Ein Schauplatz großer Debatten

Perlen von Holstein Folge 183

Unser Auftritt im Bundestag fand bekanntermaßen anlässlich des Volkstrauertags statt. Der Volkstrauertag war Mitte November. Was die genaue Ursache dafür war, wusste ich nicht. Es mochte damit zusammenhängen, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg in einem November verloren hatte. Andererseits hätte er dann natürlich genauso gut im Mai abgehalten werden können. In einem Mai hatten wir schließlich den Zweiten Weltkrieg verloren. Die Niederlage war ungleich krachender gewesen. Doch wenn ich so nach draußen blickte, den grauen Himmel, die kahlen Bäume und vergleichbares Elend sah, konnte ich nur zu dem Schluss kommen: Für einen Volkstrauertag gab es keinen geeigneteren Monat als den November.

Wir befanden uns auf der Autobahn in Richtung Berlin. Wer uns sah, konnte nicht ahnen, welche ruhmreichen Taten uns schon bald bevorstanden. Es war eigentlich wie immer. Nun ja, nicht ganz: Zwergo hatte uns mal wieder das Singen verboten. Da das in Zukunft aber wohl die Regel sein würde, war doch alles wie immer.

Ich nutzte die Zeit, um ein wenig mit meinem iPod anzugeben. Darauf befand sich eine Aufnahme von Gott b’hüte dich, dem ersten Stück unseres Bundestag-Programms. Sie stammte, wie sollte es auch anders sein, vom Windsbacher Knabenchor. Herr Kaiser hatte sich aber dankenswerterweise nicht vollständig nach ihr gerichtet. Wir sangen die ersten drei Strophen des Stückes, die Windsbacher hingegen die erste und die vierte. Die vierte Strophe war grauenhaft. Sie machte die schöne untröstliche Stimmung vollkommen zunichte. Die Traurigkeit des Abschieds wurde plötzlich relativiert. ‹Doch übers Jahr komm ich fürwahr wied’rum zu dir, tu dich so hart nit grämen. Will dennoch jetzt ein’ freundlich’ Urlaub nehmen›, lautete sie. ‹Ein’ freundlich’ Urlaub›, was sollte das denn bitte heißen? Musste sich da etwa jemand von mir erholen?

Guido war von der Aufnahme ebenso nur bedingt angetan.

«Also dieser Instrumentalteil, das finde ich jetzt nicht so geil», sagte er.

Recht hatte er. Was das Ulsamer Collegium hier lieferte, war wenig überzeugend. Es mochte daran liegen, dass Gott b’hüte dich den Einsatz von Krummhörnern und Tamburinen nicht zuließ. Genau auf diesen beiden Instrumenten brillierte das Ulsamer Collegium aber am meisten, wie es beim Schäfertanz «Ohne Fels» und Kommt, ihr G’spielen eindrucksvoll bewies.

Ich war davon ausgegangen, dass uns der Auftritt im Bundestag einen Aufenthalt in einem edlen Hotel einbringen würde. Wir wurden jedoch in einer Jugendherberge untergebracht. Sie lag unweit des Potsdamer Platzes und war ein Meisterstück unansehnlicher Baukunst: Ein weiß-grauer Flachbau mit Fensterreihen, mit denen sich Häuser sonst als Schulgebäude outeten. Ein Banner über dem Eingang verkündete nicht ohne Stolz: ‹100 Prozent Jugendherberge›. Noch eindringlicher konnte man Philipp und mich gar nicht mehr anflehen, uns über jeden noch so kleinen Missstand lustig zu machen. Und Missstände gab es hier zu Hauf. Von zu engen Zimmern mit zu vielen Betten bis hin zu einer Baustelle im Nebenraum.

Nach einem kurzen Mittagessen fuhren wir zu unserem Auftrittsort: Dem Reichstagsgebäude. Die letzten Meter dorthin mussten wir zu Fuß zurücklegen. Eine ideale Gelegenheit, das Regierungsviertel in Augenschein zu nehmen, wenn man das denn wollte. Es war von beeindruckender Hässlichkeit: Ein architektonisches Tohuwabohu. Ruine stand neben Neubau. Neubau neben Altbau. Altbau neben Ruine. Dazwischen klafften riesige Freiflächen. Sie erinnerten mich an Schauplätze des Killerspiels Serious Sam: The Second Encounter. Dort aber waren solche Ebenen spielerisch sinnvoll und gestalterisch schön gewesen. Vor allem aber hatte die Scheibe meines Monitors mich vor dem Wind geschützt, dem man an ihnen ausgesetzt war.

Endlich waren wir am Reichstagsgebäude angekommen. Über die lange Schlange an der vorderen Treppe konnten wir nur müde lächeln. Man ließ uns durch einen Nebeneingang ein. Dort mussten wir eine Glasschleuse durchlaufen, in der wir wahrscheinlich durchleuchtet wurden. Die Sicherheitsleute waren aber erkennbar bemüht, unsere Zeit nicht länger als nötig zu beanspruchen. Allem Anschein nach wurde ein Knabenchor nicht als Risiko eingestuft.

Vom Eingang ging es direkt zum Plenarsaal. Man betrat ihn durch eine offenbar ferngesteuerte Glastür. Durch sie konnte man auch bereits sehen, dass er irgendwie sonderbar klein war. Kleiner als er im Fernsehen immer aussah. Kleiner als man sich den Raum vorstellte, von dem unser ganzes Land aus regiert wurde. Vor allem aber: Zu klein, um Platz für ein Podest zu bieten. Wir nahmen auf der Regierungsbank Platz.

Grund für unsere Anwesenheit war natürlich nicht der Auftritt vor einer Million Zuschauer. Der würde erst morgen stattfinden. Heute sollten wir uns erst einmal mit der Akustik des Raumes vertraut machen. Herr Kaiser hatte uns bereits gewarnt, dass wir uns nicht wundern sollten, wenn wir außer dem Nebenmann niemandem hörten. Nach seinem Kenntnisstand war die Akustik hier für jeden Chor ein wahrgewordener Albtraum. Er wusste das aus zuverlässiger Quelle: Von seinem großen Vorbild Karl-Friedrich Beringer, dessen Windsbacher Knabenchor bekanntlich ein Jahr vor uns hier gestanden hatte. Nachdem wir jedoch probehalber die erste Strophe von Gott b’hüte dich gesungen hatten, war klar: Alles halb so wild. Die Akustik war zwar weiß Gott nicht die dankbarste, doch würden wir mit ihr fertig werden, wenn wir uns Mühe gaben. Und davon, dass wir uns Mühe gaben, ging Herr Kaiser aus. Das machte er uns allen klar. Ohne Worte, ohne Gestik und ohne Mimik, nur durch sein Dirigat. Es war deutlich zu erkennen, dass er nervös war. Er ruderte derart wild mit den Armen herum, dass wiederholt Tontechniker herbeirannten und Mikrofone vor ihm in Sicherheit brachten.

Nach der Probe stand der obligatorische Ausflug auf dem Plan. Wo es hingehen sollte, wusste ich nicht. Nach meiner Einschätzung zu irgendeinem der vielen, vielen Berliner Museen. Doch weit gefehlt: Wir gingen ins Imax, ein 3D-Kino am Potsdamer Platz. Den Weg dorthin legten wir zu Fuß dorthin, wobei wir unweigerlich am Brandenburger Tor vorbeikamen. Es mochte sein geschichtsträchtiger Anblick gewesen sein, der Philipp und Lars dazu bewog, folgendes Lied zu singen: «Wir bau’n die Mauer wieder auf, denn langsam wird uns das zu dumm. Aber nicht mehr mittendurch, diesmal bau’n wir außen rum. Dann feiern wir zwölf Monate im Jahr Oktoberfest und hoffen dass die Welt da draußen uns in Ruhe lässt –»

Weil es natürlich doch nicht ganz ohne Bildung ging, sahen wir im Imax einen Lehrfilm über Dinosaurier. Er war reichlich oberflächlich und jeder pädagogische Inhalt diente nur als Aufhänger für eine Reihe von Spezialeffekten. Ich war nur mäßig angetan, vermutete aber, dass die Knaben begeistert waren. Und, nun ja, ein Kinosaal so groß wie eine Lagerhalle, das gab es so wohl wirklich nur in Berlin. Darin gewesen zu sein, war etwas Besonderes.

Den Rest des Abends verbrachten wir Männer im Achterzimmer der ‹100 Prozent Jugendherberge›-Jugendherberge. Es ging eher langweilig zu. Eine gute Gelegenheit, endlich einmal anzusprechen, was mir schon so lange auf dem Herzen lag.

«Weißt du, Frans», sagte ich, «ich fand das ja so geil, wie du in Glücksburg, wenn jemand einen fahren lassen hat, immer gesagt hast: ‹Ey, irgendjemand hat hier doch gerade richtig übelst gemokkat›. ‹Gemokkat›, hahaha.»

Frans lachte.

«Ja, haha», sagte er, «‹gemokkat› ist geil, was? Geil ist auch ‹geflümt›, hahaha.»

«Hahaha, geflümt», erwiderte ich, «hahaha.»

Leonard hatte die ganze Zeit lang stumm auf seinem Bett gesessen. Er war im Allgemeinen bisher nicht dadurch aufgefallen, dass er viel zu unseren Späßen beitrug. Das sollte sich heute Abend grundlegend ändern.

«Ey, wisst ihr», sagte er, «damals auf der Deutschlandtour, in Frankfurt, da stand David unter der Dusche. Und als er gerade fertig ist, hört er aus der Kabine neben sich so ein Furz-Geräusch und danach so: Klecks! Und dann sagt der Typ, der in der Kabine steht, zu einem anderen: ‹Ey, Digga, ich habe hier gerade voll geschorzt.› David wollte natürlich wissen, was damit gemeint ist und guckt halt durch die Rille unter der Kabinenwand durch. Und, ähm, wisst ihr, was Schorzen ist?»

«Nein», erwiderten wir.

«Das ist eine Mischung aus Scheißen und Furzen. So eine kleine, feuchte Kackwurst lag dort rum.»

Philipp, Frans und mich befiel ein Lachanfall, der denen von Prag alle Ehre gemacht hätte.

«‹Geschorzt›, hahaha, ‹geschorzt›.»

Es störte uns nicht einmal, dass es wohl eigentlich ‹geschurzt› heißen musste. ‹Geschorzt› klang bei näherer Betrachtung auch viel besser.

David konnte sich zu dieser Geschichte wohlgemerkt vorerst nicht äußern. Er war seit rund einer Stunde damit beschäftigt, in irgendeinem Knabenzimmer für Ruhe zu sorgen. Als er endlich wiederkam, konfrontierten wir ihn mit unseren frisch erlangten Kenntnissen.

«Oh nee, hört auf», sagte er, «ihr müsst euch das mal vorstellen: Ich stand unter der Dusche, dem Innbegriff von Reinheit und Hygiene. Und dann muss ich mitkriegen, wie –»

Der Rest seines Satzes ging in unserem Lachanfall unter.

«Ey, David», sagte ich, «ist der Schorz dann eigentlich zu dir in die Kabine gekommen und dein Bein hochgekrabbelt? Hahaha!»

«Hör auf», erwiderte David.

«Der Schorz war bestimmt am nächsten Tag in seinen Frühstückflocken drin. Hahaha!», sagte Philipp.

«Hör auf», erwiderte David.

«Genau, hahaha», sagte ich, «der schwamm in seinem Müsli, hahaha!»

«Passt bloß auf», erwiderte David, «sonst gibt es morgen Schorz auf Toast.»

Eine Drohung, die unseren Lachanfall beabsichtigterweise nur verstärkte. David hatte seinen sinnlosen Widerstand gegen das Thema offensichtlich aufgegeben. So konnten wir es also endlich in tausend Variationen verarbeiten. Als wir uns endlich hinlegten, war unser Mund noch immer voll Lachens. Wir fühlten uns nur allzu bereit, es mit einer Million Zuschauer aufzunehmen.