Wie es euch gefällt

Perlen von Holtein Folge 169

Max-Fredericks spontaner Austritt war aus einem weiteren Grunde überraschend: Hätte er nur zwei weitere Wochen durchgehalten, hätte er unseren ersten reinen Männerchorauftritt noch miterlebt. Dazu kam es nun nicht mehr. Möglich, dass er selbst das nicht mehr wollte. Möglich, dass Herr Kaiser es ihm nicht erlaubt hatte. Ich wusste, dass unser Chorleiter die Angewohnheit hatte, Austrittswünsche von Sängern überaus konsequent umzusetzen. Dem Sohn meines Klarinettenlehrers etwa hatte er den Wunsch nach einem letzten Konzert verweigert. Besagter Sohn war drei Jahre lang Mitglied im Vorchor Zwei gewesen. Alle Bitten, ihn endlich in den Vorchor Drei aufrücken zu lassen, hatten nichts genützt. Mein Klarinettenlehrer war das schließlich leid gewesen. Er hatte seinen Sohn aus dem Chor genommen.

Unser erster reiner Männerchorauftritt sollte im Mariendom stattfinden. Der Mariendom steht einige hundert Meter vom Hauptbahnhof entfernt in einem Viertel namens St. Georg. St. Georg ist weit weniger christlich geprägt, als der Name es vermuten lässt. Sex-Kinos und türkische Gemüseläden säumten meinen Weg. Die zwei Türme des Mariendom wirkten da unweigerlich wie ein Bollwerk des Christentums. Des Christentums und des Katholizismus. Ja, es war wirklich so: Zum zweiten Mal in meiner Chorlaufbahn würden wir innerhalb der Hamburger Stadtgrenzen in einer katholischen Kirche auftreten.

Wohl weil der Mariendom eine katholische Kirche war, wussten gleich zwei Chormitglieder von unfassbaren Martyrien zu berichten, die sie hier durchlitten hatten: David und Philipp.

David hatte einer Aufführung der Matthäus-Passion beigewohnt. Die selbst für die Verhältnisse von Kirchenbänken unergonomische Bestuhlung hatte ihm Schmerzen bereitet, die denen des Heilands so nahe gekommen waren, wie nur je etwas.

Philipp hatte bei der Einspielung der Via Crucis mitwirken müssen. Für ihn eine grenzenlose Pein. Zum ersten, weil er die Via Crucis hasste, zum zweiten, weil er Franz Liszt hasste, zum dritten, weil die Aufnahmearbeiten acht Stunden gedauert hatten. Ich konnte mich dazu nicht äußern. Ich wusste, dass jahrelang immer wieder davon geredet worden war, dass wir irgendwann demnächst eine Aufnahme der Via Crucis machen würden. Als es dann endlich soweit gewesen war, hatte ich nicht dabei sein können. Den Grund dafür wusste ich nicht mehr. Ich meinte, mich wage daran zu erinnern, dass der Aufnahmetermin irgendwann in den Ferien gewesen war.

Vor dem Mariendom wurde ich von Frans, Guido und David in Empfang genommen. Unser Chorleiter war weit und breit nicht zu sehen. Die Kirche war wahrscheinlich offen, doch als Treffpunkt war das Gemeindehaus angegeben gewesen. Und das Gemeindehaus war abgeschlossen. So standen wir nun also da und hatten Zeit, auf dumme Gedanken zu kommen. Zeit, die wir effektiv nutzten.

Aus irgendeiner Laune heraus begann David eine Stimme aus dem Lied Obstsalat zu singen. Statt dem vom Textdichter vorgesehenen ‹Mango› sang er jedoch immer wieder Kirche.

«Kirche, Kirche, Kirche, Kirche, Kirche –»

Es dauerte nicht lange bis wir auch für die anderen Früchte passende Begriffe aus dem Fundus des christlichen Glaubens gefunden hatten. Aus ‹Ananas, Bananas› wurde ‹Kreuzigung, Kreuzigung›, aus ‹Apfel und Stachelbeere› wurde ‹Geißel und Dornenkrone› und aus ‹Kiwi, Kiwi› wurde ‹Nagel, Nagel›. Letzteres beantwortete auch die Frage, was aus dem ‹Kirsch› werden sollte, das am Ende jedes Durchlaufs von allen Beteiligten gebrüllt wurde: Ein lautes, beherztes ‹Splash!›. Schon war sie fertig, die wohl schlimmste Gotteslästerung, die wir jemals erdacht hatten.

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Über den offensichtlichen Bekanntheitsgrad von Obstsalat konnte ich nur staunen. Ich kannte es von einer Kinderkassette, der ich nicht zutraute, besonders verbreitet gewesen zu sein. Neben Obstsalat waren nämlich auch noch einige andere Lieder auf ihr enthalten gewesen. In einem besang ein Mann in amerikanischem Österreichisch seine Liebe zu einem Lollipop. Eine Liebe, die tragisch endete, als besagter Lollipop auf den Boden fiel. In einem anderen Lied hieß es wortwörtlich: ‹Was ich in meiner Hose hab, wie soll ich das verstehen? Das macht mir manchmal ein Gefühl, das geht bis in die Zehen. Das ist so seltsam angenehm. Doch kann man niemand’ fragen, was das vielleicht bedeuten soll. Es wird dir niemand sagen.›

Ich vermutete einfach mal, dass meine Sangesbrüder das Lied Obstsalat aus anderen Quellen kannten.

Herr Kaiser kam und ließ das Gemeindehaus öffnen. Das Einsingen konnte beginnen oder besser: hätte beginnen können. Doch immer, wenn Herr Kaiser einen Einsatz geben wollte, funkte ihm jemand oder etwas dazwischen. Entweder fiel lautstark eine Tür zu, ein nicht ignorierbares Insekt schwirrte herum und oder im Nebenraum flackerte eine Lampe.

Philipp und ich kicherten. Die Situation erinnerte mich irgendwie an meine dritte oder vierte Probe als Knabe des Hauptchors. Frau Siebenkittel hatte sich in Rage darüber geredet, dass wir alle so unordentlich und geistig ganz woanders waren. Während sie so vor sich hin geschimpft hatte, war mir das Notenblatt heruntergefallen. Ein schlagender Beweis für all das von Frau Siebenkittel monierte. Der Orkan, eben noch im Abflauen begriffen, hatte nun erst so richtig zu tosen begonnen.

Vom Gemeindehaus ging es hinauf auf die Empore des Mariendoms. Diese hatte in etwa das Format des Balkons einer Sozialwohnung. Das wäre nicht weiter tragisch gewesen, hätten wir ihre volle Breite nutzen können. Doch weil Herr Kaiser sowohl uns, als auch den Organisten im Auge behalten können musste, mussten wir uns schräg hinstellen. So kam es, dass wir kaum mehr als zehn Personen vier Reihen bilden mussten.

Der Organist saß Herrn Kaiser mit dem Rücken zugewandt und beobachtete dessen Dirigat über einen winzigen Spiegel. Wie es unter diesen Bedingungen möglich sein sollte, ein gemeinsames Tempo zu erreichen, war eine mehr als berechtigte Frage. Mehrfach passierte es in der Generalprobe, dass uns der Organist davoneilte. Beim Auftritt geschah das zwar nicht, dafür brachte er in fataler Weise die Stückereihenfolge durcheinander. Herr Kaiser wollte gerade den Einsatz für das gregorianische Salve Regina geben, als aus den Orgelpfeifen der Anfangsakkord von George Dysons Magnificat erdröhnte. Wir konnten uns nur mit Mühe das Lachen verkneifen.

Das Publikum lachte nicht. Auch sonst zeigte es eher wenig emotionale Erregung. Der Applaus fiel höflich aus. Mein Vater äußerte sich abfällig über das Repertoire. Ihm hatte einzig das Salve Regina gefallen. Dies bestärkte mich in meiner Ansicht, dass wir mit vierstimmigen Sätzen besser gefahren wären. Wie gut, dass Herr Kaiser ohnehin einmal mit uns über unsere Wünsche sprechen wollte. Er lud uns alle in ein nahegelegenes Restaurant ein und stellte uns diese eine Frage: «Was wollt ihr?»

Wir brachten das Thema dann auch sogleich zur Sprache. Doch obwohl Nathanael durchaus diplomatisch von einer ‹avantgardistischen Stückeauswahl› sprach, wimmelte Herr Kaiser ab: «Das war es gar nicht, was ich wissen sollte. Ich wollte wissen: Was wollt ihr?»

Die folgenden anderthalb Stunden waren wir damit beschäftigt, herauszufinden, was unser Chorleiter mit dieser Frage meinte. Wir beklagten uns über rebellische Knaben und brachten unseren Wunsch nach mehr Freiheiten auf Chorfahrten zum Ausdruck. Doch all das war es nicht, was Herr Kaiser meinte, wenn er fragte: ‹Was wollt ihr?› Er wurde immer gereizter und brüllte Imanuel an. Imanuel wiederum brüllte mich an und bald war die Situation reichlich festgefahren. Unser Chorleiter erkannte, dass es alles nichts half: Er musste die Frage ‹Was wollt ihr?› selbst beantworten. Was wir wollten: Mehr Verantwortung übernehmen, den Knaben auf Chorreisen und -wochenenden als Paten zur Verfügung stehen und solche Dinge. Das wollte ich zwar ganz bestimmt nicht, dennoch einigten wir uns darauf, die Sache so bald wie möglich in Angriff zu nehmen. Damit war Herr Kaiser mehr als zufrieden. Für den heutigen Abend waren wir entlassen.