Erschütternde Erkenntnisse

Perlen von Holstein Folge 23

Juni 1998

Seit unserer Rückkehr aus Regensburg probten wir wieder ein Werk, das von Jesus Kreuzigung erzählte. Via Crucis von Franz Liszt war im Gegensatz zur Matthäus-Passion zwar nicht vier Stunden lang, dafür sangen wir bei mehr als einem Satz mit. Die Noten umfassten ein zeitschriftendickes Heft. Als es an uns ausgeteilt worden war, hatte ich gleich erst einmal darin herumblättern müssen.

Station Ⅰ: Jesus wird zum Tode verdammt

‹Der Arme!›, hatte ich gedacht, ‹Warum tun sie ihm so etwas Schreckliches an?›

Ich hatte weitergeblättert und erleichtert aufgeatmet.

Station ⅩⅠⅠⅠ: Jesus wird vom Kreuze genommen›.

Hatten sie am Ende also doch Mitleid mit ihm gehabt?

Dann aber waren mein Blick auf die letzte Station gefallen: ‹Jesus wird ins Grab gelegt›.

Oh, nein!

Ich hatte einige Seiten zurückgeblättert und tatsächlich, dort hatte es schwarz auf weiß gestanden: ‹Station XI: Jesus wird ans Kreuz geschlagen›.

Da war mir mit einem Male bewusst geworden, was das überhaupt bedeutete: Kreuzigung. Man hatte Jesus an einem großen Kreuz festgenagelt, erbarmungslos. Irgendwann dann – vermutlich, weil er so schreckliche Schmerzen gehabt hatte – war er gestorben. Ich war fassungslos gewesen. Das war ja furchtbar.

Seitdem war kaum mehr ein Tag vergangen, an dem ich das Werk nicht gehört hatte. Meine Mutter hatte mir eine CD davon gekauft. Sie war mit dem Choir of Radio Svizzera, von dem ich noch nie etwas gehört hatte, der aber, wie ich fand, recht anständig sang. Ich mochte eigentlich nur den ersten und den letzten Satz, hörte trotzdem aber jedes Mal alles. Mein Vater hatte gesagt, dass man klassische Musik immer ganz hören musste, auch wenn die CD mit den Auszügen aus der Matthäus-Passion einen anderen Eindruck erwecken mochte.

Dabei war es nicht einfach so, dass mir nicht gefiel, was zwischen dem ersten und dem letzten Satz erklang. Es war mir nicht geheuer. Oft wurde nicht gesungen, man hörte nur jemanden Klavier spielen. Doch was er spielte, war nicht märchenhaft wie die Waldsteinsonate von Beethoven. Es klang nach Schmerzen. Schmerzen, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Man hörte, wie Jesus ganz langsam gehen musste, weil das Kreuz so schwer war. Man hörte, wie er hinfiel und nicht mehr aufstehen konnte. Man hörte, wie ihm die Nägel durch die Hände geschlagen wurden. Und wurde gesungen, war das auch nicht viel beruhigender. Fast alles war auf Lateinisch, ich konnte es nicht verstehen.

Am schlimmsten war aber ‹Die Frauen von Jerusalem›. Es klang richtig, als würden sie Jesus anschreien und schlagen. Dabei war er doch immer nett zu allen gewesen.

Sie schrien und schlugen ihn auch nicht. Sonst würde Jesus in der Via Crucis nicht singen, was er in der Via Crucis sang. Das war auf Lateinisch: «Weinet nicht über mich, sondern über euch und eure Kinder.» Eine sonderbare Äußerung. Das klang ja fast, als würde er sich über sie lustig machen. Wieso sollten sie denn über sich und ihre Kinder weinen? Die wurden doch nicht gekreuzigt, denen ging es doch gut.

Ebenso sonderbar war, was Pontius Pilatus bei ‹Jesus wird zum Tode verdammt› sagte: «Ich bin unschuldig am Blute dieses Mannes.» Das stimmte doch gar nicht. Im Gottesdienst hieß es schließlich immer: «Gelitten unter Pontius Pilatus.» Doch wer so gemein war, Jesus zu kreuzigen, dem war bestimmt auch zuzutrauen, dass er ein Lügner war.

Am allermerkwürdigsten war aber, dass an vielen Stellen «Ave Crux» gesungen wurde. Das nämlich hieß ‹Heil dir, Kreuz›. Das Kreuz wurde also nicht etwa dafür gehasst, dass man Jesus damit umgebracht hatte. Ihm wurde sogar noch Gutes, Gesundheit und Glück gewünscht. Wie konnte das sein, wie ging das alles zusammen?

«Naja, das ist, weil die Christen meinen, dass sie nur ins Paradies kommen können, weil Jesus gekreuzigt wurde», sagte meine Mutter. Im Übrigen fand sie, dass man sich nicht so sehr mit dem Leid von vor zweitausend Jahren beschäftigen sollte. Auch heute geschah noch viel Schreckliches.

Der Gedanke an all das Schreckliche, das Jesus widerfahren war, aber ließ mich nicht mehr los. Spätestens, wenn ich das nächste Mal die CD auflegte, war ich wieder wie gebannt davon.

Wie er das große, schwere Kreuz wohl getragen haben mochte? Hatte man es ihm ans Bein gekettet wie den Sträflingen in den Zeichentrickfilmen ihre Stahlkugel? Und warum war er überhaupt daran gestorben, dass man ihn festgenagelt hatte? So schmerzhaft das war, mehr als die Hände und die Füße wurden dabei doch nicht verletzt.

Das waren Fragen, mit denen ich mich wirklich nur an meinen Vater wenden konnte. Der wusste alles.

«Jesus ist nicht an den Nägeln gestorben, Lennart. Wenn du mit gespreizten Armen hängst, erstickst du einfach irgendwann, weil der Körper das auf Dauer nicht aushält. Deswegen hat man viele auch nicht ans Kreuz geschlagen, sondern nur ans Kreuz gebunden. Das mit den Nägeln war nur zusätzlich, um es noch qualvoller zu machen. Die hat man ihm übrigens auch nicht in die Hände, sondern in die Unterarme geschlagen. Die Handflächen hätten das Gewicht gar nicht tragen können.»

«Und wie hat er das Kreuz getragen?»

«Das wird er wohl irgendwie geschultert haben.»

Franz Liszt hatte geschafft, woran Johann Sebastian Bach gescheitert war: Er hatte ein Werk komponiert, das ich erschütternd fand. Trotzdem reihte er sich die Reihe all derer ein, die die Matthäus-Passion über alles liebten. In der ‹Station VI: Sancta Veronica› kam das Lied ‹O Haupt voll Blut und Wunden› vor. Laut Frau Siebenkittel, weil Bach das in seinem vier Stunden langen Teil ebenfalls verbaut hatte. Warum auch immer nun gerade das daran so wichtig war. Ich war ihm aber dankbar dafür. Für einen kleinen Augenblick war Via Crucis einmal nicht so fremdartig. Man hörte einfach mal Worte, die man auch verstand.

Ein weiteres Mal geschah das bei ‹Jesus stirbt am Kreuze›: «O Traurigkeit, o Herzeleid ist das nicht zu beklagen: Gott des Vaters einig Kind wird ins Grab ge-e-etra-agen», sangen wir dort. Mir gefiel das weit weniger. Zum einen, weil diese Worte nicht gerade beruhigend waren, zum anderen, weil die Melodie gut einem gruseligen Film hätte entstammen können. Außerdem hatte Vinzent in einer Probe ‹O Traurigkeit: der Lenni schreit› daraus gemacht.