Bildungsfunk

Perlen von Holstein Folge 182

November 2007

Zwei Wochen waren es noch bis zu unserem Auftritt im Bundestag. Zwei Wochen, bis wir vor einer Million Zuschauer singen würden. Zwei Wochen, bis wir möglicherweise den Grundstein für einen kometenhaften Aufstieg legen würden. Manch ein Redakteur schien deshalb zu meinen, dass es vielleicht ratsam war, uns schon gekannt zu haben, bevor wir berühmt geworden waren. Das mediale Interesse an uns war jedenfalls bemerkenswert gewachsen. Neben Hamburg 1 wollte jetzt auch NDR Info über uns berichten.

NDR Info war ein Spartenprogramm, das dem Namen nach Informationsprogramme sendete. Genaueres wusste ich nicht. Ich hatte von dem Sender noch nie gehört. Es mochte damit zusammenhängen, dass ich seit mindestens zehn Jahren allenfalls aus Langeweile das Radio einschaltete. Zudem leistete sich der öffentliche Rundfunk bekanntlich eine ganze Menge Sender, die dann auch noch regelmäßig Namen und Erscheinungsbild wechselten. Wie sollte man da wissen, was es alles gab, wenn man es nicht in Anspruch nahm?

NDR Info ließ sich aber immerhin nicht lumpen: Ein ganzes Feature wollte man der Arbeit unseres Chors widmen. Als Entstehungsort für die Produktion hatte man sich mit dem Chor auf den Sunderhof verständigt, der Stätte unseres Probenwochenendes. Die Menge an Proben, die ein einziger Nachmittag hier mit sich brachte, würde gewiss genug Material für eine Sendung bieten. Statt eines Teams würde uns übrigens nur eine einzige Journalistin besuchen.


Die Dame hatte sich für dreizehn Uhr angekündigt. Sie kam gegen 13 Uhr 45. Es handelte sich bei ihr um ein älteres Semester mit dickrandiger Brille und erkennbar gefärbten Haaren. Nach späteren Angaben Imanuels war sie zudem unmöglich geschminkt. Nicht, dass ich davon irgendetwas verstanden hätte.

Herr Kaiser schien keine allzu großen Erwartungen in die NDR-Info-Sendung zu setzen. Seit unserer Ankunft hatte er kein einziges Wort darüber verloren. Sein Lieblingsthema waren auch weiterhin die eine Million Zuschauer des bevorstehenden Bundestagsauftritts. Auch jetzt, wo die Dame bei uns im Probenraum stand, sagte er nicht viel. Er stellte sie nur kurz vor und überließ ihr dann das Feld. Die Frau war allerdings selbst angenehm wenig redselig.

«Ja also, ich möchte gerne eine Sendung über euren Chor machen», sagte sie, «Viele von unseren Zuhörern können sich nämlich gar nicht vorstellen, wie das so ist in einem Knabenchor. Was für euch ganz normal ist, ist für die unglaublich spannend. Keine Angst: Ich werde jetzt gar nichts Dramatisches mit euch machen, sondern einfach nur bei euch sitzen und das aufnehmen. Lasst euch von mir nicht stören. Tut am besten so, als wäre ich gar nicht da. Ich will jetzt einfach mal erleben, wie eine ganze typische Probe bei euch abläuft.»

Sie setzte sich an den Rand, stellte eine Art Kassettenrekorder auf die Fensterbank und schloss ein Mikrofon daran an. Ebenjenes Mikrofon hielt sie nun die folgenden anderthalb Stunden auf uns gerichtet. Die ganze Zeit über sagte sie nichts. Sie machte lediglich ein erstauntes Gesicht, wenn Herr Kaiser einen Knaben für irgendetwas zusammenfaltete. Was sie dachte, konnte man allenfalls ahnen. Sie hatte nicht vor, sich mit einzubeziehen. Manche Menschen musste man eben zu ihrem Glück zwingen.

«Es ist wirklich schön zu wissen, dass alles, was wir jetzt über dich sagen, später dann auch gesendet werden wird», sagte Zwergo an Herrn Kaiser gerichtet.

«Mach dir keine falschen Hoffnungen», erwiderte Herr Kaiser, «ich werde selbstverständlich eine Gegendarstellung einreichen.»

«Ach, die wird dann zu einer Zeit gesendet, zu der eh kein Mensch Radio hört», sagte ich.

Blitzartig schaltete die Dame ihr Aufnahmegerät aus.

«Ja, also das kann ich jetzt nicht so stehen lassen», sagte sie, «Was ich hier heute mit euch mache, wird auf jeden Fall zur besten Sendezeit kommen.»

«Er meint die Gegendarstellung, nicht die eigentliche Sendung», entgegnete Volker.

«Aber die Gegendarstellung muss doch zur gleichen Uhrzeit gesendet werden wie die Sendung, auf die sie sich bezieht, oder?», fragte Herr Kaiser.

«Dann wird dabei so laut Musik eingespielt, dass man die Gegendarstellung nicht versteht», sagte ich.

Herr Kaiser setze sich ins Klavier und spielte etwas, das wohl eine gehässige Parodie auf irgendein Radio-Jingle war. Dabei grinste er schwelgerisch. Der ganze Saal lachte.


Zu einem guten Rundfunk-Feature gehören natürlich auch Interviews. Während der Kuchenpause lief die Dame im Speisesaal umher und sprach mögliche Kandidaten an. Ich gehörte nicht dazu – mit meiner Äußerung über die Sendezeit hatte ich mich wohl disqualifiziert. Spätestens. David, Nathanael und andere Unangepasste schienen ebenso nicht in Frage zu kommen. Interviewt wurden Imanuel, Lämke und einige jüngere Knaben. Was sie erzählten, bekamen wir nicht mit. Die Dame verrammelte sich mit ihnen im Probenraum. Wir hatten solange frei.

Gesendet wurde das Ganze dann anderthalb Monate später, einige Tage vor Weihnachten. Wir Männer hörten es uns beim Muppets- und Glühwein-Abend in Zwergos Wohnung an. Die Sendung war für uns durchaus erkenntnisreich: Herr Kaiser hatte recht. Man hörte tatsächlich sofort, wenn wir bei einem Stück unsicher waren, selbst wenn wir alles richtig sangen. Bei der nächsten Einzelstimmbildung berichtete ich unserem Chorleiter von dieser Erkenntnis.

«Das finde ich sehr schön, dass du mir jetzt tatsächlich glaubst, dass man das hört, Lennart», sagte er. Er schien einmal mehr zu begreifen: Der Lautsprecher eines Rundfunkgerätes war für macheinen einfach glaubwürdiger als der Mund eines Menschen. Und möge jener auch dem Chorleiter gehören.