Radio immer erzählt, dass Deutschland am gewinnen war, auch als das schon lange nicht mehr gestimmt hatte. Warum sollte es bei Zeitungen anders gewesen sein? Man war doch ins Gefängnis gekommen, wenn man die Wahrheit gesagt hatte. Doch vielleicht hatte es ja mit etwas Anderem zu tun, was meine Mutter mir erzählt hatte: Hitler hatte damals nämlich so getan, als wären die anderen Länder gewesen, die den Krieg angefangen hätten. Da war es doch gut möglich, dass man ihnen später auch die Schuld dafür gegeben hatte, dass er so lange dauerte.

Als wir wieder ins Freie traten, dämmerte es allmählich. Wir gingen zurück zum Bus, der schnell losfuhr. Im Kibbuz wartete man schon auf uns. Die Knaben, die vorhin noch Wirf dein Anliegen auf den Herrn gesungen hatten, sangen nun: «Jeder Popel fährt ’nen Opel, jeder Affe fährt ’nen Ford, jeder Blödmann fährt ’nen Porsche, jeder Arsch ’nen Audi Sport –»

Die Männer in den letzten Reihen gingen noch einen Schritt weiter und stimmten an zum munt’ren Spottgesang.

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Sie bezogen sich damit vermutlich auf den Tempel, der zu unserer Linken auf einem Felsenplateau stand. Man fragte sich, wofür er wohl da war. Wie unsere Männer nun darauf kamen, dass es sich bei ihm um ein Parlamentsgebäude handelte, konnte ich nicht sagen. Vielleicht ulkten sie auch nur mal wieder rum.