Die Neuen

Perlen von Holstein Folge 6

November 1997

Ich war stolz auf mich. Drei Monate war ich nun im Hauptchor und verzeichnete langsam erste Erfolge: Exsultate Deo konnte ich auswendig, Salve Regina so gut wie. Und wenn Frau Siebenkittel forte sagte, wusste ich, was sie damit meinte: Das hieß einfach nur, dass wir laut singen sollten. Niemand hatte es mir erklären müssen, ich war ganz von selbst dahintergekommen. So gesehen konnte ich zuversichtlich sein, dass ich schon bald auch wissen würde, was es mit dem Ritter Dando und dem Krähschendo auf sich hatte.

Dennoch: Es würde wohl noch eine ganze Zeit dauern, ehe ich wirklich Teil dieser Elite war. Noch immer bereitete es mir große Probleme, in den vierstimmigen Noten den Überblick zu behalten. Oft stand ich schon nach einer Seite da wie der Ochs vorm Berg. Mir blieb nichts weiter übrig, als mich hilfesuchend umzusehen. Meine Nebenknaben zeigten mir dann die Stelle, an der wir uns befanden. Doch konnte das auf der Dauer keine Lösung sein. Ich musste endlich ohne fremde Hilfe Noten lesen können.

Der Weg, der vor mir lag, war nicht weniger steinig als der hinter mir. Niemand würde sich für mich zurücknehmen. Für mich war das kein Grund zur Klage. Jeder vor mir hatte da durchgemusst und jeder nach mir würde da durchmüssen. Wir waren hier nun einmal bei einem der besten Knabenchöre der Welt, was erwartete ich?

Ich ahnte nicht, dass ich das letzte Mitglied einer verlorenen Generation war.

Frau Siebenkittel hatte uns Soprane gebeten, heute alle in der zweiten Reihe platz zu nehmen. Den Grund erfuhren wir zu Beginn der Probe. Zehn Jungen, manche von ihnen noch richtige Dreikäsehochs, hatten sich neben unserer Chorleiterin aufgestellt. Die Zeiten, in denen ich der Jüngste war, waren offensichtlich vorbei.

Frau Siebenkittel hatte das Wort. «So, das hier sind unsere Neuen! Die haben alle bis vor Kurzem noch im Vorchor mitgesungen, sind jetzt aber schon groß und dürfen deswegen zu uns in den Hauptchor.»

Ich verwunderte mich der Rede oder eigentlich mehr Frau Siebenkittels Tonfall. Mit dieser Stimme hatte ich sie das letzte Mal im Vorchor sprechen hören. Auch die Noten, die sie den Neuen in die Hand drückte, erinnerten an jene Jahre: Sie waren einstimmig. Ich traute meinen Augen nicht. Unsere Chorleiterin hatte sich die Mühe gemacht, eine reine Sopranausgabe zusammenzukopieren. Vorbei waren sie, die Zeiten, in denen Neue mit den Noten dastanden wie der Ochs vorm Berg.

Doch waren das ja nicht irgendwelche Neuen, das waren die Neuen. Was das konkret bedeutete, wurde mir im Verlauf der nun folgenden Probe bewusst. «So, die Neuen hören jetzt bitte mal kurz weg, die betrifft das nämlich nicht», sagte Frau Siebenkittel mit gefasster Stimme, um dann loszupoltern: «Leute, wie oft soll ich euch noch sagen, dass ihr beim Einsatz bitte alle zu mir gucken sollt? Ihr klebt an den Noten!» Am Ende der Probe bekamen sie dann ein Lob. Am Ende der darauffolgenden Probe ebenso und am Ende der übernächsten auch. Zum Vergleich: Lenni-Löwe hatte in all seinen Monaten hier nur ein einziges Mal eines gekriegt.

Missgunst regte sich in mir. Vom ersten Tage an war ich herangenommen worden wie ein vollwertiges Mitglied und diese Neuen bekamen eine Extrawurst nach der anderen gebraten.

Und dann tat Frau Siebenkittel auch noch das Unaussprechliche.

«Lenni-Löwe, geh doch mal mit denen mit», sagte sie, als sich die Neuen gerade mit unserer Pianistin in einen Nebenraum verzogen. Sie lächelte mich an wie einen von ihnen.

Ich sollte mit den Neuen mitgehen? Hatte sie den Verstand verloren? Ich mit den Neuen mitgehen, soweit kam es noch! Welch ein Affront, welch eine unglaubliche Beleidigung für jemanden, der schon seit drei Monaten hier mitsang.

Ich blieb einfach sitzen. Frau Siebenkittel sah mich einige Augenblicke verwundert an, setzte die Probe dann aber ungerührt fort. Gleiches tat sie, als ich in der nächsten und in der übernächsten Woche abermals einfach sitzen blieb. In der dritten Woche schien sie dann endlich begriffen zu haben. Sie bat mich nicht erneut. Ich war dem unheilvollen Sog der Neuen entkommen.

Vorerst.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Der gute Heinrich Schütz hatte ebenso seine Probleme mit manchem Nachwuchsmusiker. Als er mit seinen inzwischen siebenundsechzig Lenzen erfuhr, dass er sich seine Aufgaben zukünftig mit dem Italiener Giovanni Andrea Bontempi teilen sollte, blieb ihm glatt die Spucke weg. Schließlich handelte es sich bei diesem um einen «drei Mal jüngeren und überdies kastrierten Menschen». Er verfasste einen bitterbösen Brief, an dessen Ende er erklärte, dass er lieber sterben würde, als sich das auf Dauer bieten zu lassen.

Unter den Neuen gab es einen, der von Anfang an irgendwie herausstach. Den kleinen Imanuel. Ein Knabe mit dunklen schwarzen Haaren, dunklen schwarzen Augen und einem perlweißen Lächeln, zu dem er seinen Mund vor allem dann formte, wenn etwas Anlass zum Schwärmen bot. Und Anlass zum Schwärmen bot so einiges: Unsere Stücke, unser Gesang, am meisten aber der Hamburger Michel. Im Wunderliche-Und-Alte-Dinge-Toll-Finden übertraf dieser Junge manchen Erwachsenen und im Gebaren sowieso: Während um ihn herum das Leben tobte, saß er kerzengerade da und hatte die Augen auf Frau Siebenkittel gerichtet. All seine Herzgedanken waren immerdar bei ihr.

So richtig zur Höchstform lief er aber erst auf, wenn es hieß: «Imanuel, komm doch mal bitte nach vorne, hör dir den Chor an und sag uns, was verkehrt ist.»

«Ja, also der Alt hat den Einsatz vergeigt, Lenni-Löwe hat undeutlich gesprochen, Jonas hat zu früh abgesetzt, die erste Reihe ist zu tief geworden, die zweite hat –», sagte er. Perlweiß war sein Lächeln.

Ich hätte es ihm nur zu gerne auf Heller und Pfennig heimgezahlt. Hieß es dann aber: «Lenni-Löwe, komm doch mal bitte nach vorne, hör dir den Chor an und sag uns, was verkehrt ist», geriet ich mächtig ins Drucksen.

«Ähm – Also das T am Ende, das war nicht ganz gleichzeitig –»

«Ja, genau! Das hat ge-eklappert ohne Ende!», polterte unsere Chorleiterin, «Weiter?»

«Ähm – Weiß nicht –»

So musste Frau Siebenkittel den Chor am Ende doch persönlich ausschimpfen. Gründe dafür gab es, wie ich merkte, zuhauf. Gründe, die Imanuel höchstwahrscheinlich schon vorher gewusst hatte. Dieser Junge hörte tatsächlich alles, was unsere Chorleiterin auch hörte. Und er war gerade sieben. So alt, wie ich gewesen war, als ich in den Vorchor gekommen war.

Ein bemerkenswerter, ja, bewundernswerter Zug. Nur wusste man nicht, ob man ihn hierfür nun hassen oder lieben sollte.