Die Stunden vor der Schlacht

Perlen von Holstein Folge 184

Was an diesem Sonntagvormittag in Herrn Kaiser vor sich ging, konnte man allenfalls ahnen. Er war bekanntlich emotionaler, als er auf den ersten Blick schien. Frau Siebenkittel hätte, sofern sie dem Bundestags-Auftritt ähnlich viel Bedeutung beigemessen hätte wie er, wohl längst Nerven gezeigt. Noch zu gut erinnerte ich mich an ihre Wutausbrüche vor dem Chorwettbewerb und der Generalprobe des War Requiems. Herr Kaiser hingegen war in den vergangenen Tagen und Wochen nicht spürbar mürrischer gewesen als sonst. Sein Auftreten entsprach durchaus seiner inneren Überzeugung. Imanuel hatte ihn heute Morgen am Frühstückstisch gefragt, ob er eigentlich besonders nervös wäre. Unser Chorleiter hatte entgegnet, dass er nicht angespannter sei als vor anderen Auftritten auch. Das erschien allerdings wenig glaubhaft, wenn er bei erster Gelegenheit klarstellte: «Wenn ich einen von euch am Süßigkeiten-Automaten erwische, dann raste ich mal so richtig aus, wisst ihr das?»

Bei unserer zweiten Probe im Plenarsaal ließ es sich dann endgültig nicht mehr leugnen: Die Nerven unseres Chorleiters waren bis zum Zerreißen gespannt. Ein Knabe meldete sich zu Wort.

«Herr Kaiser, ich muss mich hinsetzen, die Luft hier drin –» Er unterstrich seine Äußerung, indem er seinen Kragen weitete.

Normalerweise hätte unser Chorleiter ihn nun ausdrücklich dafür gelobt, dass er nicht den Helden spielte. Heute aber lautete seine Antwort: «Jaja, ‹die Luft hier drin›. Du hast doch bestimmt heute Morgen wieder nicht ausreichend gegessen. Ja los, setz dich hin! Stör uns nicht weiter!»

Eine Reaktion, die ich doch etwas übertrieben fand. Mit schlechter Luft verhielt es sich nun einmal wie mit Schlafmangel. Sie machte einem nur dann etwas aus, wenn man fremdgesteuert wurde. Tief versunken in Musikbeschallung oder Killerspielen hatte sie mich jedenfalls noch nie gestört. Opa Max hätte dem Jungen wohl einfach vorgesungen:

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Beim Mittagessen in der Bundestags-Kantine schien dann zunächst alles wieder gut zu sein. Drei Speisen gab es zur Auswahl. Und es war sogar eine dabei, zu der Opa Max nicht gesagt hätte: ‹Und wie nennt sich das?› Die Servierform entsprach dann allerdings doch dem, was man in einem solchen Ambiente erwartete. Sprich: Es gab riesige Teller mit winzigen Portionen. Ich wusste seit unserer Fahrt nach Regensburg Anno 1998, dass so etwas vornehm ist. Herr Kaiser trotz ausgedehnter Mitgliedschaften beim Dresdner Kreuzchor und dem Windsbacher Knabenchor allem Anschein nach nicht. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

«Ist das wirklich alles?», fragte er die Dame hinter dem Tresen.

Er sah die vor einer Million Zuschauern auf der Regierungsbank zusammenbrechenden Knaben wohl schon vor sich.

Die Dame konnte seine Frage leider nur wahrheitsgemäß beantworten: Ja, das war alles. Mehr durfte sie uns nicht geben.

Unser Chorleiter fackelte nicht lange. Mit einem Ausdruck von Entschlossenheit stürmte er aus der Kantine, offenbar auf der Suche nach einem Verantwortlichen. Als er wiederkam, hatte er erreicht, dass wir alle noch eine Brezel nehmen durften.

Philipp bemühte indes eine zum Ambiente passende Passage aus Loriots Pappa ante Portas.

«‹Wenn ich jetzt noch einmal Birne Helene höre, werfe ich mich hier auf den Boden und beiße in die Auslegeware.› – ‹Ach, was!›»

Anschließend zitierte er Loriots Bundestagsrede: «Politik bedeutet, und davon sollte man ausgehen, das ist doch, ohne darum herum zu reden, in Anbetracht der Situation, in der wir uns befinden. Ich kann meinen politischen Standpunkt in wenigen Worten zusammenfassen: Erstens: das Selbstverständnis unter der Voraussetzung, zweitens, und das ist es was wir unseren Wählern schuldig sind, drittens: die konzentrierte Beinhaltung als Kernstück eines zukunftweisenden Parteiprogramms.»

Wir lachten uns krumm und schief. Es war wirklich ein Jammer, dass alle Chancen, sich im Plenarsaal hinter das Rednerpult zu stellen, inzwischen vertan waren. Wir hatten der Versuchung vorhin ja schon kaum widerstehen können.


Nach dem Mittagessen war es noch eine Stunde bis zum Auftritt. Es wurde uns gestattet, uns frei im Gebäude zu bewegen. Auf unseren Streifzügen stellte Guido fest, dass sich die Türschilder an den Büros mühelos aus ihren Halterungen entfernen ließen.

«Ey, lass mal mitnehmen. Das kann man dann jemandem zeigen und sagen: ‹Hier, hab’ ich aus’m Bundestag›», sagte er

Wir widerstanden dieser Versuchung jedoch ebenso. Das war auch wirklich besser so. Wie sinnvoll verständlich beschilderte Türen waren, sollte ich schon kurze Zeit später erfahren. Die Toilettenräume waren nicht verständlich beschildert. Ich jedenfalls konnte nicht sagen, welches Symbol hier für einen Mann und welches für eine Frau stand. Da auch niemand aus einer der beiden Türen herauskam und zudem Eile geboten war, wählte ich auf gut Glück die linke. Ein Fehler, wie ich erst bemerkte, als ich in der Kabine sitzend das Klackern von Stöckelschuhen vernahm. Ich wartete, bis die Luft rein war und schlich nach draußen.

Als ich zu unserem Aufenthaltsraum zurückkehrte, erzählte Volker einem Abgeordneten gerade einen Bratscherwitz.

«Was haben eine Bratsche und eine Handgranate gemeinsam? Wenn man sie hört, ist es meistens schon zu spät.»

Der ganze Saal lachte.

Nun aber wurde es ernst. Herr Kaiser trat nach vorne und bat uns, Platz zu nehmen. Dann hielt er eine Ansprache.

«Heute werden wir vor so vielen Leuten singen, wie vielleicht kein zweites Mal in unserem Leben. Das wird ein Auftritt sein, der uns als Chor möglicherweise unglaublich weiter bringt. Wir wissen nicht, wer unter den Zuhörern sein wird. Es werden natürlich auch viele dabei sein, die nicht viel von Chormusik verstehen. Aber wer weiß, vielleicht kommt ja nächste Woche ein Anruf von jemandem, der sagt: ‹Ich habe Kontakte. Ich kann eurem Chor helfen.› Ich möchte deshalb bitte, dass ihr alles gebt.»

Wir begaben uns zum Eingang des Plenarsaals. Hier standen wir einige Minuten versammelt. Wir harrten der Dinge. Unser Chorleiter hätte sich das wohl gerne erspart. Doch wann wir einziehen würden, entschied heute nicht er. Es entschied der Mann, der die gläserne Eingangstür aus der Ferne steuerte. Tatsächlich öffnete sie sich nun wie von Geisterhand und gab den Weg frei. Der große Augenblick war da. Nun gab es kein Zurück mehr. In meinem Kopf erklang diese vertraue Melodie aus dem Killerspiel Emperor: Die Schlacht um Dune.

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«Ey, hier hat doch gerade jemand geflümt», sagte Frans.

«Geschorzt, hahaha!», erwiderte Philipp.

Kichernd betraten wir die Arena.