Wider die verordnete Hochkultur

Perlen von Holstein Folge 173

Die diesjährige Probenwoche war nicht nur die erste, die nicht in Lankau stattfand. Sie war auch die erste, die tatsächlich eine volle Woche dauern würde. Vorletztes Jahr war das an einem von den Knaben mitgestalteten Herr-der-Ringe-Festival, letztes Jahr an der CD-Aufnahme gescheitert. Jetzt aber war Schluss mit den faulen Ausreden. Jetzt würde wirklich sieben Tage lang von morgens bis abends Probe sein – von dem Nachmittag, den wir in der Fördelandtherme Glücksburg zubringen würden, einmal abgesehen.

Unser Chorleiter hätte angesichts von so viel Probenzeit entspannt sein müssen: Ein Stück, das am Vormittag noch misslang, klappte am Nachmittag vielleicht schon besser. Doch Herr Kaiser wäre nicht Herr Kaiser gewesen, hätte er nicht auch die insgesamt rund fünfzig Stunden, die wir in Glücksburg proben würden, minutiös durchgeplant.

«Jetzt proben wir schon seit einer dreiviertel Stunde Wer bis an das Ende beharrt!», stöhnte er, «Wisst ihr eigentlich, dass ich in dieser Stunde drei Stücke mit euch hatte machen wollen?»

‹Kleinvieh macht auch Mist›, hätte Opa Max jetzt gesagt.

Es war seit einigen Monaten ein Dauerthema: Was auch immer unser Chorleiter sich für eine Probe vorgenommen hatte, sein Plansoll wurde untererfüllt. Schuld daran waren – wie sollte es auch anders sein – meist die Knaben. Sie schafften es einfach nicht, Stücke in der gewünschten Zeit zu verinnerlichen. Heute aber war es so, dass Herr Kaiser wohl eine Menge dafür gegeben hätte, dass es nur das gewesen wäre. Was der Alt nämlich heute so zusammenfabrizierte, hätte selbst Philipp und mich zum Weinen bringen müssen. In Kombination mit dem immer unbändigeren Zorn unseres Chorleiters brachte es uns aber eher zum Lachen. Und nicht nur wir, auch die Soprane feixten herum.

Herr Kaiser kümmerte sich nicht darum. Stattdessen versuchte er das Problem damit zu lösen, dass er sich des schuldhaften Verhaltens einiger Sänger annahm.

«Zacharias, wenn du nicht weißt, wie deine Uhr aussieht, kannst du gerne rausgehen und sie dir dort die ganze Zeit angucken.»

Es half nichts: Der Alt brachte weiterhin nur ein Gesäusel hervor, das eher nach einem vorzivilisatorischen Beschwörungsgesang als nach einem Chorsatz von Felix Mendelssohn klang. Gebannt warteten Philipp und ich darauf, dass Herr Kaiser endlich zum überfälligen Jahrhundertausraster ansetzen würde. Doch obwohl sein Blick allmählich etwas lebensgefährlich wirkte, blieb er erstaunlich ruhig. Schließlich aber schien der Zeitpunkt gekommen zu sein.

«So, ich lassen den Alt jetzt noch einmal singen», sagte Herr Kaiser, «und wenn es dann wieder nicht klappt, werde ich mir etwas einfallen lassen.»

Der Alt sang, es klappte nicht, Philipp und ich gingen schon einmal vorsorglich in Deckung. Jede Faser von Herrn Kaisers Körper ließ erkennen, wie sehr er den Alt jetzt zur Schnecke machen würde. Unser Chorleiter jedoch hatte sich dieses kleine Vergnügen nicht solange aufgehoben, um es jetzt mit anderen zu teilen.

«So», sagte er freundlich, «der Alt bleibt jetzt noch eine halbe Stunde hier. Alle anderen haben Pause.»

Vergnügt verließen wir den Probenraum. Wir hatten keinen Grund, enttäuscht zu sein: Das Verhalten unseres Chorleiters hatte unsere Fantasie zur Genüge beflügelt. Wir konnten uns lebhaft vorstellen, was nun passieren würde. Mitbekommen würden wir davon jedoch nichts. Das Waldschulheim Glücksburg bestand aus mehreren Gebäudeteilen. Wie üblich befanden sich der Probenraum am einen Ende des Hauses und die Schlafräume am anderen. Wir mussten jedoch nicht nur einen langen Gang durchqueren, sondern auch mehrere Treppen steigen: Der Probenraum lag im zweiten Stock.

Während wir unseren langen Weg zurücklegten, holte ich mein Handy hervor. Ja, es war wahr: Sieben Jahre nach allen anderen war nun auch ich stolzer Besitzer eines Handys. Und drei Wochen nach seiner Anschaffung hatte ich endlich auch einen Einsatzzweck für es gefunden: Ich hatte einen Mitschnitt des Alt-Gesäusels damit angefertigt. Wir lauschten ihm unter wüstem Gelächter.

Unsere erste Station war der Kiosk. Trotz unseres für Knabenchorverhältnisse ja doch recht fortgeschrittenen Alters waren wir schließlich noch immer das, was Opa Max als seine Groschengräber bezeichnet hätte. Kein Grab, eher ein alles verzehrender Schlund war mein alter Freund David. Seine Vorräte an Kinder Schokolade waren mal wieder verbraucht. Er kaufte sich vier neue Packungen.

«Du mit deiner Sucht auf Kinder Riegel», sagte ich.

«Nicht Kinder Riegel, Mann, Kinder Schokolade», erwiderte David.

«Ähm, ist das nicht genau das gleiche?»

«Ja, nee, Kinder Riegel sind die großen Riegel, Kinder Schokolade die kleinen.»

«Ach so.»

Ich staunte nicht schlecht: Zeitlebens hatte ich die Begriffe Kinder Riegel und Kinder Schokolade synonym gebraucht. Und nicht nur das: Ich hatte auch häufig Kinder-Schokoladenriegel gesagt. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass ich damit zwei verschiedene Dinge miteinander vermischte. Man lernte wirklich nie aus.

Wir begaben uns in unser Zimmer. Seine Bewohner waren neben mir David, Philipp, Imanuel, Guido und Frans. Letzterem stand nach Stunden verordneter Hochkultur der Sinn nach leichter Muse. Er hielt sich die Faust vor den Mund und rief: «Scooter!» Dann stimmte er an zum Sprechgesang: «Skibadee, skibadanger. I am the rearranger.»

Er erntete schallendes Gelächter.

«Hahaha», sagte ich, «du kannst das ja richtig geil verarschen. Mach noch mal: ‹Scooter!›»

Frans hielt sich die Faust vor den Mund und rief: «Scooter!»

Er erntete abermals schallendes Gelächter. Allerdings nur von Guido, Philipp und mir, nicht von David.

«Boah, hör mir auf mit Scooter», sagte er, «Ich weiß noch, wie ich irgendwann mal frühmorgens ein Konzert von denen im Fernsehen gesehen habe, weil nichts anderes lief. Da standen dann bei einem Lied zwei solche halbnackten Muskelmänner auf der Bühne und haben abwechselnd ihre Brustwarzen auf und ab tanzen lassen. Ich schwör, ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so geekelt.»

Und schon kam es wieder zu schallendem Gelächter. Es war aber auch wirklich ein Bild für die Götter: Die Vorstellung, wie David vor dem Fernseher saß und einem derartigen Anblick hilflos ausliefert war. Heerscharen von Tontechnikern, Lichtspezialisten und Kameraleuten ließen modernste Technik zum Einsatz kommen, damit David bei sich zuhause im Wohnzimmer diesen Moment des Ekels durchleben konnte. Traumhaft.

Wo wir aber gerade beim Thema Scooter und damit beim Thema Techno waren, konnte Philipp doch sehr gut Tekkno von den Wise Guys erklingen lassen. Tekkno von den Wise Guys machte sich über die Angewohnheit der Techno-Branche lustig, bekannte Lieder mit sich ständig wiederholenden, immer gleichen Melodiefetzen und einem penetrant hervorgehobenen Grundschlag zu unterlegen und zwischendurch ‹Techno!› zu rufen. Die Wise Guys verwendeten hierfür Alle meine Entchen und Fuchs, du hast die Gans gestohlen.

Wir lachten uns krumm und schief.

Für Philipp Grund genug, weitere Lieder der Wise Guys abzuspielen, darunter Denglisch, Powerfrau und Kinder. Zuletzt spielte er Radio, was mit seiner melancholischen Stimmung aber nicht gut bei uns ankam. Wir wollten lachen.

«Ey kommt, Radio ist geil», sagte Philipp, «Ich habe das neulich bestimmt fünfzig Mal hintereinander gehört. Ich bin sowas von süchtig danach.»

Über diese Selbstoffenbarung konnte ich nur staunen. Bislang hatte ich immer geglaubt, dass ich der einzige war, der das machte: Ein und dasselbe Lied einhundert Mal und öfter hintereinander hören. Ich war gar der Meinung, dass man Musik nur dann wirklich liebte, wenn man ein und dasselbe Lied einhundert Mal und öfter hörte.

Ein Wesenszug, mit dem ich meine Mitmenschen schon immer in den Wahnsinn getrieben hatte. Unvergessen war die Zeit, in der meine Eltern hintereinander mehrere folgenschwere Fehler begangen hatten. Der erste folgenschwere Fehler war der gewesen, mir meinem Wunsch entsprechend einen CD-Player zu Weihnachten zu schenken. Der zweite, die Scheibe Auf dem Bauernhof beizulegen. Bereits am nächsten Morgen hatte ich den Song Das liebe lange Jahr für mich entdeckt. Alles, wirklich alles daran hatte mich entzückt: Die Instrumentierung, der Aufbau, die Basslinie, die Gesangsmelodie, die Stimme der Sängerin, alles. Mit meinen sieben Jahren hatte ich dann auch rasch herausgefunden, was der Hauptunterschied zwischen einer CD und den mir bis dahin geläufigen Musikkassetten war: Wollte man bei einer Kassette ein Lied noch einmal hören, musste man zurückspulen und mühsam den Punkt finden, an dem es startete. Bei einer CD genügte ein Knopfdruck und schon begann das Lied von vorn. Das liebe lange Jahr hatte an jenem Morgen bestimmt zwanzig Mal von vorn begonnen. Ich hätte es gern noch öfter gehört, doch meine Eltern hatten noch einen dritten folgenschweren Fehler begannen: Drei Tage nach Weihnachten hatten sie mich zur Kinderkur nach Föhr geschickt. Sechs endlose Wochen hatte ich mich in Sehnsucht nach meinem Das liebe lange Jahr verzehrt. Nach meiner Rückkehr hatte ich nicht lange gefackelt und die Nerven meiner Eltern mit einem rund einstündigen Hörmarathon strapaziert. Etwas, das Philipp allem Anschein nach auch schon öfter getan hatte. Unsere zahllosen, teilweise unverhofften Gemeinsamkeiten waren schon bemerkenswert.

Den Liedern der Wise Guys folgten welche von Funny van Dannen. Guido hatte sie mitgebracht.

«Saufen, saufen, saufen, saufen, saufen fressen und ficken. Saufen, saufen, saufen und die Kinder Bier holen schicken. Es gibt schon so viel und es wird immer mehr und wir können alles kaufen. Aber am besten ist immer noch: Saufen, saufen, saufen.»

Wir lachten uns abermals krumm und schief, was vor allem an dem schwelgerischen Tonfall lag, in dem Herr van Dannen diesen Text sang. Man wollte meinen, er würde von der Schönheit einer Landschaft schwärmen, aber nein, er sprach vom Saufen. Zugegeben: Besonders tiefsinnig war das nicht. Doch auch wenn ich seit in jüngster Zeit vermehrt zuhause Klassik hörte: Auch mir stand nach Stunden verordneter Hochkultur der Sinn nach leichter Muse.