Verleideter Siegestaumel

Perlen von Holstein Folge 186

Fünf Tage nach unserem Auftritt im Bundestag ließ der von Herrn Kaiser erhoffte Anruf einer einflussreichen Musik-Koryphäe noch immer auf sich warten. Unser Chorleiter war dennoch zufrieden.

«Gott b’hüte dich lief sehr gut», sagte er, «Ein paar kleine Mängel in der Intonation waren dabei, aber das kann bei der Aufregung und der Akustik in dem Saal natürlich passieren. Bei Es geht ein’ dunkle Wolk herein wart ihr dann merklich entspannter. Das war wirklich perfekt. Dazu kann ich nichts Negatives sagen. Wer bis an das Ende beharrt hat auch gut geklappt. Nur beim vorletzten Einsatz der Bässe, da möchte ich den Fernseher immer ganz leise drehen. Der zweite Ton ist zu hoch, ihr singt da ein H anstelle eines Bs.»

«Hä?», entgegnete ich, «Das haben Sie doch so mit uns geprobt. Ich weiß ganz genau, dass wir den Ton eigentlich tiefer singen wollten, Sie dann aber gesagt haben, dass wir höher singen müssen. Sie haben die Stelle dann so oft mit uns durchgenommen, bis wir das gemacht haben.»

«Bitte, Lennart? Das soll ich gemacht haben?»

«Ja», sagte Guido. «Das habe ich auch so in Erinnerung.»

Und wenn sich jemand außer mir an etwas erinnerte, dann musste klar sein, dass es sich um ein gewichtiges Ereignis handelte. Gewichtig genug, um uns vor einer Million Zuschauern einen Ton singen zu lassen, der uns die ganze Zeit schon irgendwie spanisch vorgekommen war. Wenn Herr Kaiser sagte, dass das so richtig war, würde es schon stimmen. Und Herr Kaiser hatte gesagt, dass das so richtig war. So wahr ich hier saß und Zeuge der Fassungslosigkeit unseres Chorleiters wurde. Eine Stunde später hatte er unsere Beschwörungen noch immer nicht verdaut. Wir waren längst bei einem völlig anderen Thema angelangt, da ließ er erneut das Haupt sinken.

«Da erzählen die mir, ich hätte das so mit ihnen geprobt. Ist das zu glauben?», sagte er. In seinem Gesicht machte sich ein sardonisches Grinsen breit.

Ebenjenes sardonische Grinsen war es, mit dem unser Chorleiter uns eine Woche später zur Probe empfing. Verantwortlich dafür waren jedoch nicht wir, sondern ein Besucher unseres Adventskonzerts in der Marktkirche Niendorf. Bei jenem handelte es sich um eine dem Chor nahestehende Person, einen Menschen vom Fach also. Ein Mensch vom Fach, der Herrn Kaiser eine E-Mail geschrieben hatte.

«Und wisst ihr, was da drin stand?», sagte Herr Kaiser, «Der schreibt doch tatsächlich, dass es dem Chor an emotionalem Ausdruck fehlt und ihr die Schlusskonsonanten wegziehen würdet. Könnt ihr euch das vorstellen?»

Statt auf eine Antwort zu warten, fing er an zu proben. Er hoffte wohl, so auf andere Gedanken zu kommen. Wir ließen ihn jedoch nicht.

«Das habt ihr sehr gut gemacht», sagte er zu den Knaben.

«Da fehlte es jetzt aber an emotionalem Ausdruck», bemerkte ich.

«Die Schlusskonsonanten waren weggezogen», fügte Philipp hinzu.

Und schon war es wieder da, das sardonische Grinsen.

«Ja –», sagte Herr Kaiser und schüttelte den Kopf. Er fand diese Ungeheuerlichkeit definitiv nicht zum Lachen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Wer ein großer Künstler sein will, der muss hin und wieder unqualifizierte Kritik ertragen. Wahre Geistesgrößen sind ihr sogar Zeit ihres Lebens ausgesetzt. Max Reger gehörte dazu, ohne sich jedoch viel daraus zu machen. Vielmehr lieferte er ein Musterbeispiel dafür, wie unqualifizierter Kritik umzugehen ist. Dem Rezensenten einer angesehenen Tageszeitung schrieb er: «Sehr geehrter Herr Rezensent, ich sitze im kleinsten Zimmer meines Hauses und habe Ihre Kritik vor mir liegen. Bald werde ich sie hinter mir haben. Hochachtungsvoll, Max Reger.»

Fürwahr, unser Chorleiter musste in diesen Tagen einiges mitmachen. Nicht einmal vor den Mauern unserer geliebten Hauptkirche St. Jacobi hatte man ihn geschont.

«Wisst ihr», erzählte er, «ich kam neulich beim Weihnachtsmarkt von St. Jacobi vorbei und dann gab es da doch tatsächlich so einen Stand mit drei solchen Plüschweihnachtsmännern, die zu Weihnachtsschlagern ungelenke Bewegungen ausführen. Und ich muss euch sagen: Diese Bewegungen und dieser Gesang: das war das schlimmste, was ich dieses Weihnachten bisher erlebt habe.»

Ich lachte und wunderte mich doch. Herr Kaiser war jetzt seit fast fünf Jahren unser Chorleiter. In dieser Zeit hatte er uns durch vier Weihnachtssaisons geführt. In jeder dieser vier Weihnachtssaisons hatten wir mindestens zwei Auftritte in St. Jacobi gehabt. Wie zum Geier hatte er es fertiggebracht, die berühmten drei Plüschweihnachtsmänner zu übersehen, die sich dort jedes Jahr in die Herzen der Besucher grölten? Sie standen immer an der gleichen Stelle: Auf halbem Wege zwischen Kirche und dem U-Bahnhof Mönckebergstraße. Wer wie Herr Kaiser mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr, konnte sie nicht übersehen. Überhören konnte man sie schon gar nicht. Es sei denn natürlich, man wollte das. Ich kannte aber niemanden, der das wollte. Meine kleine Schwester ging jedes Jahr nur deshalb zum Weihnachtsmarkt von St. Jacobi, um die drei singen und tanzen zu sehen. Unser Chorleiter besaß aber auch wirklich ein Herz aus Stein.

Dabei hätte er allen Grund gehabt, sich auch mal von seiner lockeren Seite zu zeigen. Keine zwei Wochen nach dem Bundestagsauftritt hatte er bereits den nächsten großen Fisch an Land gezogen: Das Label Rondeau Productions hatte Interesse bekundet, eine CD mit unserem Weihnachtsprogramm zu produzieren. Eine große Ehre. Rondeau Productions war, wie ich wusste, das Stammlabel des Windsbacher Knabenchors. Fast alle Windsbacher-CDs, die ich besaß, waren von Rondeau.

Herr Kaiser hatte es wirklich geschafft. Zudem konnte er eine durchaus nicht unerhebliche Schmach wiedergutmachen. Der Magdeburger Knabenchor hatte uns nicht nur in beiden Fußballspielen geschlagen, er hatte auch ein wesentlich größeres Angebot an Aufnahmen vorzuweisen gehabt. Sage und schreibe fünf verschiedene CDs hatten auf ihrem Verkaufstisch gelegen. Richtige CDs, die in richtigen Plastikhüllen steckten. Unsere Mini-CD hingegen steckte in einer Papptasche, die an einen Flyer geklebt war. Nichts, mit dem man jemanden hätte beeindrucken können.

Herr Kaiser hatte sich dazu natürlich nicht geäußert, zumindest nicht von sich aus. Ich hatte ihm eine Äußerung dazu entlockt, wenn auch eher unbeabsichtigt. Der Magdeburger Knabenchor hatte neben versierten Fußballspielern und einem reichhaltigen CD-Angebot auch zwei geschäftstüchtige Mütter vorzuweisen. Ohne Scheu hatten sie mich angesprochen und mir ein Exemplar von 20 Jahre – 1985 bis 2005 verkauft. Voller Stolz hatte ich Herrn Kaiser die CD präsentiert.

«Ja, der Herr Satzky hat mir damals auch gleich erst mal ganz viele CDs zugeschickt», hatte er gesagt.

All diese CDs waren aber im Selbstverlag erschienen. Zumindest, soweit ich das überblickte. Unsere würde, wie gesagt, bei Rondeau erscheinen, dem Label des Windsbacher Knabenchors. Herr Kaiser versprach sich von ihr nicht weniger, als dass sie uns auch bundesweit ein wenig bekannter machen würde. Und obwohl die Aufnahmearbeiten erst Ende August stattfinden sollten, liefen die Vorbereitungen bereits auf Hochtouren. Wann immer er und Zwergo sich auf einen gemeinsamen Termin einigen konnten, besuchten sie Kirchen. Unsere CD sollte schließlich nicht in irgendeinem Gotteshaus entstehen, sondern in dem mit der bestmöglichen Akustik.

Darüber hinaus konnte unser Chorleiter uns in diesem Jahr plötzlich doch einen vierstimmigen Satz von Es singt und klingt mit Schalle anbieten. Auf dem Notenblatt war kein Komponist angegeben. Es sah zudem verdächtig danach aus, als wäre es mit irgendeinem Heimanwenderprogramm erstellt worden. Philipp schlussfolgerte daher schnell, von wem dieser Satz eigentlich nur stammen konnte.

«Haben Sie das komponiert?», fragte er in der Männerprobe.

«Ja», erwiderte Herr Kaiser, «wieso fragst du?»

«Nur so. Es steht ja nicht da, von wem das ist.»

«Naja, das muss ja nun auch niemand wissen, oder?»

Unserem Chorleiter war die ganze Angelegenheit offensichtlich peinlich. Grund genug, noch ein wenig weiter auf ihr herumzureiten.

«Wird das denn in den Programmheften stehen, dass Sie das komponiert haben?», fragte ich.

«Eher nicht, Lennart», erwiderte Herr Kaiser, «Wobei: Ich glaube, bei der CD muss das hinten draufstehen.»

«Das schreiben wir auf die Plakate drauf: ‹Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach, Ulrich Kaiser›.»

Inspiration für diesen Witz waren die Windsbacher-CDs aus dem Hause Rondeau. Auf deren Covern wurde stets mit sämtlichen Komponisten geworben, deren Werke erklangen. Ganz gleich, ob diese nun Johann Sebastian Bach hießen oder Gottfried Müller.

Unser Chorleiter begriff nun offenbar endlich, dass er kooperieren musste, wollte er aus dieser Nummer jemals herauskommen. Ein schwärmerisches Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit.

«‹Chorsätze Alter Meister: Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach und Ulrich Kaiser›», sagte er.

Der ganze Probenraum lachte und das aus gutem Grund. Ich konnte es ja direkt vor mir sehen:

Links, durchaus füllig, Heinrich Schütz. Der Dreißigjährige Krieg hatte seine Spuren an ihm hinterlassen. Mit leidvollen Augen sah er einen an. In der Hand hielt er ein zusammengerolltes Notenmanuskript. Der Betrachter durfte seinen Inhalt nicht sehen. Dieser war für höhere Zwecke bestimmt. In der Mitte, äußerst stattlich, Johann Sebastian Bach. Der Mann war wie immer sehr geschäftig. Er machte ein Gesicht, als würde er sagen wollen: ‹Stör mich nicht, ich muss Werke von Weltgeltung schaffen.› In der Hand hielt er den Autograph eines Rätselkanons, auf dass sich der Betrachter die Zähne daran ausbeißen möge. Rechts, spargeldürr, unser Chorleiter. Mit einer dicken Falte in der Stirn stierte er auf die labberige Kopie eines Notenblattes. Für den Betrachter interessierte er sich nicht. Ihn beschäftigte vor allem die Frage, wie er den Knaben das nun wieder erklären sollte.

Angesichts solcher Fantasien war es nur zu verständlich, dass Herr Kaiser nicht als Komponist des vierstimmigen Satzes bekannt sein wollte. Anlässe zu sardonischem Grinsen gab es ja auch so schon mehr genug. Doch, nun ja: Jetzt war das Kind in den Brunnen gefallen.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Wem die Götter das Talent zum Dirigieren gegeben haben, der will, dass alle Welt seinen Namen kennt. So zumindest ist es in den allermeisten Fällen. Alfred Scholz wollte das nicht. Alfred Scholz wollte nur Aufnahmen machen. Zumindest ist das zu vermuten. Das Licht der Öffentlichkeit hat er nie gesucht. Alfred Scholz hat nur Aufnahmen gemacht. Von jedem auch nur halbwegs bekannten Werk mindestens eine. Damit am Ende nicht doch alle Welt seinen Namen kennt, hat er häufig andere benutzt. Mal hieß er Alberto Lizzio, mal Vladimir Petroschoff, mal auch einfach nur Alfred Scholz. Ähnlich variantenreich waren die Namen der Orchester, auf die er bei seinen Aufnahmen angeblich zurückgegriffen hatte. Sie hießen Baroque Festival Orchestra, Radiosinfonieorchester Ljubljana oder Süddeutsche Philharmonie. Um die Verwirrung vollkommen zu machen, hat er die gleiche Aufnahme an drei verschiedene Labels verkauft und jedes Mal andere Interpreten angegeben. So kommt es, dass heute wohl fast jeder Klassikliebhaber Aufnahmen von Alfred Scholz besitzt, aber kaum einer seinen Namen kennt.