Die Trompete, sie schmettert

Perlen von Holstein Folge 159

Rolf Becker, der letztes Jahr die Lesung in unseren Weihnachtskonzerten übernommen hatte, war ein Altlinker. Das war uns allen spätestens bewusst geworden, als er seine rund fünfundvierzig Minuten lange Weihnachtsgeschichte vorgetragen hatte. Marc hatte es vorher wahrscheinlich nicht gewusst. Anderenfalls hätte er ihn wohl kaum gebucht gehabt. So überparteilich unser Chor auch sein mochte, gab es nun wirklich keinen Grund, hier das Gespenst des Kommunismus umgehen zu lassen. Deshalb war Marc dieses Jahr auf Nummer sicher gegangen und hatte Rolf Seelmann-Eggebert bestellt. Der war nach Angaben meiner Mutter der oberste Hofberichterstatter der ARD. Es gab kein Fürstenhaus in Europa, in dem er nicht verkehrte. Mit Rolf Becker hatte er kaum mehr als den Vornamen gemein.

Ich hatte befürchtet, dass die Lesung dieses Mal noch langweiliger würde als in den vergangenen zwei Jahren. Das aber war nicht passiert. Rolf Seelmann-Eggebert hatte sich als durchaus kompetenter Geschichtenonkel erwiesen. Seine Stimme hatte wie die eines Opas geklungen, der seinen Enkeln vorliest. Und der Humor seiner Erzählungen war mit erstaunlich viel Menschenkenntnis gewürzt gewesen. Dennoch: Alleine durch die Tatsache, dass er Hofberichterstatter war, war er der lebendige Beweis gewesen, dass die Lesung ein Auslaufmodell war.

Zwei Tage später hatte in St. Johannis-Harvestehude die neue Zeit begonnen. Herr Kaiser hatte zur Sonderprobe mit den Blechbläsern geladen. Nach dieser Probe hatten Philipp und ich begeistert das Thema der Canzona seconda von Giovanni Gabrieli gegrölt. Kein Zweifel: Der Klang der Trompeten, das Tönen der Posaunen hatte bei uns einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Jedoch: Als am Sonnabend das Konzert begann, war ich in der seit eineinhalb Jahren so vertrauten Bringen-wir’s-hinter-uns-Stimmung. Wie hätte ich das auch nicht sein sollen? Ein Konzert war ein Konzert – Blechblasgedröhne hin oder her. Aufsehenerregendes war nicht zu erwarten.

Zweifelhafter Höhepunkt des ersten Konzertteils war Günter Raphaels Advents-Kyrie alias Maria durch ein Dornwald ging. Ich war schon etwas erstaunt gewesen, als Herr Kaiser in Prag die Noten davon ausgeteilt hatte. Dabei hatte ich mich durchaus noch dunkel daran erinnern können, dass er es schon in den Wochen vor meinem Stimmbruch mit uns geprobt hatte. Der schönen Überraschung war recht bald eine böse gefolgt: Meine Güte, war der erste Bass in der zweiten Strophe schwer! Philipp und Max-Frederick hatten hingegen gut Lachen gehabt: Der zweite Bass war nach ihren Angaben einfach mal derbe geil.

Ich hatte den ersten Bass in den folgenden Wochen singen und lieben gelernt. Ein Problem aber war geblieben. So sehr ich Herrn Kaiser als Mensch und als Musiker schätzte: Ein Stück mit uns zu machen, auf dem dermaßen groß der Name Brigitte Siebenkittel stand, konnte ich ihm besten Wissens und Gewissens nicht empfehlen. Da hatten wir eine Erwartungshaltung an die Interpretation, die er im Leben nicht erfüllen konnte. Einfach, weil er Stücke eben völlig anders als sie umsetzte. Würde sie wiederkommen und mit uns Gehe hin in deine Kammer, O Heiland reiß die Himmel auf oder ein anderes typisches Kaiser-Stück machen, das Resultat würde uns wahrscheinlich ähnlich befremden.

Das heutige Resultat jedenfalls befremdete wohl nicht nur mich. Die beiden Knaben, denen unser Chorleiter das Alt-Solo in der ersten Strophe zugewiesen hatte, bekamen den Anfangston, das tiefe F, nicht. Sie durften es deshalb oktavieren. Das klang merkwürdig und war nicht sonderlich beeindruckend. Und wenn ein Solo eines nun einmal in jedem Falle sein musste, dann beeindruckend. Somit war der Anfang bereits irgendwie ruiniert. Und das war fatal bei einem Werk, dessen größte Stärke seine Dramaturgie war.

Die nachfolgenden Stücke liefen besser, was mich jedoch nicht aus meiner Bringen-wir’s-hinter-uns-Stimmung zu reißen vermochte. Ich erwachte erst, als Frans ein bemerkenswerter Lapsus passierte: Statt ‹Ein Ki-ind geboren zu Bethlehem› sang er ‹Ein Ki-ind ersch – -ren zu Bethlehem›. Ein Fehler, der uns Bässen in den vergangenen Wochen schon häufiger unterlaufen war, wenngleich bisher nur in den Proben, nicht bei den Auftritten. Wie sollte es auch anders sein? Ein halbes Jahr lang hatten wir das Stück immerzu auf unseren Alternativtext Ein Kind erschossen gesungen. Es verstand sich von selbst, dass wir ihn uns nicht von heute auf morgen wieder abgewöhnen konnten. Unser Chorleiter sah das naturgemäß anders. Einige Sekunden lang blickte er Frans finster an, dann dirigierte er weiter.

Und das war der Moment, in dem ich erwachte. Plötzlich spürte ich die Euphorie, die um mich herrschte, merkte, wie elektrisiert das Publikum war. Auch Herr Kaiser wirkte überglücklich. Dafür konnte es eigentlich nur einen Grund geben: Wir waren heute richtig, richtig gut. Und wenn ich einmal so drauf achtete, konnte ich tatsächlich nur erfreut feststellen: Die Intonation war lupenrein, jeder Einsatz kam, wann er kommen sollte, und auch der letzte Knabe schien heute mal wirklich bei der Sache zu sein. Ob das Herrn Kaisers Blechbläsern zu verdanken wir? Ich ging jetzt einfach mal davon aus. Und selbst wenn es nicht ihr Verdienst sein sollte: An der Festlaune hatten sie in jedem Falle einen entscheidenden Anteil. Welche Lust es doch bereitete, ihnen bei ihrem technisch brillanten Geschepper zuzuhören.

Vorbei war es mit der Bringen-wir’s-hinter-uns-Stimmung. Jetzt verfiel ich in einen Rausch, der mit jedem Stück stärker wurde und mit dem frenetischen Schlussapplaus des Publikums seinen Höhepunkt erfuhr. Herr Kaiser nahm ihn in altbekannter Manier entgegen: Er verbeugte sich tief und leitete den Beifall dann mit Gesten an die Blechbläser, den Organisten und uns weiter – ein Gebaren, das Philipp spöttisch als Retourkutsche bezeichnete.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Wenn das Publikum klatscht, muss ein Künstler sich verbeugen. Tut er das nicht, kann das böse Folgen haben. Dies musste Arnold Schönberg einst bitter erfahren. Die Uraufführung seiner Gurre-Lieder war ein gewaltiger Erfolg. Der Meister jedoch – von früheren Verletzungen noch schwer gekränkt, weigerte sich, den Applaus des Publikums entgegenzunehmen. Dafür rächte es sich einige Wochen später. Beim berühmt-berüchtigten Skandalkonzert von 1913 kam es zu Tumulten, in deren Folge die Veranstaltung abgebrochen werden musste. Schimpfworte wurden ausgestoßen, Stühle zerstört und Ohrfeigen verteilt, weshalb dieses Ereignis auch als Watschenkonzert bekannt ist.

Bei so viel Begeisterung verstand es sich von selbst, dass wir eine Zugabe sangen. Nun ja: Eigentlich verstand sich das immer von selbst. Ganz gleich, wie gut oder schlecht ein Konzert besucht und beklatscht wurde, wir sangen eine Zugabe. Diese war in diesem Jahr Ding! Dong! Merrily on high. Nicht nur ich war der Meinung, dass das kein würdiger Abschluss für einen Nachmittag wie diesen war. Auch das Publikum hatte noch lange nicht genug. Es klatschte so frenetisch, dass eine zweite Zugabe unabdingbar war. Das Problem war: Eine zweite Zugabe hatte es noch nie gegeben. Sie war nicht vorgesehen. Unser Repertoire war erschöpft.

«Noch mal Tollite Hostias», sagte Herr Kaiser deshalb.

Und schon ging es los, in voller Lautstärke los: «Tollite Hostias! Et adorate!» Das klang mehr festlich als schön, alles andere wäre in der jetzigen Jubelstimmung wohl auch höchst unauthentisch gewesen. Ob wir noch wirklich richtig sangen, war allen anwesenden wohl auch ziemlich egal. Dem Publikum war es egal, Herrn Kaiser war es egal und, ja: sogar Philipp war es egal. Es gibt da nämlich eine Sache, die man über Tollite Hostias wissen muss: Wenn zum Schluss die Passage ‹Laetentur coeli, et exultet terra› noch einmal wiederholt wird, enthält sie bei dem Wort exultet im Bass einen kleinen Zusatzton. Diesen enthält sie aber wirklich nur, wenn diese Passage zum Schluss noch einmal wiederholt wird. Nicht, wenn sie zum ersten Mal erklingt. Weil ich anscheinend dafür bekannt war, mich beim Absingen derartiger Konstrukte öfter mal zu vertun, stieß Philipp mir beim ersten Erklingen dieser Passage immer präventiv in die Seite. Dies zu unterlassen, war ihm jetzt jedoch nicht genug. Er knallte den kleinen Zusatzton bei der Wiederholung der Passage dermaßen lustvoll heraus, dass ich mir ein orgiastisches Lachen nur mühsam verkneifen konnte. Herr Kaiser dürfte es kaum bemerkt haben. Der war zu sehr mit sich und seiner Ekstase beschäftigt. Er wuchtete mit den Armen herum, als ob vor seinen Augen ein tolles Wespenheer miteinander zänkisch wär’. Beim Schlussakkord ging er so energievoll in die Hocke, dass ich ernsthaft befürchtete, er würde gleich einen Herzanfall bekommen. Ich hatte ihn niemals glücklicher gesehen.

Unter frenetischem Applaus verließen wir das Gotteshaus. Draußen grölten Philipp und ich noch ein drittes Mal Tollite Hostias und den kleinen Zusatzton. Auch die Knaben, die um uns standen, grölten herum. Niemand verschwendete einen Gedanken daran, dass mit dem heutigen Tage die Lesung für immer aus unseren Weihnachtskonzerten getilgt worden war. Die Blechbläser hatten sich in unsere Herzen gespielt – der Posaunist spätestens mit der frechen Abwärtsquinte, die er Tollite Hostias zum Schluss beigewürzt hatte.


Nach dem Konzert saßen David und ich zusammen im Gemeindehaus an einem Tisch und ließen es uns gutgehen. Meine Mutter saß daneben und beobachtete unser Treiben.

«Oh, guck mal», sagte ich mit Blick auf das Porzellanbehältnis in der Tischmitte, «da ist ja Würfelzucker drin.»

«Oh, cool», erwiderte David, «dann können wir uns ja geile Marshmallows machen.»

David griff die Zuckerzange, die neben dem Porzellanbehältnis lag, und nahm ein Stück Würfelzucker heraus. Jenes hielt er die Flamme eines herumstehenden Teelichtes. Der Würfelzucker wurde davon zwar nicht zum Marshmallow, lief aber schwarz an. Ein Umstand, der uns beide kichern ließ.

Meine Mutter blickte uns an, als würde sie sagen wollen: ‹Ich kenne die beiden nicht.› Sie hatte offenbar keine Ahnung, dass es beim Chor jede Woche so zuging, begriff gar nicht, wie glücklich ich hier derzeit eigentlich war. Nein, natürlich begriff sie das nicht. Ansonsten wäre ihr Marcs Weggang wohl kein Anlass gewesen, mir ganz unverbindlich den Vorschlag zu machen, doch aus dem Knabenchor auszutreten. Ich war aus allen Wolken gefallen. Jeden Freitag sang ich ihr nach der Probe unaufgefordert aus unserem Repertoire vor und da kam es ihr in den Sinn, dass ich austreten wollte? Ein Vorschlag, den ich vor nicht allzu langer Zeit noch sofort angenommen hätte. Ein Vorschlag, den sie mir damals aber gewisslich nie im Leben gemacht hätte. Damals war schließlich noch nicht Herr Kaiser unser Chorleiter gewesen. Herr Kaiser, der so langweilige Stücke aufführte, uns die Konsonanten so fürchterlich knallen ließ und lauter andere Dinge tat, die meiner Mutter missfielen.