Verspätete Reife

Perlen von Holstein Folge 194

Das Schullandheim Lankau hatte ein einmaliges Reiseziel sein sollen. Geworden war es eines jener Provisorien, die ewig hielten. Insgesamt drei Mal hatten wir die lange Fahrt in die holsteinische Wildnis angetreten – zuletzt für ein stinknormales Chorwochenende. Nun aber schienen wir ihr endlich entronnen zu sein. Das diesjährige Frühjahrschorwochenende konnte wunschgemäß im Sunderhof stattfinden. Wir bekamen sogar – zum ersten Mal nach zwei Jahren – endlich einmal den großen Probenraum. Er war bekanntlich der Grund dafür, dass wir von Maschen hierher gewechselt waren.

Zwergo war seit dem Weggang Marcs natürlich auch für die Zimmerverteilung zuständig. Diese Aufgabe hatte er stets zur vollsten Zufriedenheit von uns Jungmännern erfüllt. Ganz einfach, weil es eigentlich in jedem Heim mindestens ein Sechser- oder Achterzimmer gab, das dann natürlich für uns reserviert war. Im Sunderhof jedoch gab es nur Zweier- und vereinzelt Dreierzimmer. Ein Missstand, dem sich einfach begegnen ließ: Man quartierte uns Jungmänner alle in nebeneinanderliegende Räume ein. Genau das tat Zwergo jedoch nicht. Als Philipp und ich das uns zugewiesene Zimmer in Augenschein nahmen, stellten wir rasch fest: Außer Pascal war niemand aus unserer Altersgruppe in diesem Teil des Gebäudes untergebracht.

Ich sah das alles nicht so kritisch. Kein Mensch zwang uns schließlich, uns die ganze Zeit hier aufzuhalten. Wir könnten in einem der Räume der anderen Jungmänner Asyl suchen. Den unsrigen würden wir nur zum Schlafen betreten. Für Philipp keine Option. Ohne seinen Koffer auch nur abzulegen, stürmte er zurück zu Zwergo. Ich folgte ihm.

«Könnt ihr beide bitte kurz warten, bis ich mit der Zimmerverteilung fertig bin?», fragte Zwergo.

«Ja, geil», erwiderte Philipp, «damit dann alle Zimmer weg sind, oder was?»

«Ihr habt doch ein Zimmer von mir bekommen.»

«Ja, in einem Teil des Gebäudes, in dem außer uns beiden niemand von den Männern ist!»

«Natürlich sind wir Männer in dem Teil des Gebäudes.»

«Wer ist ‹wir Männer›?»

«Na, wir alle.»

«Wer ist ‹wir alle›?»

«Ja, Volker –»

Weiter kam Zwergo nicht. Philipp schnitt ihm mit seinem ganz speziellen empört-sarkastischem Blick das Wort ab.

Was nicht heißen sollte, dass er etwas gegen Volker gehabt hätte. Gegen Volker konnte niemand etwas haben. Das Problem war einfach nur, dass Volker rund dreißig Jahre älter als wir war. Er war zudem Gärtner. Ich musste dabei immer an jenen Aushang denken, über den wir uns in der siebten Klasse beinahe totgelacht hätten: ‹Traumberuf Gärtner›. Gärtner, das war für einen Killerspielspieler auf dem Zenit seiner Pubertät nun wirklich alles andere als ein Traumberuf. Ein Gärtner war in meinen Vorstellungen naturverbunden, in sich gekehrt und mit einem Blick für das Schöne in der Welt gesegnet. Volker war wohl all das und noch viel mehr. Er war somit keiner, mit dem man Spaß nach unseren Vorstellungen haben konnte. Keiner, der Spaß nach unseren Vorstellungen mit uns haben wollte. Das war völlig in Ordnung. Es war aber deshalb wohl auch in seinem Interesse, wenn Philipp und ich in die Nähe der anderen Jungmänner zogen. Auch Zwergo sah das nun, bei näherer Betrachtung, ein.

«Wartet», sagte er, «ich glaube, ich habe doch noch ein anderes Zimmer für euch.»

Zwergo drückte uns einen Schlüssel in die Hand. Er trug die Nummer des Zimmers neben dem von Guido und Frans.

«Na, bitte», sagte Philipp, «Und warum musste ich dafür jetzt erst so einen Aufstand machen?»

«Ich wollte halt sicher sein, dass euch die Sache wirklich wichtig ist», erwiderte Zwergo. Und da wurde mir Philipps Empörung auf einmal begreiflich.

Philipp und ich begaben uns zu dem frisch erstrittenen Zimmer. Es dauerte nicht lange, da war es von Jungmännern bevölkert. David, Guido, Frans und Leonard waren unsere Gäste. Hauptattraktion waren aber nicht Philipp und ich. Hauptattraktion war Davids neuer iPod Touch. Sein Bonzomat, wie er das Gerät liebevoll nannte. Er überlegte sogar, ob er die Bezeichnung auf die Rückseite eingravieren lassen sollte. Der iPod Touch bot alles, was man für den stundenlangen Musikhörspaß brauchte. Alles, außer einem vernünftig großen Lautsprecher. Der hätte in dem kleinen Gerät auch nie und nimmer Platz gefunden. Wer seine Musik in unangemessener Lautstärke genießen wollte, musste schon selbst die notwendige Hardware beisteuern. David verfügte aber über keine. Zumindest nicht hier.

Wir begaben uns deshalb zum Herbergsvater. David erhielt von ihm nicht nur zwei Billig-Computerboxen, sondern auch das WLAN-Passwort. Es war wirklich kaum zu fassen: Ein Ort, an dem ein Probenwochenende stattfand, verfügte über WLAN. In meinem Kopf war es ja irgendwie noch immer so: Wenn wir zum Chorwochenende fuhren, gab es dort nur so viel Zivilisation, wie selbst mitbrachten. Mobile Musikabspielgeräte, GameBoys, Killerspiel-Zeitschriften hielten für zwei Tage Einzug an Orten, an denen schon elektrisches Licht als neumodischer Schnickschnack zu gelten schien. Diese Zeiten waren vorbei. Sie schienen sich zumindest dem Ende zuzuneigen.

Ich wusste gar nicht, wie ich das finden sollte. Vor fünf oder sechs Jahren hätte ich gewiss gejauchzt. Jetzt fand ich, dass das doch eigentlich das Schöne an Chorwochenenden war: Sie bewiesen, dass man auch einmal für einige Tage ohne Internet auskommen konnte. Solange man mit den richtigen Menschen zusammen war, bemerkte man sein Fehlen mitunter kaum. Außerdem waren zwei Tage doch nun wirklich nicht lang. Wenn ich es so recht bedachte, kamen mir Chorwochenenden in letzter Zeit sogar immer ziemlich kurz vor.

Nun hatten wir aber nun einmal WLAN, also konnten wir es ruhig auch nutzen. David rief YouTube auf und spielte das Musikvideo von Sonnendeck ab. Sonnendeck war ein Lied, dessen Text als zusammenhangloses Gefasel zu verstehen war. Zumindest fand David das und lachte sich darüber tot. Ich kam jedoch zu einem anderen Ergebnis.

«Naja, so schwachsinnig ist das doch eigentlich nicht, wenn er singt: ‹Wenn ich nicht hier bin, bin ich auf’m Sonnendeck, bin ich, bin ich, bin ich. Oder im Solarium. Oder am Radar.› Das kann doch sein, dass er eben auf einem Kreuzfahrtschiff ist, wo es ein Sonnendeck und eben auch ein Solarium gibt. Ein Radar ist dort auf jeden Fall, mit irgendwas müssen sie sich im Ozean ja orientieren», sagte ich.

«Hm, stimmt, jetzt, wo du es sagst, erscheint das durchaus logisch», erwiderte David, «Aber dann ist das doch gerade geil: Du denkst erst, dass das totaler Schwachsinn ist. Dann fängst du an, darüber nachzudenken und plötzlich ergibt das alles irgendwie Sinn. So gesehen ist das Lied wie ein kleines Rätsel.»

Definitiv kein Rätsel, sondern der Lust am geistreichen Unfug erwachsen war das Lied gegen die Schwerkraft, ebenfalls von Peter Licht.

«Die Schwerkraft ist überbewertet, man braucht sie gar nicht, wie man ja wohl im Weltraum sieht. Und die Sonne kocht auch nur mit Wasser. Die soll sich nicht so aufspielen, die gelbe Sau.»

Wir lachten uns krumm und schief. Für David der ideale Anlass, auf Comedy umzuschwingen. Er spielte uns Brandenburg von Rainald Grebe vor.

«Es gibt Länder, wo was los ist – Es gibt Länder, wo richtig was los ist – Und es gibt – Brandenburg –»

Frans und Guido amüsierten sich köstlich darüber. Ich hätte es ihnen gerne gleichgetan. Das scheiterte jedoch an meiner mangelnden Bildung. Über Brandenburg wusste ich nur, dass es das Bundesland war, das Berlin umschloss. Ansonsten fiel mir nichts dazu ein. Ganz anders Rainald Grebe.

«Es ist nicht alles Lafayette, es ist meistens Lidl, kein Wunder, dass der Bogen nicht mehr fiedelt in Brandenburg –», reimte er, «Wenn man Bisamratten im Freibad sieht, dann ist man im Naturschutzgebiet –»

Frans und Guido amüsierten sich auch darüber köstlich.

Jetzt war aber Schluss mit lustig. Die Knaben mussten ins Bett gebracht werden und alle Männer außer mir waren eingespannt. Hatten die Knaben in Glücksburg noch ausgesprochen positiv darauf reagiert, waren sie jetzt aufmüpfiger. Im von Guido betreuten Zimmer leisteten sie gar so heftigen Widerstand, dass Zwergo eingreifen musste. Ich stand auf dem Gang und beobachtete das Spektakel. Neben mir stand Akira. Er war jedoch nicht aus Strafe hierhergeschickt worden. Akira durfte länger aufbleiben. Er war seit einigen Wochen im Stimmbruch. Eine Zeit, die bei ihm einen Reifeschub, ja, eine Läuterung bewirkt hatte.

«Jetzt weiß ich, wie sehr ich früher immer genervt haben muss», sagte er. Seine Sprachintonation erinnerte frappierend an die seines Vaters. Was Max-Frederick wohl dazu gesagt hätte?

Als dann doch endlich alle Knaben in ihren Betten lagen, waren meine Sangesbrüder zu erschöpft, um weiteren Schabernack zu treiben. David wollte Musik hören. Leonard, Guido und Frans Karten spielen. Einzig Philipp schien noch über ein wenig Energie zu verfügen. Er lieh sich den Schlüssel für den Probenraum. Dort setzte er sich ans Klavier. Ich gesellte mich zu ihm.

Philipp spielte die C-Dur-Sonate von Mozart. Ein Werk, das man schon alleine deshalb lieben musste, weil man Zwergo so wunderbar damit ärgern konnte. Er war offenbar kein Freund von zur Schau gestellter Leichtigkeit. Mich verband mit dem Stück, dass seine Anfangstakte wohl die erste klassische Musik waren, die mir je zu Ohren gekommen war. Ich kannte sie, seitdem ich drei Jahre alt war. Natürlich hatte ich sie weder gezielt, noch bewusst gehört. Volker Rosin verwendete sie als Einleitung seines Lieds Mozart, der kleine Frosch. Was darauf folgte, war der größte anzunehmende Gegensatz. Ein Kind aus intonationsfernen Schichten krächzte aus vollem Halse: «Der Frosch hat gute Laune – quak, quak, quak – drum holt er die Posaune – quak, quak, quak –» Das hatte ich schon damals nur mit Ablehnung zur Kenntnis nehmen können.

Philipps nächstes Stück kannte ich aus etlichen, nicht miteinander in Einklang zu bringenden Zusammenhängen. Es erklang im Intro von Alfred Jodocus Kwak, es erklang im Hauptmenü des Killerspiels Lemmings, es erklang immer mal wieder hier und dort. Philipp stellte es mir als Pachelbel-Kanon vor.

«Das ist eigentlich total billig», sagte er, «das besteht nur aus Quartfällen.»

Ich hatte zwar keine Ahnung, was ein Quartfall war, glaubte aber gerne, dass das etwas Billiges war. Das Wort klang jedenfalls, als würde es etwas Billiges benennen.

Hätte ich meine Klarinette dabei gehabt, ich hätte Philipp jetzt ebenso etwas vorspielen können. Ja, das hätte ich sogar sehr gut. Ich war vor einigen Wochen dazu übergegangen, jeden Tag zu üben und musste doch sagen: Seither fand ich mein Spiel richtig vorzeigbar. Wie es dazu gekommen war, konnte ich selbst nicht erklären. Ich hatte seit dem vergangenen Sommer keinen Unterricht mehr. Schuld daran war die Schule. Wie üblich war uns unser Stundenplan am ersten Schultag nach den Sommerferien bekanntgegeben worden. Mein Klarinettenlehrer hatte zu diesem Zeitpunkt längst sämtliche Wochentermine fest vereinbart. Eine Verlegung meines Unterrichts wäre, wenn überhaupt, nur mit unvertretbarem Aufwand möglich gewesen. Es war verständlich, dass mein Klarinettenlehrer darauf keine Lust hatte. So hatte ich nach fast sieben Jahren völlig unvermittelt Abschied von ihm nehmen müssen.

Wenn ich schon nicht Klarinette spielen konnte, so konnte ich wenigstens singen. Ich forderte Philipp auf, etwas aus unserem Chorrepertoire zu spielen. Wir entschieden uns für das Magnificat von George Dyson. Die von mir erwartete und erhoffte Gröl-Orgie scheiterte jedoch am unverhofften spieltechnischen Anspruch des Stücks.

«Alter, wie gut kann Herr Kaiser denn Klavier spielen? Das ist ja mal sowas von scheißeschwer», sagte Philipp, «Nee, ich glaube, wir machen doch lieber was Anderes.»

Wir wichen auf Jauchzet dem Herren von Schütz aus.