Betrübt sind meine Augen vom Weinen

Perlen von Holstein Folge 191

Februar 2008

Bei der Chorprobe spielten sich derzeit Woche für Woche emotionale Szenen ab.

«Videte», sang der Sopran und der gesamte Chor brüllte in vollem Tutti hinterher: «omnes populi!» Diesem Sturm folgte ein leises, sich über etliche Takte erstreckendes Wehklagen: «Si est dolor, si-i-imils sicut dolor me-eus.»

Übersetzt hießen diese Worte: «Sehet, ihr Völker alle, ob es einen Schmerz gibt, der meinem gleicht.» Entgegen meiner Annahme kamen sie jedoch nicht von einem verschmähten Liebhaber. Sie stammten aus der Bibel. Caligaverunt oculi mei von Tomás Luis de Victoria war geistlich. So schwer das angesichts der offen zur Schau gestellten Wehleidigkeit auch zu glauben war.

Ich hatte das Stück sofort ins Herz geschlossen. Es war so wunderbar sentimental, so herrlich italienisch: man wollte sich Rotwein einschenken und den Tränen freien Lauf lassen.

Meine Begeisterung für das Werk wurde von Philipp mehr als nur geteilt. Jede Woche ergötzten wir uns an den Schmerzen, von denen es berichtete, und an denen, die es bereitete. Die Knaben nämlich sangen nur in der Theorie ‹omnes populi›. In der Praxis sangen sie meist ‹omnes populis›. Verantwortlich dafür war nach Herrn Kaisers Vermutung Cantate Domino von Hassler, was wir dieses Jahr ebenso endlich wieder sangen. Darin hieß es an einer Stelle: ‹in omnibus populis›. Nun konnte ich mir gut vorstellen, dass selbst die alten Römer populi und populis schon einmal durcheinander gebracht hatten. Ein kleinerer Grammatikfehler unterlief schließlich jedem einmal. Als Sänger konnten wir uns aber eben nur solche Fehler erlauben, die das Publikum nicht hörte. Und ein deplatziertes S hörte das Publikum auf jeden Fall. Es war nun einmal ein Buchstabe, der gut durchdrang. Herr Kaiser bläute den Knaben deshalb immer wieder ein: «Passt um Himmels Willen bei der Stelle auf. Wenn nur einer von euch populis singt, wird das jeder mitkriegen.» Und so geriet selbst Zwergo beim Singen der Stelle bald dermaßen ins Grübeln, dass er regelmäßig zur falschen Wortform griff.

Von subtilerem Witz war das, was sich mit der Schlusswendung theoretisch anstellen ließ.

«Ey, Philipp», sagte ich, «könnte der Tenor am Schluss nicht theoretisch auch in Dur reinmodulieren? Das klingt voll danach.»

Philipp betrachtete die Noten.

«Haha, ja, satztechnisch wäre das richtig», erwiderte er.

Ich verdankte die Erkenntnis selbstredend nicht irgendwelchen profunden Kenntnissen über Satztechnik. Es war ganz einfach so, dass Tomás Luis de Victoria exakt die gleiche Schlusswendung verwendete wie Hermann Meinhard Poppen mehr als dreihundert Jahre später in seinem Satz von Es kommt ein Schiff, geladen. In jenem sollte der Tenor bekanntlich in der letzten Strophe in Dur hineinmodulieren. Das war satztechnisch richtig, kompositorisch jedoch offenbar ziemlich unbeholfen. Volker hatte jedenfalls bereits seine Bemerkungen darüber gemacht.

Es war übrigens äußerst unkameradschaftlich von mir, zur Probe zu kommen. Meinen alten Freund David brachte das in arge Bedrängnis. Der saß nämlich gerade zu Hause herum und lernte mutmaßlich für die anstehenden Abitur-Prüfungen. Ich hätte es ihm gleichtun können, sah jedoch keinen Sinn darin. Auf drei Stunden mehr oder weniger in der Woche kam es dabei doch nun nicht an. Und um mich von Lernen abzulenken, brauchte ich keine Chorprobe. Das konnte ich schon ganz alleine. Wie es um mein Verhältnis zur Work-Life-Balance bestellt war, wusste ich ja nun seit mindestens acht Jahren.

Damals hatte ich an meinem Computer gesessen und das Flippersimulations-Killerspiel Starball gespielt. Bis zu der mit meiner Mutter vereinbarten Hausaufgabenzeit waren es noch genau zwei Minuten gewesen. Weil in dem Spiel aber bislang alles verdammt gut für mich gelaufen war, hatte ich beschlossen, das ein wenig großzügiger auszulegen. Ich würde mit den Hausaufgaben anfangen, wenn ich verloren hätte. Und wenn bis dahin zehn oder fünfzehn Minuten vergingen, dann war das eben so. Mit dem Verlieren war es dann aber letztlich doch überraschend schnell gegangen. Pünktlich zu der mit meiner Mutter vereinbarten Hausaufgabenzeit war das Spiel vorbei gewesen. Das hatte mich dermaßen wütend gemacht, dass ich schon aus Prinzip noch eine halbe Stunde länger gespielt hatte.

Es verstand sich von selbst, dass ich derartigen Versuchungen in diesen Tagen von vornherein nicht nachgab. Gegen meinen ungewöhnlich großen Harndrang aber konnte ich nichts machen. Es war wirklich phänomenal: Kaum dass ich mich überwunden hatte, das Buch in die Hand zu nehmen, meldete sich meine Blase zu Wort. Hatte ich schließlich doch zu lesen begonnen, war auch schon wieder eine halbe Stunde vergangen. Zeit für eine kleine Pause. Gegen ein wenig Musikhören konnte doch schließlich keiner etwas sagen. Gerade in meiner jetzigen Situation war es wichtig, auch einmal auf andere Gedanken zu kommen. Und meine Pausen gingen ja auch nie länger als drei bis dreißig Minuten.

Das sollte natürlich nicht heißen, dass ich nicht nervös gewesen wäre. Ich wusste schließlich: Von den bevorstehenden Prüfungen hing schließlich alles ab. Wenn ich durchfiel, würde das jahrelange mühsame Durchwurschteln für die Katz gewesen sein. Und in etlichen Fächern hatte ich tatsächlich nichts anderes getan als mich durchzuwurschteln. Entsprechend überschaubar war die Anzahl der Disziplinen, die überhaupt als Prüfungsinhalte in Frage kamen. An meinen beiden Leistungskursen Geschichte und Englisch führte kein Weg vorbei, doch war das nicht tragisch. In Geschichte hatte ich – Age of Empires und Empire Earth sei Dank – stets mit fundiertem Grundwissen punkten können. Ich war deshalb in der zehnten Klasse gar von einer Lehrerin als gebildet bezeichnet worden. Was Englisch anbelangte: Die in englischsprachigen Killerspielen und auf englischsprachigen Internetseiten aufgeschnappten Vokabeln hatten meinen mangelnden Lerneifer noch immer kompensieren können. Gleiches galt für das von ihnen vermittelte Gefühl für einen genuinen englischen Satzbau. Ich konnte sicher sein, dass mir das alles in den Prüfungen ebenso helfen würde. Allerdings nur in Englisch und Geschichte. Bei der lieben Mathematik würde es mir überhaupt nichts nützen. Und genau das war das Problem.

Der Beginn meiner Mathematik-Karriere war glanzvoll gewesen. Die Unterrichtsinhalte hatten mich meist unterfordert; bei der Mathe-Olympiade hatte ich es zwei Mal bis zur Landesrunde geschafft. Dann jedoch hatte jene Referendarin das Zepter übernommen, die schon mein einst ausgeprägtes Interesse an Astronomie massakriert hatte. Wenige Wochen später hatte ich in Mathe meine erste Fünf geschrieben.

Bei ihren Nachfolgern und Nachfolgerinnen waren die Noten wieder besser geworden. Das war aber in erster Linie meinen Durchwurschtel-Künsten zu verdanken gewesen. Ich hatte einfach nicht mehr folgen können. Meine diesbezüglichen Bemühungen hatte ich bald aufgegeben.

In der Oberstufe hatte uns das Lehrerschicksal dann noch einmal besonders hart getroffen. Das erste halbe Jahr waren wir von einem Aushilfspädagogen unterrichtet worden. Er hatte jünger ausgesehen als viele von uns. Lärm in der Klasse war er stets mit folgendem Satz begegnet: «Also ich möchte jetzt bitte, dass ihr leise seid.» Unsere Reaktion war entsprechend ausgefallen und die erste Klausur sowieso. Jedoch: Danach war es steil Bergauf gegangen. Ich hatte zum ersten Mal seit Langem eine Zwei geschrieben.

So hätte es von mir aus ruhig weitergehen können. So war es aber nicht weitergegangen. Der Mann war durch eine Junglehrerin ersetzt worden, die anders als er über eine Festanstellung verfügte. Wie sie an die herangekommen war, war nicht abschließend zu klären gewesen. Gleich am ersten Tag hatte sie mit uns geredet, als ob wir alle ihrem Charme erlegen wären. Tief und innig war ihre Überzeugung, bei der männlichen Schülerschaft einen Stein im Brett zu haben. Wen sie besonders gern hatte, der konnte sich über Schultertätschler von ihr freuen.

Indes hatte die Wirklichkeit eher wie bei einem unserer alten Polizeikasper-Hörspiele ausgesehen. In jenem sagt der Oberhalunke zu den Kindern im Publikum: «Ihr seid doch in Wirklichkeit alle meine Freunde.» Die Antwort ist ein entschiedenes Nein. Der Mann trägt dies mit Fassung – wer ein guter Oberhalunke sein will, muss mit Zurückweisung umgehen können. Frau Lehrerin konnte das nicht. Wer eines ihrer Fehlverhalten als solches benannte, konnte sich auf etwas gefasst machen. Wir kleinen, volljährigen Schüler hatten sie schließlich nicht zu maßregeln.

Man hätte daher von Glück sprechen können, dass auch sie uns nur vorübergehend unterrichtet hatte. Als unser eigentlicher Mathelehrer zurückgekehrt war, hatte das Schicksal jedoch erst so richtig seinen Lauf genommen. Seit wohl fünfunddreißig Jahren unterrichtete der Mann inzwischen Mathematik. Fünfunddreißig Jahre, in denen er sich irgendwann damit abgefunden zu haben schien, dass niemand irgendetwas bei ihm verstand. Sein Unterricht war kaum mehr als solcher zu bezeichnen. Die meiste Zeit rechnete er an der Tafel etwas vor. Dabei übersprang er munter allerlei Zwischenschritte. Konnte jemand deshalb nicht folgen und geriet in Panik, verlor der Mann auch schon die Beherrschung. In wüsten Schimpftiraden konstatierte er, dass das doch nun wirklich selbsterklärend sei. Der Notendurchschnitt der ersten Klausur lag zwischen Fünf und Sechs. Unser Mathelehrer stellte hierzu fest, dass er sich ein solches Ergebnis bei der Arbeitshaltung dieses Kurses schon hatte denken können.

Meine Mutter hatte hingegen erkannt, dass es alles nichts half. Zwei Wochen vor den Prüfungen hatte sie einen Nachhilfelehrer für mich organisiert. Einen jungen Studenten, der mir in drei Tagen all das beibrachte, was ich sechs Jahre lang für nicht erlernbar gehalten hatte. Meine Nervosität konnte er von daher nicht im Geringsten nachvollziehen. «Wieso hast du denn Angst davor? Du kannst das doch. So schnell, wie du alles kapierst, schaffst du locker eine Zwei.» Ich versuchte, ihm zu glauben.

Am Tag der Prüfung schienen dennoch alle Hoffnungen verloren. Mein schlimmster Albtraum war wahrgeworden. Ein Albtraum namens Eulersche Zahl. So saß ich nun da und tippte reihenweise Nachkommastellen in meinen Taschenrechner ein. Jede beunruhigte mich mehr als die vorherige. Die Lehrerin unseres Parallelkurses wurde auf mich aufmerksam. Mit gütigem Blick besah sie meine Konstrukte.

«Ist doch alles richtig», sagte sie in breitestem Sächsisch, «Nun mach dich doch nicht verrückt.» Dabei tätschelte sie mir die Wange. Ich versuchte, ihr zu glauben.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Beethovens Vater zog es vor, seinen Sohn am Klavier zu drillen, statt ihn zur Schule zu schicken. Infolgedessen blieb dem Meister die Rechenkunst fremd. Lediglich das Addieren beherrschte er ein wenig. Das kleine Einmaleins ließ er sich dann wenige Monate vor seinem Tod von seinem Neffen beibringen. Mozart dagegen liebte das Rechnen. Es zog ihn als Kind dermaßen in seinen Bann, dass er nach Angaben seiner Schwester sogar die Musik dafür liegenließ. Als Schreibunterlage dienten ihm Tische, Stühle und Wände. Geschadet hat dies seiner Karriere bekanntlich nicht. Auch Beethoven wurde ein großer Musiker. Es zeigt sich: Selbst elementare Grundlagen der Mathematik gehören eher zu den optional zu erwerbenden Fähigkeiten.