Ein Dokument des bevorstehenden Scheiterns

Perlen von Holstein Folge 178

September 2007

Bereits zwei Monate vor unserem Einzug in den Bundestag sollten wir einen Auftritt an einem besonderen Ort haben. Herr Kaiser war sich dessen wohl nicht bewusst. Als Zugezogener konnte er schließlich nicht wissen, wie besonders es für viele Hamburger war, einen Stadtteil, der südlich der Elbe lag, auch nur zu betreten. Dort dann auch noch einen Auftritt zu haben, war schon beinahe unerhört. Wilhelmsburg lag deshalb auch nicht ganz südlich der Elbe. Als Insel lag es mitten auf ihr. Doch schon das war besonders genug für einen Stadtteil, in dem wir einen Auftritt hatten. In solch einem Stadtteil hatten wir in meiner Erinnerung erst ein einziges Mal gesungen: Im vergangenen Dezember in derselben Kirche wie heute.

Meine Heimat Finkenwerder lag nicht weit von Wilhelmsburg entfernt. Sie war schließlich ebenso ein Stadtteil, der sich mitten auf der Elbe befand. Nach Wilhelmsburg zu gelangen war dennoch kein so einfaches Unterfangen. Zumindest mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Auch wer südlich der Elbe wohnte, interessierte sich vor allem für das, was nördlich von ihr lag. Dementsprechend waren die südlichen Stadtteile zum Teil erstaunlich schlecht miteinander verbunden. So auch Finkenwerder mit Wilhelmsburg. Eine Direktanbindung gab es nicht. Ich musste erst bis zur Haltestelle BAB-Auffahrt Waltershof fahren. Von dort verkehrte stündlich ein Bus.

Einen Bus, der nur alle Stunde fährt, sollte man tunlichst nicht verpassen. Genau das gelang mir aber. Nun, eigentlich verpasste ich den Bus zur BAB-Auffahrt Waltershof. Der verkehrte zwar immerhin viertelstündlich, was mir aber wenig nützte. Entscheidend war schließlich, wann der Anschluss fuhr. Und der wäre längst weg, wenn ich eine Viertelstunde später ankam. Ich würde mich massiv verspäten. Es sei denn natürlich, es würde mir gelingen, den Bus zur BAB-Auffahrt Waltershof doch noch zu kriegen.

Ich überlegte nicht lange und schwang mich aufs Fahrrad. Meine Chancen, den Bus einzuholen, waren an sich gering. Dafür war sein Vorsprung wohl längst zu groß. Doch kannte ich seine Linienführung und deren Schwächen nur zu gut. Wie alle Finkenwerder Linienbusse fuhr er stur die Finkenwerder Hauptverkehrsader ab: Eine Straße, die mal Neßdeich, mal Norderdeich, mal Steendiek, mal Ostfrieslandstraße hieß. Sie führte so ziemlich an allem vorbei, was es wert war, ans Busnetz angeschlossen zu sein. Einen Ort jedoch gab es, für den die Busse von ihr herunterfahren mussten: Den Fähranleger. Der Weg von ihm zurück beinhaltete eine Ampel, die dafür bekannt war, fünf Sekunden grün und dann minutenlang rot zu sein. Oft genug hatte ich sie verflucht, heute würde sie wohl meine Rettung sein.

Der Wind tat, was er noch immer am besten konnte, und blies mir kräftig ins Gesicht. Mein Fahrrad knackte und ächzte. Von all dem ließ ich mich nicht beirren. Ich trat so heftig in die Pedale, dass es wehtat. Die übliche Leergefegtheit der Finkenwerder Bürgersteige am Wochenende erwies sich als glücklicher Umstand. Wäre ich heute von einem Rentner ausgebremst oder wegen irgendeiner Ordnungswidrigkeit attackiert worden, es hätte Tote gegeben.

Am Ziel angekommen, schloss ich mein Fahrrad an der nächstbesten Stange an. Ich war gerade fertig, da kam auch schon der Bus um die Ecke geschossen. Obwohl es eigentlich wohl nicht mehr nötig war, rannte die letzten Meter bis zur Haltestelle als würde es um mein Leben gehen. Ich erreichte sie zeitgleich mit dem Bus, stieg ein und ließ mich auf den nächstgelegenen Sitz fallen. Erst jetzt spürte ich, wie heftig mein Herz schlug. Es wummerte so heftig wie die organische Wandverkleidung im Finallevel des Killerspiels Tomb Raider.


Über Wilhelmsburg war folgendes zu sagen: Als einem Klassenkamerad von einem Internet-Orakel prophezeit wurde: ‹Du wirst Menschen aus fremden Kulturen begegnen›, äußerte er hierzu: ‹Ja, klar, ich arbeite ja jetzt auch in Wilhelmsburg›. Die Zuwanderer-Quote war beträchtlich – sogar für Hamburger Verhältnisse. Kein einziges der Geschäfte, die den Weg von der Bushaltestelle bis zur Kirche säumten, schien einen deutschstämmigen Inhaber zu haben. Selbsternannte Verteidiger christlich-abendländischer Werte standen hier auf verlorenem Posten. Das Christentum war indes in die Offensive gegangen: ‹Tritt ein, die Kirche ist offen!›, verkündeten großflächige Plakate auf sämtlichen Türen des Gotteshauses nahe der Bushaltestelle. Erst, wenn man näher herantrat, sah man, was klein darunter stand: ‹Jeden Dienstag von 18.30 bis 19.30 Uhr›. Ich hatte mich im vergangenen Dezember dennoch dazu verleiten lassen, direkt auf die Kirche zuzugehen. Zu meiner Überraschung hatte ich feststellen müssen, dass sie verrammelt und verriegelt war. Zu meinem Glück war Zwergo gerade des Weges gekommen und hatte mich über meinen Irrtum ausgeklärt: Das hier war nicht die Kirche, in der wir auftraten. Diese lag rund fünfzig Meter weiter.

Die Methodisten- oder Friedenskirche Wilhelmsburg war auf den dritten Blick noch immer nicht als Kirche zu erkennen. Es handelte sich um einen denkbar schmucklosen Flachbau mit dreieckigem Aufsatz. Der Innenraum war mit Holz verkleidet, anstelle von Kirchenbänken standen hier Stühle. Bilder gab es keine, geschweige denn Plastiken. An der Wand hing ein schlichtes Kreuz. Das musste offenbar genügen. Der Grund für unseren Auftritt hier war der, dass der Pastor sich nichts sehnlicher gewünscht hatte. Und weil ebendieser Pastor nun einmal Imanuels Vater war, hatten wir ihm diesen Wunsch nur schwer ausschlagen können.

Imanuels Vaters hatte eine beeindruckende Karriere hinter sich: Einst war er Abteilungsleiter bei Karstadt gewesen, hatte dann aber zu Gott gefunden. Imanuel war hiervon noch weit entfernt. Nach eigenen Angaben begrüßte er seinen Vater zu jedem Abendessen mit den Worten: ‹Mein Vater, gib mir mein täglich Brot.›

Die heutige Generalprobe begann für mich mit einem Blick auf meine Armbanduhr. Herr Kaiser hatte bei der gestrigen Probe verkündet: ‹Wenn auf dem Probenplan sechzehn Uhr steht, dann wird um Punkt sechzehn Uhr der erste Ton gesungen.› Meine Armbanduhr entlarvte ihn nun als Lügner: Es war Punkt 16 Uhr 08.

Während wir probten, liefen zwei junge Kerle um das Podest herum und stellten Mikrofone auf. Ich war bei genug CD-Aufnahmen dabei gewesen, um sofort zu erkennen, um welche Art Mikrofone es sich dabei handelte. Die Erklärung der beiden kam für mich entsprechend wenig überraschend.

«Also nicht, dass ihr euch wundert: Wir beide sind Tontechnik-Studenten und heute hier, weil wir für eine Prüfung eine Klassik-Aufnahme brauchen. Passt bitte ein bisschen auf, dass ihr nicht gegen die Mikros kommt, die sind teuer und leider auch ziemlich empfindlich. Lasst euch ansonsten nicht von uns stören. Als kleines Dankeschön kriegt ihr den heutigen Mitschnitt alle auf CD.»

Tja, ‹Unverhofft kommt oft’, wollte man sagen. Eine Aufnahme unseres kompletten Jahresrepertoires, etwas Besseres konnte mir doch gar nicht passieren. Zwar fand man achtzig Prozent unserer Stücke auf irgendeiner CD des Windsbacher Knabenchors, das änderte aber nichts daran, dass die entscheidenden zwanzig Prozent fehlten. Es gab keine Aufnahme von Preis und Anbetung. Es gab keine Aufnahme des Kyrie von Mozart. Es gab keine Aufnahme von Kommt herzu, lasst uns fröhlich sein. Und auch wenn die Windsbacher entschieden besser als wir waren, fehlte ihren Einspielungen immer etwas. Es waren eben nicht die Stimmen von mir und meinen Sangesbrüdern, die dort sangen, erlebten und empfanden. Dementsprechend klangen auch die Stücke nicht so, wie wir sie gesungen, erlebt und empfunden hatten. Genau so wollte ich sie aber hören. Das galt auch jetzt, wo mir die Fähigkeit zur Nostalgie so abhanden gekommen war.

Ein Live-Mitschnitt barg natürlich immer das Risiko, ein Dokument des Scheiterns zu werden. Irgendetwas ging schließlich immer schief. Dazu kam, dass sich die Knaben bekanntermaßen nur dann Mühe gaben, wenn Herr Kaiser wütend war. War er es nicht, ließen sie sich schnell treiben und das hatte schon manch Klangspektakel zur Folge gehabt. Ich machte mir jedoch keine Sorgen. Es waren hier doch schließlich alle so versessen auf die entstehende CD wie ich, oder?

Ich irrte. Bereits bei den ersten Tönen entglitt uns die Intonation dermaßen, dass wir sie bis zum Ende des Stücks nicht mehr korrigiert bekamen. Das erste Stück war wohlgemerkt Wie nun, ihr Herren, das nahtlos in Aus tiefer Not übergehen sollte. Unser Chorleiter sah davon ab. Er schlug nach Wie nun, ihr Herren ab und summte die Töne von Aus tiefer Not an. Sein strenger Blick blieb nicht ohne Wirkung: Die folgenden drei Stücke klappten deutlich besser. Die Laune unseres Chorleiters besserte sich, die Knaben ließen sich treiben, das nächste Werk misslang wieder. Es lief mit anderen Worten wie immer.

Auf einen Mitschnitt unserer Männerchorsätze würde ich übrigens weitestgehend verzichten müssen. Herr Kaiser hatte sie aus dem Repertoire genommen. Gelassen hatte er uns nur das Salve Regina. Er summte gerade den Anfangston, als eine Straße weiter plötzlich ein gewaltiges Hupkonzert einsetzte. Offenbar feierten einige Wilhelmsburger heute Hochzeit. Herr Kaiser stellte das Summen ein und ließ die Hände sinken. Sein demonstrativ unbeeindruckter Blick bewirkte jedoch das Gegenteil dessen, was er eigentlich bewirken sollte. Philipp, David und ich konnten uns das Lachen nicht länger verkneifen.

Gelacht wurde auch beim Intermezzo des heutigen Star-Gastes, einer Sopranistin. Nicht über ihren Gesang, natürlich, eher über die unerwartete Reaktion, die er hervorrief. Draußen vor der Kirche spielten einige Kinder. Sie konnten durch das gekippte Seitenfenster wohl recht gut hören, was hier drinnen vor sich ging. Als Sopranistin nun ihr Solo schmetterte, rief eines der Kinder: «Da ist eine Frau, die singt.» Und darüber lachten wir natürlich. Es war schließlich ein Kind, das da redete.

Die Dame dürfte sich über dieses unerwartete Zusatzpublikum wahrscheinlich gefreut haben. Die Stuhlreihen waren bedrückend leer. Das war im Dezember noch anders gewesen. Damals hatten wir vor vollem Haus gesungen. Es mochte dem umfangreichen Marketing zu verdanken gewesen sein, dass Imanuels Vater betrieben hatte. In jedem Fenster hatte ein großes Plakat mit unserem Logo gehangen. Nach Angaben Imanuels war zudem im Zentralblatt der Freikirchen ein Artikel erschienen. Ob das diesmal auch der Fall gewesen war, wusste ich nicht zu sagen. Plakate hatten jedenfalls keine in den Fenstern gehangen. Womöglich hatte Imanuels Vater sich zu sehr auf die Begeisterung verlassen, die wir damals geweckt hatten.

Das nächste Werk war This joyful Eastertide. Herr Kaiser brauchte sich nicht die Mühe zu machen, irgendjemanden streng anzusehen. Dieses Stück misslang immer, ganz gleich, ob ein Auftritt gut oder schlecht lief, ob unser Chorleiter heiter oder wütend war. Es war eben nicht sinnvoll, uns etwas singen zu lassen, das wir berechtigterweise nicht leiden konnten. Oder, wie Opa Max gesagt hätte: ‹Schickst du Scheiße, kriegst du Scheiße.›

Tatsächlich misslang This joyful Eastertide völlig. Auf der CD würde es später gewiss grausig klingen. Mir machte das nichts aus. Ich hatte nicht vor, es zu hören. Mich interessieren andere Stücke. Davon gehörten viele zu denen, die heute gut geklappt hatten. Und auch wenn vieles nicht gelungen war, wirklich schlecht waren wir heute doch eigentlich zu keinem Zeitpunkt gewesen, oder?

Wir waren zu mehreren Zeitpunkten fürchterlich schlecht gewesen. Bei der nächsten Probe erwartete uns Herr Kaiser nicht mit CD-Stapeln, sondern mit einer CD-Anlage. Ohne viel Federlesens zu machen drückte er auf den Abspielknopf. Gott b’hüte dich erklang, eines der Stücke für den Bundestags-Auftritt. Wir wurden Zeugen eines Anfangsakkords, der schief anfing und noch schiefer aufhörte. Philipp und ich zuckten zusammen, dann brachen wir in schallendes Gelächter aus. Herr Kaiser fand das naturgemäß weniger witzig.

«Leute, wisst ihr eigentlich, wie viel Zeit ich damit verbringe, Stücke zu finden, die ich mit euch singen kann? Wisst ihr, wie viele Sachen es gibt, die ich gerne mal mit euch machen würde, dann aber letztlich doch sein lasse, weil ich denke, dass ihr damit überfordert sein könntet? Und wenn ich dann sowas höre, frage ich mich: Sind die Stücke, die ich für euch herausgesucht habe, etwa zu schwer? Habe ich diesen Chor vielleicht überschätzt? Wir singen das demnächst vor einer Million Zuschauern. Und wenn sich das dann so anhört: Könnt ihr euch vorstellen, was für schlaflose Nächte ich habe?»

Das mit der CD-Verteilung hatte sich damit wohl erledigt.