Murre nicht, lieber Christ

Perlen von Holstein Folge 177

Anfang des Jahres hatte Herr Kaiser Verheißungsvolles zu verkünden gehabt: Der Lokalsender Hamburg Eins wünschte, dass wir in seiner Kultursendung Lampenfieber auftraten. Bereits in vier Wochen sollte es soweit sein. Unser Chorleiter hatte sich von daher nicht lumpen lassen und eigens für diesen Auftritt ein Stück einstudiert: Komm, Trost der Welt von Christian Lahusen. Die harmlose Vertonung eines harmlosen Eichendorff-Gedichtes. Dem unvorbereiteten Publikum konnte man schließlich nur schwer ein Gehe hin in deine Kammer von Max Reger zumuten.

Zwei Wochen später hatte man bei Hamburg Eins jedoch seine Meinung geändert. Man wünschte bei näherer Überlegung doch nur einen Auftritt des Vorchor Drei. Dessen Paradestück Lampenfieber passte auch viel besser zur Sendung, die immerhin den gleichen Namen trug. Wir, der Hauptchor, und Christian Lahusens Eichendorff-Vertonung mussten draußen bleiben.

Unserem Chorleiter gefiel das verständlicherweise überhaupt nicht. Was scherte ihn der alberne Name irgendeiner TV-Sendung? Ihm ging es darum, seine Arbeit von ihrer besten Seite zu präsentieren. Und dafür eignete sich der Vorchor Drei nun einmal nur sehr bedingt. Doch was sollte man machen? Die Fernsehleute hatten so entschieden. Vier Sängerstimmen in Herrn Kaisers Kopf hatten die wohl garstigste aller Bachkantaten gesungen: ‹Nimm, was dein ist, und gehe hin! Gehe hin, gehe hin –› Weit mehr Elternstimmen hatten bei der Vollversammlung und auf Herrn Kaisers Anrufbeantworter ihrem Ärger darüber Luft gemacht, dass immer so viel versprochen und so wenig gehalten wurde.

Unser Chorleiter war deswegen zurückhaltender gewesen, als er bereits wenige Wochen später den nächsten großen Fisch am Haken gehabt hatte. Er hatte lediglich in die Runde gefragt, wie wir uns einen ganz besonderen Auftritt vorstellen würden. Erwartungsgemäß hatten die Antworten gelautet: An einem besonderen Ort singen und vor wirklich vielen Leuten singen. Per E-Mail hatte Herr Kaiser uns kurz darauf darüber informiert, dass wir sogar beides kriegen würden: Einen besonderen Ort und viele Zuschauer. Der Knabenchor würde im Plenarsaal des Bundestages auftreten und die ARD würde live übertragen. Anlass war der Volkstrauertag, was auch immer das sein mochte.

Für unseren Chorleiter dürfte es ein Tag des Triumphes gewesen sein. Vergessen war die Schmach von Hamburg Eins. Ein Auftritt im Ersten Deutschen Fernsehen war doch nun wirklich tausend Mal besser als einer bei irgendeinem popeligen Lokalsender. Zu jenem unterhielt ich ein gediegenes Nullverhältnis, seitdem man das Disney-Programmfenster der ersten Jahre abgeschafft hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass es anderen Leuten anders ging. Ich hatte allerdings auch meine Zweifel, dass von unserem Auftritt im Bundestag allzu viel Notiz genommen werden würde. Vom Volkstrauertag hatte ich, wie gesagt, noch nie gehört. Laut Wikipedia war das eine Veranstaltung zum Gedenken an die Kriegstoten. Die Sendung würde wohl größtenteils von greisen Veteranen ohne musikalischen Hintergrund verfolgt werden. Sie lief zudem am Sonntag um sechzehn Uhr. Wer bitte sah da fern?

Herr Kaiser aber war überzeugt: «Wir singen vor einer Million Zuschauer.»

Diese Zahl gründete sich nicht auf Mutmaßungen, sondern auf harte Fakten. Im vergangenen Jahr nämlich war der Windsbacher Knabenchor im Plenarsaal des Bundestags aufgetreten und da hatten so viele Leute zugesehen. Herr Kaiser wusste das, weil er nach seiner Zeit im Kreuzchor selbst zwei Jahre bei den Windsbachern gesungen hatte. Um erahnen zu können, wie innig sein Verhältnis zu ihnen seither war, genügte ein Blick in unser Repertoire. Rund achtzig Prozent unserer Stücke tauchten auf irgendeiner CD des Windsbacher Knabenchors auf. Zudem hatte Herr Kaiser vor seiner Zeit bei uns bekanntlich den von ihm gegründeten Amadeus-Chor Berlin geleitet. Er war damit in die Fußstapfen des Leiters der Windsbacher, Karl-Friedrich Beringer, getreten. Dessen erster Chor hatte laut Wikipedia ebenso Amadeus-Chor geheißen. Es gab indes überhaupt nichts, was ich über Herrn Kaisers Zeit bei den Windsbachern sagen konnte. Er hatte darüber noch nie ein einziges Wort verloren. Das erstaunte angesichts der Vielzahl seiner Geschichten über den Kreuzchor.

Immerhin: Sollten die Zuschauer ausbleiben, blieb uns die Genugtuung, dort gewesen zu sein, wohin sonst niemand durfte. Mein einziger Besuch im Plenarsaal des heutigen Bundestages hatte im Killerspiel Call of Duty durch die Augen eines Rotarmisten stattgefunden. Anders als das übrige Reichstagsgebäude war er bis heute nicht öffentlich zugänglich. Einlass erhielten nur Abgeordnete.

Es stellte sich natürlich die Frage, wie wir überhaupt zu dieser Ehre gelangt waren. ‹Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf›, hätte Opa Max gesagt. Ich vermutete aber, dass wir sie einem Auftritt im Hamburger Rathaus verdankten. Dort hatten wir vor eineinhalb Jahren die Illumination des Weihnachtsbaums musikalisch begleitet. Eine Veranstaltung, deren faktische Bedeutungslosigkeit von allerlei anwesender Politikprominenz unterstrichen worden war. Tatsächlich war es auch nicht sie, die uns den Weg in den Bundestag geebnet hatte. Den verdankten wir laut Herrn Kaiser doch tatsächlich jenem unerquicklichen Auftritt vor Ole von Beust und Versandhauschef Michael Otto im Gebäude der Jugendmusikschule. Ich staunte nicht schlecht. Noch zu gut erinnerte ich mich an die steinernen Mienen der beiden und an die überschlagenen Beine von Ole von Beust. Dennoch soll er es gewesen sein, der sich für uns eingesetzt hatte.

Die Frage, was wir anlässlich des Volkstrauertages singen würden, stellte sich für mich hingegen nicht. Für mich war klar: Das konnte doch nur Herrn Kaisers Leib-und-Seele-Motette Gehe hin in deine Kammer sein. Ich erfuhr eher beiläufig, dass dies tatsächlich nicht der Fall war.

«Herr Kaiser hat gesagt, er macht die drei neuen Stücke, die wir in Glücksburg geprobt haben», sagte Lars zu Guido, als ich an den beiden vorbeiging.

Das versetzte mich doch in mildes Erstaunen. Mir war natürlich nicht entgangen, dass wir in Glücksburg auch neue Stücke geprobt hatten, die nicht für das Weihnachtsprogramm vorgesehen waren. Erfahrungsgemäß hatte dies jedoch nicht zu bedeuten, dass diese neuen Stücke auch sofort ins Repertoire aufgenommen wurden. Das Kyrie von Mozart etwa hatten wir im vergangenen August in Lankau einige Male geprobt. Bestandteil unseres Programms war das Stück jedoch erst in diesem Januar geworden. In der Zwischenzeit hatten wir es nicht angerührt. Herr Kaiser schien interessanterweise selbst am Sinn derartiger Vorwegnahmen zu zweifeln. Er hatte sein Erstaunen darüber zum Ausdruck gebracht, dass ich mich noch daran hatte erinnern können, dass wir das Stück bereits zuvor geprobt hatten.

Mein Erstaunen hing auch damit zusammen, dass die drei neuen Stücke höchstens auf den zweiten Blick zu einem Volkstrauertag passten. Das erste, Gott b’hüte dich von Leonhard Lechner, war ein tieftrauriges Abschiedslied. Bereits beim vierten Ton entfaltete es eine ungeheure Dramatik. Wir Bässe sangen hier einen Oktavsprung, der das Wort dich in dem Satz Gott b’hüte dich einfach, aber wirkungsvoll hervorhob. Es wurde unmissverständlich klar: Der Mensch, von dem sich hier verabschiedet wurde, war so wichtig, es konnte einem nur die Tränen in die Augen treiben. Ich staunte sowieso immer, wie sehr sich der Klang eines gesungenen Du von dem eines gesprochenen Du unterschied. Ein gesprochenes Du klang hart, denn es ertönte häufig im Zusammenhang von Machtwörtern, Schuldzuweisungen oder Beleidigungen. Ein gesungenes Du hingegen war weich, denn der Angesprochene wurde stets in irgendeiner Weise wertgeschätzt. Unser aller Lieblingswort von Gott b’hüte dich war dennoch das Ach, das den Refrain einleitete. Wir Bässe seufzten es in inniger Erregung ins Plenum hinein, alle anderen Stimmen seufzten hinterher. Abermals ein einfacher, aber wirkungsvoller Effekt. David war in Glücksburg aus dem Schwärmen darüber oft nicht herausgekommen.

Fürwahr, Gott b’hüte dich hatte es uns angetan. Ich fand dennoch nicht, dass es zu einem Volkstrauertag passte. Der in dem Lied dargestellte Abschied war weiß Gott emotional, definitiv aber nicht endgültig. Ich hatte dabei zwei enge Freunde vor Augen, die sich auf einer Dorfstraße innig umarmten. Das Werk zeigte, bei aller Bitterkeit, wie viel heiler die Welt vor vierhundert Jahren doch gewesen war.

Ein wenig mehr zur Thematik passte Es geht ein’ dunkle Wolk’ herein im Satz von Hugo Distler. Das Stück war auf eine merkwürdige Art und Weise unterkühlt. Die beschriebene Landschaft schien eine ohne viele Farben, ohne viele Bäume und ohne viel Leben zu sein. Herr Kaiser hatte dazu ausgeführt: «Der Hugo Distler, der hat sich im Alter von nur vierunddreißig Jahren das Leben genommen. Der ist nämlich depressiv gewesen. Und ich finde, wenn man mal ganz genau drauf achtet, dass man das auch hört.»

Anmerkung im Sinne des Besserwisserauftrags der Synkope: Es ist wohl richtig, dass Hugo Distler an Depressionen litt. Als Auslöser für seinen Suizid im Jahre 1942 gilt aber der bevorstehende Einzug zur Wehrmacht. Ein Umstand, den man bei einem Volkstrauertag durchaus auch nicht unerwähnt sein lassen sollte.

Herrn Kaisers Erläuterungen zu dem Stück hatten rund eine Viertelstunde in Anspruch genommen. Ob das den Knaben Klarheit gebracht hatte, konnte ich nicht sagen. Ich fand, dass das Stück von der Stimmung her zum Volkstrauertag passte, nicht aber vom Inhalt her. Zwar hieß es am Ende der letzten Strophe: ‹Ade, Feinslieb, dein Scheiden macht mir das Herze schwer›, doch klang das für mich wieder nicht nach endgültigem Abschied. Ich sah dabei eine Frau vor mir, die im Eingang ihres einsam in der Landschaft herumstehenden Bauernhauses stand und jemandem winkte. Es war aber natürlich möglich, dass sie das tat, weil ihr Mann in den Krieg ziehen musste. Seiner Rückkehr sicher sein konnte sie sich da nicht.

Den einzigen eindeutigen Bezug zum Volkstrauertag bot Wer bis an das Ende beharrt von Felix Mendelssohn Bartholdy. Zum Text gab es nicht viel zu sagen. Der bestand aus dem immer wieder wiederholten Satz: ‹Wer bis an das Ende beharrt, der wird selig.› Interessanter war die musikalische Verarbeitung. Das Stück begann mendelssohntypisch betont lieblich. Rasch wurden die Ausdeutungen des Textes immer dramatischer. Man hielt die Spannungen schon für nicht mehr lösbar, als dann kurz vor Schluss plötzlich doch ein leuchtender Tenor-Ton das liebliche Ende einläutete. Es blieb zu hoffen, dass das vorwegnahm, was uns erwartete, wenn wir das Stück vor einer Million Zuschauer gesungen hatten. Herr Kaiser jedenfalls machte keinen Hehl daraus, dass er sich von dem Auftritt im Bundestag eine Menge versprach. Wann immer wir eines der drei Stücke hervorholten, machte er deutlich: «Wir singen das vor einer Million Zuschauer.» Es blieb zu hoffen, dass nicht bald 999.999 Stimmen die garstigste aller Bachkantaten singen würden.