Spielen und Lernen

Perlen von Holstein Folge 198

Mein Austritt wurde mir auch dadurch erleichtert, dass nach gegenwärtigem Stand für die Zeit danach nichts wirklich Besonderes geplant war. Von Bedeutung war alleine die Hollandreise mit dem lettischen Mädchenchor. Sie zu verpassen, würde ich jedoch wohl verschmerzen können. In Holland war ich bereits gewesen. Die Mädchen waren zu jung, um für mich von Interesse zu sein. Ich hatte zudem auf dem Sunderhof ein wenig den Eindruck gewonnen, dass persönliche Kontakte zu ihnen unterbunden werden sollten. So fand ich es nicht dramatisch, dass meine letzte Chorreise ein ganz und gar unbedeutender Kurztrip sein würde.

Wir fuhren nach Heikendorf, ein Nest im nördlichen Schleswig-Holstein. Es lag an der Kieler Förde, direkt am Wasser. Die Randbezirke Kiels waren fußläufig zu erreichen. Von ihnen war jedoch wenig zu merken. Dazu wog die Verschlafenheit des einstigen Fischerdorfs viel zu schwer. Es war der vollkommene Urlaubsort.

Wie schon in Magdeburg würden wir bei Gastfamilien schlafen. Zumindest die anderen. Guido und ich wurden im Pfarrhaus der örtlichen Kirche untergebracht. Eine geradezu traumhafte Situation. Auftrittsort und Unterkunft lagen gerade einmal zwanzig Meter voneinander entfernt. Während die anderen schon lange auf den Beinen waren, lagen wir noch in den Betten. Wir rangen uns erst zum Aufstehen durch, als Zwergo gegen die Scheibe klopfte.

Die Heikendorfer Kirche war winzig klein, aber architektonisch bemerkenswert. Das Kirchengebäude war ein nicht allzu betagt wirkender Rotklinkerbau. In Form und Größe unterschied er sich kaum von einem Einfamilienhaus, lediglich das Kreuz auf dem Dach zeugte von seiner Funktion. Über einen Gang war er mit dem offenbar deutlich älteren Turm verbunden. Dessen Wände bestanden aus Naturstein und die Spitze war etwa drei Mal so lang wie der Turm selbst.

In der Kirche würden wir heute Abend einen Auftritt haben. Viel interessanter war jedoch, was sich an diesem Vormittag im Gemeindehaus abspielte. Wir waren Versuchs- und Anschauungsobjekt eines Chorleiterseminars. Seminarleiter war niemand Geringeres als Herr Kaiser. Er erklärte den Sinn und Zweck von Einsingübungen, demonstrierte typische Handbewegungen und ließ uns zuletzt zweimal Also hat Gott die Welt geliebt singen. Einmal mit, einmal ohne Dirigat. Dann überließ er den Teilnehmenden das Feld.

Ein etwas verwilderter Kantor trat vor uns.

«Darf ich jetzt auch Also hat Gott die Welt geliebt mit dem Chor machen?», fragte er Herrn Kaiser.

«Sie dürfen machen, was Sie wollen. Das ist jetzt Ihr Chor», erwiderte der.

Wir sangen noch einmal Also hat Gott die Welt geliebt.

«Ausgezeichnet», sagte der Kantor, «Ich habe noch nie einen Chor leiten dürfen, der so gut singen kann. Jetzt möchte ich mal etwas mit euch ausprobieren. Wenn ihr im zweiten Teil singt: ‹das ewige Leben›, dann ist es ja das, worum es bei dem Stück eigentlich geht: Das ewige Leben. Nicht irgendein Leben, das ewige. Deshalb möchte ich, dass ihr das jetzt richtig schön betont: Das ewige Leben.»

Wir mühten uns, den Eifer des Mannes angemessen weltfremd umzusetzen. Er war begeistert.

«Wunderbar», sagte er, «es war wirklich eine Ehre, mit euch arbeiten zu dürfen.»

Als nächstes war eine Dame an der Reihe. Ihre Kleidung war so bunt wie ihre Haare. Hätte ich nicht gewusst, dass sie Musiklehrerin war, ich hätte sie für eine Kunstlehrerin gehalten. Für Also hat Gott die Welt geliebt hatte sie erwartungsgemäß nicht viel übrig. Sie studierte mit uns einen Kanon aus dem Repertoire ihres Schulchors ein. Sie verzichtete dabei komplett auf den Einsatz von Noten. Stattdessen sang sie uns das Lied vor.

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Keine allzu schwierige Übung. Nach dem ersten Durchlauf hatten wir das Lied mehr oder weniger drauf. Die Frau war begeistert.

«Mit meinem Schulchor habe ich das drei Wochen üben müssen, bis der das so gut konnte wie ihr», sagte sie.

Ich verstand nicht so recht, was eigentlich der Sinn dieses Seminars war. Was hatte man davon, einen Chor zu leiten, der tausend Mal besser war, als der eigene es jemals sein würde? Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer schienen aber alle recht zufrieden zu sein. Als sie in die Mittagspause verschwunden waren, besprach Herr Kaiser mit uns den weiteren Tagesablauf. Nicht, ohne zuvor noch eine kleine Anmerkung zu machen.

«Was ich ja am besten fand», sagte er, «als ihr ohne mich gesungen habt, sagte doch tatsächlich einer: ‹Das klingt ja viel besser.›»

Die Knaben lachten. Ich dagegen zog längst Schlussfolgerungen.

«Der Chor könnte eine Menge Geld sparen», rief ich.

Die Knaben lachten noch mehr.

«Dazu sage ich jetzt mal besser nichts», erwiderte Herr Kaiser gut gelaunt.

Der weitere Tagesablauf würde sich wie folgt gestalten: Herr Kaiser würde die Seminarteilnehmer noch tiefer in die Geheimnisse des Chorleitens einführen. Wir würden zu einem Strandspielplatz gehen.

Auf dem Weg dahin wurde ich von zwei Knabengruppen umringt. Die eine sang das ewige Leben im Stile des Kantors, die andere Denkt ihr, gestern traf ich vorm Kaufhaus. Beiden Gruppen war gemeinsam, dass sie eine Reaktion von mir zu erwarten schienen. Mit der konnte ich jedoch nicht dienen. Der Kantor hatte es nach meinem Empfinden etwas zu sehr darauf angelegt, in die Annalen unserer Chorgeschichte einzugehen. Und was Denkt ihr, gestern traf ich vorm Kaufhaus anging: Das war doch nun wirklich ein stinknormales Kinderlied. Besser: Ein Lied, das für Kinder geschrieben worden war. Es verband eine alltägliche Situation mit einem wundersamen Erlebnis. Einem, das Kindern gefallen, Erwachsene hingegen eher befremden dürfte. Sprachlich erinnerte es mich an unsere alten Spielen-und-Lernen-Kassetten. An ‹Unser Nachbar mit dem Dackel, schlickel-schlackel, wickel-wackel –› Und die Spielen-und-Lernen-Kassetten hatten doch nun wirklich durchweg gehobenen Durschnitt geboten. Nicht einmal mein Vater hatte etwas auszusetzen gehabt an Versen wie: ‹Es war einmal ein Inder, der hatte sieben Kinder. Damit ihm keines fehlt, hat er sie durchgezählt: Montag kam das erste und war zugleich das schwerste. Dienstag kam das zweite, ging eher in die Breite –

Was also störte die Knaben an Denkt ihr, gestern traf ich vorm Kaufhaus? Vermutlich eigentlich gar nichts. Sie hielten es einfach nur für etwas, über das man sich lustig machen konnte. Ihnen fehlte einfach das Gespür für die Kriterien, die es dafür hätte erfüllen müssen.

Einige Meter vor mir lief Joël. Er war erst seit einigen Wochen Mitglied unseres Chores. Wie lange genau, wusste ich nicht. Er redete nie, weshalb man ihn kaum wahrnahm. Zumindest im ersten Moment nicht. Hatte man erst mal Notiz von ihm genommen, war er mehr als auffällig. Er trug immer und überall Maßanzug und Krawatte. David hatte ihn auch schon dabei gesehen, wie er seine Schuhe poliert hatte. Das wäre nichts Ungewöhnliches gewesen, wäre Joël nicht gerade einmal 15 Jahre alt gewesen. Zudem befanden wir uns nun wirklich nicht in einer Situation zum Anzugtragen. Wir waren im Urlaub, auf dem Weg zum Strand. Zudem herrschten fast dreißig Grad. War dem Jungen in dem Ding nicht heiß? Wie dem auch sei: Ich wusste mit Joël nichts anzufangen. Er war für einen Menschen seines Alters immer so sonderbar kontrolliert.

Am Strandspielplatz angekommen setzten Frans, Guido und ich uns sogleich auf die Schaukel. Während wir uns in die Lüfte schwangen, sangen wir Die Rose stand im Tau, die Moll-Fassung von Tomatensalat und was uns sonst noch so einfiel.


Am nächsten Tag verließen wir Heikendorf auch schon wieder. Bevor es jedoch zurück nach Hamburg ging, fuhren wir zum Erlebniswald Trappenkamp. Bereits der Name ließ mich Böses ahnen. Erlebniswald, das klang doch verdächtig nach einem dieser Versuche, an Technik gewöhnte Großstadtkinder von ihren Fernsehern und Computern wegzubekommen. Dabei trat man nicht weniger als die Flucht nach vorne an. Bereits der Name Erlebniswald sollte den Kindern weismachen, dass Natur doch eigentlich etwas extrem Spannendes war. Viel spannender als so ein Killerspiel. Ein Unternehmen, das nur scheitern konnte. Welches Kind von heute konnte sich schließlich dafür begeistern, fernab jeder Lautsprecherbeschallung Vogelgesänge auseinanderzuhalten? Wohl nur eines, das konsequent von Lautsprechern ferngehalten worden war. Mich jedenfalls interessierte es nicht die Bohne, welcher Vogel wie sang. So sehr ich den Anblick von Natur mittlerweile auch schätzen mochte.

Meine bösen Vorahnungen fanden rasch Bestätigung. Der Erlebniswald Trappenkamp mühte sich, wie ein toller Vergnügungspark daherzukommen. Nur: Welchem seriösen Vergnügungsparkbetreiber wäre es in den Sinn gekommen, Kinder mit Eicheln spielen zu lassen? Ich hatte nach zehn Minuten genug gesehen.

Gemeinsam mit den anderen Jungmännern begab ich mich zu der von uns angemieteten Grillhütte. Dort waren Herr Kaiser und Zwergo mit dem Auspacken der Würstchen beschäftigt. Sie mussten diese Tätigkeit jedoch laufend unterbrechen. Immer wieder mussten sie Knaben verscheuchen, die auch lieber hier herumlungerten als eine der Parkattraktionen in Anspruch zu nehmen. Die Gründe dafür waren Herr Kaiser inzwischen bestens bekannt. Die Knaben hatten sie ihm bereits wiederholt genannt. Gekonnt äffte er ihren Wortlaut nach: «‹Es ist so langweilig hier.› – ‹Nichts macht Spaß.› – ‹Alles, was Spaß macht, kostet Geld.› Diese verwöhnten Kinder, es ist einfach nicht zu fassen!»

Den Vogel schoss jedoch ausgerechnet der schweigsame Joël ab. Er kommentierte das hiesige Angebot auf seine Weise. Schelmisch grinsend kam er mit einem Bollerwagen ins Bild gefahren. Jener Bollerwagen trug das Logo des Erlebniswaldes Trappenkamp. Das hatte vermutlich einfach den Grund, dass es sich um Eigentum des Parks handelte. Es hätte sich jedoch genauso gut um die einzige Werbefläche handeln können, die man sich leisten konnte. Eine Werbefläche, die man wohl allen Ernstes noch als cool empfand. Dieser Bollerwagen in Kombination mit Joëls schelmischem Grinsen veranschaulichte noch einmal in erschreckend kompakter Weise das Problem dieses Ausflugsziels: Er kam daher wie die Erfindung missionierungseifriger Gitarrenmenschen. Missionierungseifrige Gitarrenmenschen, die glaubten, viel besser zu wissen, was Kindern gefiel, als diese blöde Unterhaltungsindustrie.

Wem wir die Fahrt hier her zu verdanken hatten? Marc jedenfalls nicht. Marc war bekanntlich nach seinem Rücktritt als Vorstandsvorsitzender und aktiver Sänger weiterhin Geschäftsvorsitzender des Chores geblieben. Er hatte also im Stillen weiter eine Menge Fäden gezogen. Damit war seit Anfang des Jahres Schluss. Marc hatte auch dieses Amt aufgegeben.

Dieser endgültige Weggang war sang- und klanglos geschehen. Er hatte sich auch kaum bemerkbar gemacht. Lediglich die Rundschreiben hatten sich deutlich verändert. In inhaltlicher und noch mehr in qualitativer Hinsicht. Marc war mit seiner Schöngeisterei sicher mehr als einmal übers Ziel hinaus geschossen. Man denke an sein legendäres ‹Die Knaben nahmen zum Teil Mengen mit, die jegliches Maß überschritten›, in Bezug auf die mitgeführten Süßigkeiten. Ausdrucksschwächen und Zeichensetzungsfehler aber, die hatte es bei ihm nicht gegeben. Die gab es erst, seitdem irgendeine Chormutti das Ruder übernommen hatte.

Besagter Chormutti verdankten wir wohl auch den Erlebniswald Trappenkamp. Und auf die Frage, was an dem so toll war, hätte Opa Max wohl gesagt: «‹Nichts, würdige Dame!› Oder eben auch: ‹Nichtswürdige Dame.› Wer weiß das schon?» Marc hatte uns weiß Gott auch in genug Museen verschleppt. Ausdrücklich dem Spaß dienende Ausflugsziele aber hatten ausschließlich diesem gedient. Sie hatten uns nicht den Computer aberziehen sollen. Auf derartige Ideen wäre ein Marc nie gekommen. Marc hatte sich zu unserer Killerspiel-Leidenschaft überhaupt nicht geäußert. Er war keiner, der sich über Dinge ausließ, mit denen er sich nie ernsthaft auseinandergesetzt hatte.

Einmal mehr wurde deutlich, dass Marc einfach fehlte. Einmal mehr zeigte sich, dass das hier allmählich nicht mehr mein Chor war. Und hätte ich das auch erkannt, ich wäre vielleicht sogar ein wenig froh gewesen, dass meine letzte Chorreise schon zu Ende war.