Wege aus der Identitätskrise

Perlen von Holstein Folge 165

März 2007

Herr Kaiser war der wohl einzige Chorleiter auf der Welt, bei dem die Sänger während des Einsingens sitzen durften. Bei einer öffentlichen Probe hatte er erklärt, welchen Grund das hatte.

«Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Sänger, die beim Einsingen stehen, das ganze Einsingen lang die richtige Spannung haben. Wenn sie sich dann aber hinsetzen, erschlaffen sie und alles war für die Katz. Deshalb sage ich meinen Sängern, dass das Einsingen im Sitzen geschehen soll.»

Anfang des Jahres hatte Herr Kaiser uns dann mitgeteilt, dass das Einsingen mit sofortiger Wirkung abgeschafft war. Es koste zu viel Zeit, die er lieber für das Proben von Stücken nutzen wolle. Und eingesungen sei man nach zehn Minuten Singen doch so oder so. Ob man nun Momm-Momm-Momm gesungen hatte oder Heinrich Schütz. Die Folge war gewesen, dass selbst einfachste Passagen beeindruckend schief geklungen hatten. Einsingübungen hatten eben doch ihren Zweck, so schwer das auch manchmal zu glauben war. Unser Chorleiter hatte das eingesehen und seinen Entschluss zähneknirschend zurückgenommen. Drei Wochen später hatte er verkündet, dass das Einsingen mit sofortiger Wirkung wieder eingeführt sei.

Es hatte sich seit Herrn Kaisers Amtsantritt vor vier Jahren nur wenig verändert. Dabei legte unser Chorleiter großen Wert darauf, niemals zwei Proben hintereinander die gleiche Übung zu machen. In der Praxis bedeutete dies, dass er uns mal Ding-Dong-Dang, mal Ging-Gong-Gang und dann wieder Bing-Bong-Bang singen ließ – letzteres konnte Imanuel auf den Tod nicht leiden.

Heute aber wollte Herr Kaiser uns einmal etwas wirklich vollkommen Neues bieten. Er setzte sich ans Klavier und spielte eine Tonfolge vor.

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Ich konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Was unser Chorleiter für einen unerhörten melodischen Einfall hielt, hatte ich schon tausend Mal gehört. Genau diese Tonfolge erklang in dem Killerspiel Tiberium Wars, wenn man mit der sinisteren Bruderschaft von Nod den Sieg davontrug. Ich konnte das eigentlich nur begrüßen. Als letzte Woche Tiberium Wars herausgekommen war, war zumindest für eine kleine Zeit alles wieder so wie früher gewesen. Wie vor jenem Zweiten Weihnachtstag im Jahr 2006.

An jenem Tag hatte ich an meinem Computer gesessen und gemerkt, dass das Killerspiel Schlacht um Mittelerde einfach nicht tat, was es sollte. Es gab mir kein Gefühl von Überlegenheit, es setzte keine Adrenalinstöße frei, es ließ mich nicht in eine andere, schönere Welt entgleiten. Genau das hatte es aber noch getan, als ich es vor zwei Jahren das letzte Mal gespielt hatte. Genau das hatte der Nachfolger Aufstieg des Hexenkönigs getan, als ich es vor drei Wochen gespielt hatte. Jetzt aber verspürte ich, je länger je mehr, das Verlangen, das Spiel auszuschalten.

Das war sonderbar, aber kein Grund, sich Sorgen zu machen. Schlacht um Mittelerde war nie ein gutes Spiel gewesen, sondern immer eins, das vor allem mit bombastischer Grafik, bombastischer Musik, bombastischen Schlachten beeindruckt hatte. Und mit Spielen, die vor allem mit Bombast zu fesseln suchten, war das nun einmal so eine Sache: Waren sie einmal in die Jahre gekommen und ihre Technik veraltet, beeindruckten sie niemanden mehr.

Kurzentschlossen hatte ich Fallout 2 installiert. Ein Killerspiel, das schon immer mehr durch Spielinhalte als durch Grafik beeindruckt hatte. Es hieß, ein Mensch in meinem Alter würde seine zitatlastigen Situationen eigentlich noch gar nicht verstehen. Nichtsdestoweniger hatten mir die Wanderungen durch das vom Atomkrieg verwüstete Kalifornien vor zwei Jahren große Freude bereitet. Freude, die ich auch jetzt gerne wieder empfunden hätte. Freude, die ich aber nicht empfand. Wieder verspürte ich, je länger je mehr, das Verlangen, das Spiel auszuschalten.

Schlussendlich wich ich auf Armies of Exigo aus. Ich war kaum noch überrascht, dass ich auch dabei, je länger je mehr, das Verlangen verspürte, das Spiel auszuschalten. Ich hielt dennoch eisern bis zum vierten Level durch. Und siehe da, Armies of Exigo gelang es doch noch, Emotionen in mir hervorzurufen. Allerdings nicht dadurch, dass es mich durch seine beeindruckende Gestaltung fesselte, sondern damit, dass es mich mit seinem legendär unverschämten Schwierigkeitsgrad aufregte. Und da erkannte ich: Das Problem war nicht Schlacht um Mittelerde, war nicht Fallout 2, war nicht Armies of Exigo. Das Problem war, dass Killerspiele über Nacht aufgehört hatten, Welten zu sein, in die ich eintauchen konnte. Killerspiele waren für mich auf einmal das, was sie in den allermeisten Fällen nun einmal waren: Das Abarbeiten immer gleicher, meist nicht sehr anspruchsvoller Aufgaben. Beschäftigungstherapie.

Ob das nun wohl dauerhaft so bleiben würde? Nein, in ein paar Stunden oder vielleicht ein paar Tagen würde schon alles wieder so sein wie früher. Bis dahin würde ich mich ein wenig in Geduld üben müssen. Es war natürlich ein Jammer, dass das genau in den Ferien geschah, doch das ließ sich nicht ändern.

Ich hatte Armies of Exigo ausgeschaltet und beschlossen, heute kein weiteres Killerspiel anzurühren. Ich war mir voll und ganz bewusst gewesen, welche Probleme das mit sich bringen würde. So ein Ferientag nämlich war unglaublich lang. Der Grund, dass er mir in all den Jahren immer so kurz erschienen war, war folgender: Killerspiele verschlangen Zeit. Man fing mit Spielen an und ehe man sich versah, war es schon später Nachmittag. Jetzt stand ich vor der schier unlösbaren Aufgabe, die freigewordene Zeit anderweitig zu füllen. Ich entschied mich für Beethoven-Sinfonien.

Ein Jahr war es her, dass ich mir Einspielungen der Beethoven-Sinfonien beschafft hatte, die ich noch aus Kindheitstagen kannte. Alle zu bekommen, war jedoch nicht so einfach möglich gewesen. Meistens gab es nur die fünfte und die neunte, vielleicht noch die dritte. Die achte, das Werk, mit dem mein Vater mich damals an die Klassik herangeführt hatte, bekam man nirgends. Ich war deshalb zu meinem Vater gegangen und hatte ihn um eine Aufnahme davon gegeben. Ein Wunsch, dem er mit ungläubigem Staunen begegnet war.

«Aber du hörst doch so viel andere Musik –», hatte er gesagt, mir dann aber doch bereitwillig eine Kopie seiner CD angefertigt. Ich könnte auch gerne jederzeit wiederkommen, wenn ich mehr benötigte.

Ich war sogleich in mein Zimmer zurückgekehrt und hatte die CD aufgelegt. Erinnerungen an längst vergangene Tage waren zurückgekehrt. Vor meinem inneren Auge waren die farbenfrohen Technicolor-Landschaften von Tschitti Tschitti Bäng Bäng aufgetaucht, den wir damals gesehen hatten. Woher diese Assoziation kam, konnte ich nicht genau bestimmen. Vermutlich hatte ich im Alter von sechs Jahren nicht wirklich begriffen, dass Beethovens Sinfonien bedeutend älter waren als dieser Film.

Meinen Vater um mehr bitten, war gar nicht nötig gewesen. In der Kommode unter meinem Fernseher befanden sich noch eine ganze Menge ungehörter Klassik-CDs, die meine Mutter mir im Laufe der Jahre gekauft hatte. Nicht alles davon gefiel mir, jedoch an Händels Feuerwerksmusik und an Schumanns Rheinischer Sinfonie konnte ich mich nicht satthören.

Ich war nun also ganz offiziell wieder Klassikhörer. Und mit Philipp hatte ich sogar einen Gleichgesinnten, der etwa in meinem Alter war. Wir tauschten uns recht häufig darüber aus. Nicht über Schumann und Beethoven jedoch, sondern über Midi-Dateien von CPDL. CPDL war eine Internetseite, auf der man kostenlose Noten von Chorwerken herunterladen konnte. Herr Kaiser hatte sie vor einiger Zeit für sich entdeckt. Seitdem stammten fast alle von uns verwendeten Notenausgaben von dieser Seite. Das war zu begrüßen. Zuvor hatten wir unsere Noten meist vom Carus-Verlag bezogen. Und über den Carus-Verlag sollte Philipp dereinst sagen: «Carus ist nicht zu entschuldigen.»

Ich war bei der Suche auf Aufnahmen unserer Werke auf CPDL gestoßen. Aufnahmen gab es dort zwar nicht, dafür besagte Midi-Dateien. Die klangen fast durchweg ziemlich schrecklich, gaben mir aber immerhin überhaupt die Möglichkeit, unsere Werke außerhalb der Probe zu hören.

Herr Kaiser hatte wenig Freude daran, dass Philipp und ich seine Quellen kannten. So nämlich kamen wir ihm auf die Schliche.

«Also, Herr Kaiser», sagte ich, «ich war ja neulich mal auf CPDL und habe mir die Noten vom Magnificat angesehen. Und da stand ganz unten auf der ersten Seite: ‹This edition for distribution in the USA only.› Und jetzt gucke ich mir die Noten an, die Sie uns gegeben haben, und frage mich: Warum steht das hier nicht?»

Die Männer um mich herum lachten.

«Hm», erwiderte Herr Kaiser, «da bin ich wohl vor dem Kopieren mit dem Tipp-Ex gegengekommen.»

In der Folgezeit sollte er immer wieder sein Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen, dass ich doch tatsächlich Internetseiten aufrief, die er vor mir besucht hatte.

Unter den CDs, die meine Mutter mir im Laufe der Jahre gekauft hatte, befand sich auch eine vom Windsbacher Knabenchor. Sie enthielt einige Werke von Schütz, darunter eine Motette namens Herr, auf dich traue ich. Ich wusste, was die Musik von Schütz so auszeichnete: Die Tatsache, dass man jedes Wort des Textes auf irgendeine Weise in den Tönen wiederfand. Bei den ersten Takten von Herr, auf dich traue ich war nicht schwer zu erkennen, auf welche Weise das geschah. Der Tenor sang voller Zuversicht ‹Herr›, die anderen Stimmen folgten ihm. Danach jedoch fiel es mir schwer, aus dem Durcheinander von Stimmen irgendwie schlau zu werden. Ich hörte das Werk dennoch in steter Regelmäßigkeit. Wenn ich beim Chor schließlich eines gelernt hatte, dann das: Manches, was einem im ersten Moment überhaupt nicht gefiel, liebte man später umso mehr. Und das galt für die Musik von Schütz insbesondere.