Eine verachtete Disziplin

Perlen von Holstein Folge 161

Januar 2007

Zum Beginn der heutigen Probe musste Herr Kaiser uns etwas erzählen.

«Wisst ihr, neulich verrät mir ein Knabe in der Einzelstimmbildung, dass er alle Uhren bei sich zu Hause eine Viertelstunde vor gestellt hat. Ich frage ihn dann natürlich: ‹Wolltest du deinen Eltern einen Streich spielen?› Da sagt er: ‹Nein, ich habe das gemacht, weil meine Eltern mich immer eine Viertelstunde zu spät losschicken, wenn ich zum Chor muss.›»

Alle lachten. Keiner begriff, worauf Herr Kaiser uns mit diesem höchstwahrscheinlich fiktiven Musterbeispiel für Zuverlässigkeit und Disziplin eigentlich hinauswollte. Keiner, außer mir. Eine Situation, in der es mir die Pflicht gebot, unserem Chorleiter unter die Arme zu greifen. Die Moral von der Geschicht’ musste schließlich verstanden werden.

«Sowas mal bei den Männern, was, Herr Kaiser?», sagte ich. Dabei blickte ich auf die größtenteils verwaisten Stühle zu meiner Linken und meiner Rechten.

«Ja –», erwiderte Herr Kaiser, «Was soll’s. Ich rege mich doch über gar nichts mehr auf.»

Und in der Tat: Unser Chorleiter regte sich kein bisschen auf, als sich die Stühle zu meiner Linken und zu meiner Rechten nun nach und nach füllten. Er war die Ruhe selbst. Zumindest in den Muskelpartien, die nicht für die Steuerung seiner Mimik verantwortlich waren.

Wir probten Gehe hin in deine Kammer von Max Reger. Ein Stück, das Herr Kaiser so sehr schätzte, dass er es entgegen seiner Art bereits das dritte Jahr in Folge ins Repertoire aufnahm. Diesen Umstand hatte er heute zunächst völlig unkommentiert gelassen. Er hatte die reichlich abgenutzten Notenblätter des Stücks verteilt und es uns einmal von vorne bis hinten durchsingen lassen. Erst danach hatte er bemerkt: «Ich habe es jetzt tatsächlich drei Monate ohne dieses Stück ausgehalten.»

Der Glanz in seinen Augen hatte verraten: Er liebte das Werk wirklich tief und innig. Auch unter uns gab es wohl niemanden, der Gehe hin in deine Kammer nicht zumindest geschätzt hätte. Eigentlich hätte es also wie von selbst gehen müssen. Dem war aber nicht so. Als Herr Kaiser sich nun nämlich den berühmten Einzelheiten widmete, gelangte er schnell zu dem Schluss, dass heute wieder sein ganzer Sarkasmus gefragt war.

«Ich sage es mal pädagogisch wertvoll: Da war jetzt schon viel Schönes dran.»

Gelächter erfüllte den Raum.

Pädagogen standen in Herrn Kaisers Ansehen auf einer Stufe mit Chormuttis, die fanden, dass die Knaben in roten Pullovern viel süßer ausgesehen hatten. Pädagogen nämlich vertraten die Auffassung, dass man Kinder und Jugendliche auch einmal loben musste. Was in der Theorie schlüssig klang, hatte sich in der Praxis bisher noch immer als grundfalsch erwiesen. Kam es in der Probe einmal vor, dass wir brillierten und Herr Kaiser dafür anerkennende Worte fand, konnte man sich sicher sein: Beim nächsten Einsatz würde gar nichts mehr klappen. War das geschehen, blieb mir nichts anders übrig, als unseren Chorleiter zu ermahnen: «Sie dürfen uns nicht loben, Herr Kaiser.» Herrn Kaisers beinahe zerknirschte Antwort darauf lautete meist: «Ja, ja, ich weiß. Ich vergesse es nur immer wieder.»

Derlei frustrierende Erlebnisse konnten schon ein Grund sein, die Erkenntnisse einer gesamten Disziplin zu verdammen. Und fürwahr: Herr Kaiser verdammte die Erkenntnisse der Disziplin Pädagogik. Wann immer er etwas forderte, was man nach Auffassung von Chormuttis und Pädagogen von Kindern doch unmöglich fordern könnte, fügte er seinen Äußerungen hinzu: «Das kann man auch von einem Achtjährigen verlangen!»

Und er verlangte ja nun wirklich nicht viel. Er erwartete lediglich, dass wir zwei Stunden lang aufrecht saßen und zu ihm blickten. Taten wir das, bekamen wir immer mit, wenn er einen Einsatz gab und – was noch viel wichtiger war – wenn er abschlug. Der Moment, in der er abschlug, war nämlich der, in dem der Schlusskonsonant gesprochen wurde. Verpasste jemand diesen Moment, sprach er den Schusskonsonanten zu früh oder zu spät aus. Ein Fehler, den auch ein wenig versierter Zuhörer einfach mitbekommen musste. Es kam deshalb nicht selten vor, dass Herr Kaiser einem Knaben drohte: «Wenn ich mich nicht darauf verlassen kann, dass du zu mir guckst, dann lasse ich dich das Konzert nicht mitsingen!»

Dieser Ultima Ratio konnten Knaben entgehen, indem sie zu Herrn Kaiser sahen oder seinen Rat befolgten: «Wenn ihr im Konzert merkt, dass ihr bei einem Ton unsicher seid, dann singt ihn nicht mit. Um euch herum sind zehn andere Sänger, die den Ton beherrschen, auf euch kommt es in dem Moment nicht an.» Damit unterschied seine Philosophie sich eklatant von der Detlefs, dem Chefdirigenten und Chefpädagogen des Bläserorchesters der Jugendmusikschule. Der predigte noch immer bei jeder Gelegenheit: «Und wenn ihr mal einen Ton nicht spielen könnt, dann spielt ihn trotzdem. Ist doch viel besser, als wenn ihr dann gar nicht spielt.» Nur zu billigend nahm er in Kauf, dass Cleveland Rocks und das Fluch-der-Karibik-Medley dementsprechend klangen. Herr Kaiser hätte sich das niemals bieten lassen. Herr Kaiser ließ sich generell nicht viel bieten. Ein Knabe, der etwas aus seinem Privatleben erzählen wollte, wurde von ihm schon einmal wie folgt zurechtgewiesen: «Du bist distanzlos. Vierzig Leute interessiert es nicht, was du jetzt zu sagen hast. Und ich zähle mich dazu!»

Philipp und ich fanden derartige Äußerungen zum Schreien komisch, so wie wir alles zum Schreien komisch fanden, das in irgendeiner Form aufsehenerregend war. Dazu zählte natürlich auch Herrn Kaisers ständiges Nachbohren, in welchem der drei Vorchöre man dieses oder jenes doch wohl gelernt hätte. Weniger lustig fand zumindest Philipp es, als Herr Kaiser eine derartige Frage nicht an einen Knaben, sondern an ihn, Philipp, richtete. Doch hatte er nach vier Monaten im Männerchor mittlerweile dazugelernt.

«Das weiß ich nicht. Ich habe lediglich eine einfache Vorchorausbildung genossen, Herr Kaiser», sagte Philipp.

Und schon hatte er die Lacher aller Freunde der gepflegten Spitze auf seiner Seite. Dabei war uns Männern durchaus bewusst, dass unser Chorleiter einmal mehr stinksauer war. Den Knaben war das offenbar nicht bewusst. Ansonsten hätte Herr Kaiser sich nicht zu einer Äußerung veranlasst gefühlt, zu der er sich in manchen Situationen eben veranlasst fühlte.

«Wisst ihr, wenn ihr weiterhin meint, nicht zu mir gucken zu müssen, werde ich euch jetzt mal was sagen: Ich habe heute erst einen Knaben aus dem Vorchor Zwei rausgeworfen. Ich habe heute erst dafür gesorgt, dass einer nicht mehr zum Chor kommen darf. Der hat es nicht begriffen!»

Man konnte davon ausgehen, dass diese Geschichte ähnlich fiktiv war wie die über den Knaben, der die Uhren seiner Eltern umgestellt hat. Doch wer wollte es schon drauf ankommen lassen, wenn er wusste, dass da noch zehn andere Sänger waren, die den Ton beherrschten?