Das letzte Gefecht

Perlen von Holstein Folge 11

Es war Heiligabend. Schon bald würden wir alle zuhause bei unseren Familien sein und zusammen mit ihnen Weihnachten feiern. Zuvor jedoch wartete eine letzte Aufgabe auf uns: Der Familiengottesdienst in der Hauptkirche St. Jacobi.

Für mich stand völlig außer Frage, dass es erst vorbei sein würde, wenn der letzte Ton gesungen war. Gerade jetzt, so kurz vor dem Ziel, durften wir nicht nachlässig werden. Sonst würde am Ende doch alles umsonst gewesen sein.

Schnell jedoch wurde mir bewusst: Mit dieser Auffassung stand ich ziemlich alleine da.

Es waren noch wenige Minuten bis zum Auftritt. Neben mir standen zwei Knaben, die zum roten Chorpullover weiße Turnschuhe trugen. Sie machten keinerlei Anstalten, diese gegen eine etwas standesgemäßere Fußbekleidung einzutauschen. Sichtlich gelassen standen sie da, keine zwei Meter von Frau Siebenkittel entfernt. Wie zwei Gladiatoren, die über den Grund ihrer Anwesenheit in der Arena nicht aufgeklärt worden waren.

Frau Siebenkittel bemerkte es natürlich bald. Statt der zu erwartenden Jahrhundertstandpauke ernteten die beiden jedoch ein Lächeln.

Verdutzt sah ich unsere Chorleiterin an.

Was war denn bloß in sie gefahren?

Wir zogen ein und nahmen auf der Empore Platz.

Obwohl es ja eigentlich streng verboten war, wand ich die Augen von Frau Siebenkittel ab und sah über die Brüstung: Es war noch voller als bei unserem Konzert. Überall, wirklich überall saßen, standen und kauerten Leute. Man konnte meinen, die Sankt-Jakobi-Kirche hätte sich in einen gewaltigen Sieben-Uhr-Morgens-Bus verwandelt.

Und anders als bei unseren sonstigen Auftritten sah man die Menschen nicht nur, man hörte sie auch. Das Stimmengewirr war ohrenbetäubend. Offenbar hatten sich alle Spannendes zu erzählen. Das Quengeln etwa fünf verschiedener Babys tat sein Übriges.

Die Gespräche im Publikum verstummten allmählich, als die Orgel zu surren begann. Die Stimmung bei uns auf der Empore hingegen wurde immer ausgelassener, je weiter der Gottesdienst voranschritt. Die Neuen spielten an den Gesangbüchern herum, die Knaben der Alt-Reihe kicherten über ihre eigenen Bemerkungen. Den Vogel jedoch schossen die Männer ab. Beim gemeinsamen O du fröhliche fingen sie zu schunkeln an. Das ließen sich die Knaben links und rechts von mir nicht zweimal sagen und schunkelten mit ihnen. Ich sah ein, dass Widerstand zwecklos war und hakte mich bei ihnen ein.

Zu meiner Schande musste ich gestehen, dass es mir großen Spaß machte.

Unsere Männer waren schon eine bemerkenswerte Truppe. Manche von ihnen waren kaum älter als die ältesten Knaben, andere richtige Opas. Sie kamen jeden Dienstag nach der Pause und füllten die letzte Reihe bis über den Rand. Neulich hatte ich mich einmal zu ihnen gesellt, wenn auch nicht ganz freiwillig.

Ich hatte mit meinem Sitznachbarn im Streit gelegen. Wie üblich war ich nicht derjenige gewesen, der angefangen hatte. Wie üblich war ich derjenige gewesen, der den Kürzeren gezogen hatte. Wie üblich hatte ich irgendwann geweint.

«Lenni-Löwe, gehst du bitte nach hinten und setzt dich zu den Männern», hatte unsere Chorleiterin gesagt.

Und ehe ich mich versehen hatte, hatte ich mich zwischen Heizung und einem halben Erwachsenen wiedergefunden. Einem halben Erwachsenen mit Sonnenbrille und Dreitagebart.

Ich hatte mich neben ihm alles andere als wohlgefühlt. Es gefiel ihm wahrscheinlich überhaupt nicht, so einen doofen Knaben neben sich sitzen zu haben. So eine Heulsuse, die hier den ganzen Laden aufhielt.

Und dann hatte ich auch noch vergessen, meine Noten mit hierher zu nehmen.

Ratlos hatte ich zu unserer Chorleiterin geblickt. Die jedoch war längst mit etwas völlig Anderem beschäftigt gewesen.

«Möchtest du bei mir mit reingucken, Lenni-Löwe?», hatte der halbe Erwachsene plötzlich gefragt.

Ehe ich etwas darauf hätte erwidern können, hatte Frau Siebenkittel bereits den nächsten Einsatz gegeben.

«Na los, guck bei mir mit rein, Lenni-Löwe!», hatte der halbe Erwachsene gesagt.

Mit krächzendem Sopran hatte ich nun versucht, gegen seinen saftigen Tenor zu bestehen. Ein denkbar aussichtsloses Unterfangen. Dennoch war er am Ende begeistert gewesen.

«Mensch, Lenni-Löwe, aus dir wird ja mal ein ganz Großer! Du solltest Opernsänger werden!», hatte er gesagt. Dabei hatte er mir sanft in die Schulter gekniffen.

Und zum ersten Mal seit einer halben Stunde hatte ich lachen können.

Nach dem Gottesdienst trafen wir uns alle noch einmal im Arp-Schnittger-Saal links von der Empore. Frau Siebenkittel dankte uns allen für die tollen, schönen, großartigen, wunderbaren, fantastischen Konzerte, die sie im vergangenen Jahr mit uns gehabt hatte und im kommenden mit uns haben würde. Dann überließ sie Totto das Feld.

Totto war ein Mann, dessen ganzer kugelrunder Körper Gemütlichkeit ausstrahlte. Er verstand es jung und alt immer wieder zum Lachen zu bringen. Vor allem aber war er der wohl einzige Erwachsene, den ich kannte, der Mädchen auch einfach doof fand. Ich mochte ihn.

Ab heute sogar noch ein bisschen mehr. Er hatte für uns alle etwas mitgebracht: Briefbeschwerer in Form einer großen Wäscheklammer. Mit dem Logo des Knabenchors. Meine Augen begannen zu leuchten. Welch ein entzückendes Geschenk! Das würden meine Eltern erst einmal übertreffen müssen. Logischerweise konnten sie das nicht. Niemand konnte irgendetwas übertreffen, was mit diesem Weltklasseensemble zu tun hatte.

Das Jahr 1997 war vorbei. Ich hatte allen Grund stolz auf mich zu sein: Ich war dem unheilvollen Sog der Neuen entkommen und hatte fast die ganze Weihnachtssaison als vollwertiges Mitglied mitsingen dürfen.

Das würde sich im kommenden Jahr fortsetzen. Der Chor würde zum Chorwettbewerb nach Regensburg und zur Konzertreise nach Israel fahren. Nichts für kleine Neue. Aber etwas für Lenni-Löwe.