Klug, mutig, schön

Perlen von Holstein Folge 158

Dezember 2006

Unser diesjähriges Weihnachtsdebüt gaben wir in der Hauptkirche St. Katharinen. Das war aus zweierlei Gründen bemerkenswert: Zum einen, weil wir Weihnachtsdebüts für gewöhnlich im kleinen Rahmen gaben. Als solcher war eine Veranstaltung in einer der Hamburger Hauptkirchen wohl kaum zu bezeichnen. Zum anderen, weil wir in meiner Erinnerung bisher erst ein einziges Mal in St. Katharinen gewesen waren. Irgendwann 1998 hatten wir hier die Via Crucis gesungen.

Über die Hässlichkeit des Interieurs dieser Kirche hatte ich damals nicht schlecht gestaunt. Kahl und weiß waren die Wände gewesen. Vergleichbares hatte ich bis dahin nur aus dem Kellergewölbe des Michels gekannt. Von den Kirchenfenstern waren nur die wenigsten welche im klassischen Sinne gewesen, also Heiligen oder Bibelszenen nachempfundenes Buntglas. Die meisten hatten aus Rechtecken in verschiedenen Grüntönen bestanden. Und die Kirchenbänke waren für ein Gotteshaus dieser Dimension erstaunlich unverschnörkelt, ja, geradezu zweckmäßig. Zumindest in meiner Erinnerung.

Für die hässlichen Kirchenfenster hatte mein Vater drei mögliche Erklärungen gehabt. Die ursprünglich verbauten, wesentlich prunkvolleren Fenster waren – A im Zweiten Weltkrieg zerstört oder geraubt worden – B im Zweiten Weltkrieg ausgelagert worden und im Zuge des Gebietsverlusts in Feindeshand geraten – C im Zweiten Weltkrieg ausgelagert und so gut versteckt worden, dass man sie nicht mehr wiedergefunden hatte.

Natürlich hatte mein Vater nicht vergessen, darauf hinzuweisen, dass wir Deutschen im Zweiten Weltkrieg ebenso eine ganze Menge Kirchenfenster zerstört oder geraubt hatten. So hatte ich einmal mehr vor Augen geführt bekommen, was Krieg alles anrichten konnte: Menschen starben, Familien wurden zerstört und Kirchen wurden hässlich. St. Katharinen schien es besonders schlimm getroffen zu haben. Umso mehr erstaunte es mich, dass das Gotteshaus offenbar schon seit einigen Jahren mit klug, mutig, schön warb. Man scheute sich nicht einmal, Kleidungsstücke mit diesem Claim herauszugeben. Neulich war ein Knabe mit einem entsprechenden Pullover zur Probe gekommen. Er hatte sogleich hämische Kommentare kassiert. Wir hatten natürlich alle geglaubt, diese drei Worte sollten sich auf ihn beziehen.

Wie dem auch sei: Es war, wie gesagt, rund neun Jahre her, dass ich das letzte Mal in St. Katharinen gewesen war. Dennoch war ich zuversichtlich, das Gotteshaus auch im Dunkeln rasch zu finden. Es lag im Hafengebiet und war vom Fähranleger fußläufig zu erreichen. Natürlich konnte man auch zwei Stationen mit der U-Bahn fahren, um näher heranzukommen. Das war aber gar nicht nötig. Es würde vollkommen genügen, schnurgerade auf den Kirchturm zuzulaufen, der sich majestätisch über die Häuserreihen erhob. Ich plante für den Weg eine Viertelstunde ein.

Als ich aus der Fähre stieg, stellte ich fest, dass es tatsächlich drei Kirchtürme waren, die man vom Anleger sofort sehen konnte. Der erste gehörte unverkennbar dem Michel. Dort musste ich heute nicht hin. Auch der zweite kam nicht in Frage. Bei diesem handelte es sich um einen Zwiebelturm und wenn es etwas gab, das vom Heimatkunde-Unterricht bei mir hängen geblieben war, dann dieses: Die Kirche mit dem Zwiebelturm war St. Petri. Genau genommen war dies auch die einzige Turmart, die ich überhaupt benennen konnte. Blieb also nur der spitzzulaufende Turm zwischen Michel und St. Petri.

Ich bewegte mich auf ihn zu. Recht bald musste ich feststellen, dass das mit der Viertelstunde etwas zu optimistisch geschätzt gewesen war. Die Kirche war weiter vom Fähranleger weg als es den Anschein erweckte. Und schnurgerade darauf zuzulaufen war aufgrund der Straßenführung und der zu überquerenden Kanalbrücken nicht möglich. Nach zwanzig Minuten fand ich mich zwischen verwaisten Bürogebäuden wieder, in deren Erdgeschossen sich die sonderbarsten Ladengeschäfte niedergelassen hatten. Die Häuser waren so hoch, dass sie den Kirchturm überdeckten.

Ich ging auf gut Glück zwischen ihnen hindurch – weit konnte es ja eigentlich nicht mehr sein. Als ich schon glaubte, mich völlig verlaufen zu haben, stieß ich auf das Ende einer Fußgängerbrücke. Sie war mit einer Rolltreppe ausgestattet, die den Anschein erweckte, vor Jahren das letzte Mal benutzt worden zu sein. Als ich sie betrat, setzte sie sich mit lautem Brummen in Bewegung. Ich fühlte mich spontan an eine Folge von Grusel, Grauen, Gänsehaut zurückerinnert. In jener war der rund zwölf Jahre alte Protagonist in einem gigantischen Flipperautomaten gefangen gewesen. Einem Flipperautomaten voller todbringender Fallen und Ungeheuer, versteht sich. Indes einem, der in Gestalt eines verlassenen amerikanischen Einkaufszentrums dahergekommen war. Ins nächste Level war der Protagonist stets über eine Rolltreppe gelangt. Eine Rolltreppe wie die, auf der ich gerade stand.

Oben angekommen, glaubte ich allmählich, auch in einem gigantischen Flipperautomaten gefangen zu sein. Die Fußgängerbrücke, auf der ich mich befand, war keine, die einen von der einen Seite zur Straße zur anderen führte. Sie führte einen, wohin man wollte. Gesetzt den Fall, man wusste, welchen Weg man gehen musste. Ich entschied mich für einen, der über eine mehrspurige Straße führte. Auf der anderen Seite wartete endlich das Gotteshaus, auf dessen Turm ich die ganze Zeit zugelaufen war: Die Ruine der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Hauptkirche St. Nikolai.

Ich fluchte innerlich und womöglich auch äußerlich. Das konnte doch gar nicht sein. Ich trat näher an den Turm heran. Neben dem verrammelten Eingang stand ein Schaukasten mit der Überschrift ‹Mahnmal St. Nikolai›. Das hier war also definitiv nicht St. Katharinen.

Ich begab mich zurück zur Fußgängerbrücke und sah mich um. Um mich herum sah ich fünf Türme. Einer gehörte dem Hamburger Rathaus, einer dem Michel und drei zu anderen Hauptkirchen. Zwei dieser drei Türme waren eindeutig zu weit weg, um St. Katharinen zu sein. Blieb der Zwiebelturm, der doch aber ganz eindeutig Teil von St. Petri war. Ich betrachtete ihn dennoch als meine letzte Hoffnung. Ich war bereits eine Viertelstunde im Verzug. Wenn die Kirche mit dem Zwiebelturm nicht St. Katharinen war, wäre das Konzert vorbei, wenn ich dort ankäme.

Ich rannte durch die Nacht. Die eigenwillige Straßenführung und die Höhe der verwaisten Bürogebäude erschwerten mir einmal mehr die Orientierung. Schließlich aber stand sie vor mir, die Kirche mit dem Zwiebelturm. Im Schaukasten neben dem Eingang stand ‹Hauptkirche St. Katharinen›. Ich traute dem Frieden trotzdem erst, als ich hereintrat und im Altarraum meinen Knabenchor erblickte. Schweißgebadet hechtete ich auf ihn zu.

«Bin zur falschen Kirche gerannt», sagte ich. Die anderen lachten.

Das hatte man davon, wenn man im Heimatkunde-Unterricht wirklich gar nichts gelernt hatte.


Die Veranstaltung bei der wir heute mitwirkten, war nicht etwa ein Gottesdienst, sondern Jugend kulturell, das Preisträgerkonzert von Jugend musiziert, gesponsert von der HypoVereinsbank. Was wir hier zu suchen hatten, erschloss sich mir nicht so recht. Normalerweise war unser Sinn und Zweck bei solchen Veranstaltungen ja, selbige aufzuwerten. Wenn hier aber nur die Creme der deutschen Musikschülerschaft auftrat, war das doch überhaupt nicht nötig. Andererseits war es natürlich möglich, dass man uns gebucht hatte, um das Niveau der Veranstaltung noch einmal so richtig zu unterstreichen.

Meine Skepsis mochte damit zusammenhängen, dass ich Jugend-musiziert-Teilnehmer nicht leiden konnte. Zu oft hatte ich es bei Vortragsabenden schon erleben müssen: Erst spielten sie einem mit ihrer perfekt vorgetragenen Virtuosenliteratur an die Wand, dann verzogen sie keine Miene, während man sich seinem mühsam zusammengetröteten Schülerfibel-Repertoire bis auf die Knochen blamierte. Zumeist stand ihnen dabei die Arroganz ins Gesicht geschrieben. Ich konnte wahrlich von Glückreden, nie mehr als zwei von ihnen auf einmal getroffen zu haben. Das aber würde sich heute Abend ein für alle Mal ändern.

Wir waren als erstes an der Reihe, sangen Wie soll ich dich empfangen, Uns ist geboren ein Kindelein und Es ist ein Ros entsprungen. Unser Auftritt wurde von dem der ersten Preisträgergruppe unterbrochen. Drei junge Burschen, für die einen wirklich nur die Bezeichnung Schnösel einfiel. Sie trugen glattgebügelte, bis zum Hals zugeknöpfte Hemden und mittellanges, nach oben gekämmtes Haar. Ihre arroganten Augen würdigten uns keines Blickes. Sie machten sich sogleich an ihren Instrumenten zu schaffen: Eine Geige, ein Cello und ein Klavier. Was sie spielten, war von Haydn und passte im Übrigen wunderbar zu dem Bild, das die drei abgaben. Ich hatte jedenfalls noch nie so selbstgefällig klingende Musik gehört.

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Wohl um zu demonstrieren, dass dies kein schnödes Schülervorspiel, sondern ein richtiges Konzert war, bewegten sich die drei zu ihrem Spiel. Der Pianist trieb es jedoch eindeutig zu weit. Völlig unabhängig von der Geschwindigkeit des Gespielten turnte er mit seinen Oberkörper hin und her als meinte er, Glenn Gould zumindest in diesem Segment Konkurrenz machen zu können. Glenn Gould jedoch hatte beim Spielen geturnt, weil er eben beim Spielen geturnt hatte, nicht, weil das so virtuos aussah.

Ich glaubte zunächst, mit meinen Aversionen ziemlich alleine da zu stehen. Doch schon bald musste ich feststellen, dass mein Nachbar Philipp, unser choreigener Klaviervirtuose, sie teilte. Als die drei nach einer Viertelstunde noch immer nicht fertig waren, klopfte er demonstrativ mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr. Just in diesem Augenblick blickte die Lehrerin der drei in unsere Richtung. Unser mühsam unterdrücktes Lachen hätte orgiastischer kaum sein können.

Endlich waren die drei fertig, doch mein Martyrium war noch nicht vorbei. Wir sangen jetzt Ding! Dong! Merrily on high im Satz von Charles Wood, ein Stück, das ich noch von früher kannte. Wir hatten es in den Wochen vor meinem Stimmbruch einige Male geübt. Damals hatte ich mich noch daran erfreut, ein Lied zu singen, das Hört der Engel helle Lieder zumindest nahe kam. So hatte ich, wenn auch keine positive, so doch eine neutrale Haltung dazu gehabt. Darüber hinaus hatte mein alter Freund Lukas für das Stück die Alternativbezeichnung Ding! Dong! Merrily is high kultiviert und damit stets für Lacher gesorgt.

Auch heute sorgte das Lied noch für durchaus nicht hämisch gemeinte Lacher. Etwa, wenn Frans und ich schon wieder statt ‹May your beautifully rhyme› versehentlich ‹May your beautifully crime› sangen. Eine Umdichtung, die uns beiden unabhängig voneinander einfach so geschehen war. Crime passte klanglich aber auch so viel besser zum Reimwort prime. Ebenso lustig war, wie herrlich amerikanisch der gute Nathanael das Wort Excelsis aussprach.

Das alles waren aber Dinge, die wir aus dem Stück machten, nicht welche, die das Stück selbst bot. Was das Stück bot, war ein Refrain, der etwa doppelt so lang war wie die eigentlichen Strophen und dann auch noch jedes Mal wiederholt wurde. Er umfasste im Wesentlichen das aus Hört der Engel helle Lieder bekannte Gloria. Es war allerdings erheblich gestreckt worden, was auf die Kraft dieser Töne eine geradezu pervertierende Wirkung hatte. Hinzu kam, dass der Bass aus den gewöhnlichsten nur denkbaren Harmonietönen bestand. Sie bei der Probe eine halbe Stunde lang singen zu müssen, war die reinste Tortur. Philipp und ich hassten sie tief und innig.

Nach Ding! Dong! Merrily on high sangen wir noch drei Stücke, dann war unser Part beendet. Die anderen durften nach Hause gehen, ich hingegen musste bis zum Ende der Veranstaltung bleiben. Der Grund dafür war, dass meine Eltern heute ebenso hergekommen waren. Anders als ich liebte meine Mutter nämlich Jugend musiziert und alle, die daran teilnahmen.

Mich zu den beiden zu setzen war nicht möglich, ohne mich beim Rest des Publikums unbeliebt zu machen. Ich begab mich deshalb zu einem freien Stuhl im Seitenschiff. Hier konnte ich sogleich eines feststellen: Das Interieur von St. Katharinen war noch genauso hässlich wie früher. Wie ich jedoch bei der Ansprache der Pastorin erfuhr, sollte sich das schon bald ändern. Vor kurzem nämlich waren die Immobilien der Hamburger HafenCity in den Einflussbereich des Gotteshauses gelangt. Damit standen nun offenbar die Gelder zur Verfügung, die nach dem Zweiten Weltkrieg gefehlt hatten. Eine Herzensangelegenheit war der Pastorin die Wiederherstellung der alten Orgel. Über diese habe sich nämlich Johann Sebastian Bach seinerzeit sehr lobend geäußert. Grund genug, sie wiederhaben zu wollen. Und Grund genug, um Spenden zu bitten für die Hauptkirche St. Katharinen und für Johann Sebastian Bach.

Nach der Pastorin betrat eine deutlich jüngere Dame das Podest. Sie sang das Heidenröslein in der Fassung von Heinrich Werner. Die Art, wie sie es sang, ließ mich an Herrn Kaisers jüngste Stand-up-Einlage denken. Er hatte vorgemacht, an welchen Äußerungen man in der Mensa der Universität der Künste erkannt hätte, dass Gesangsstudenten mit am Tisch saßen. Typisch für Sopranistinnen seien dabei folgende sich unverstanden fühlende Worte gewesen: ‹Und die Gesangslehrerin hat gesagt, ich hätte nicht mit Innbrunst gesungen, aber ich habe doch mit Innbrunst gesungen!›

Ganz ohne Zweifel innbrünstig wurde ich, als ich heute auf meine alten Tage noch einmal Tochter Zion singen durfte. Es war das heutige Gemeindelied.


Als die Veranstaltung zu Ende war, hielt ich sogleich Ausschau nach meinem Vater. Wenn es nämlich einen Menschen gab, der meine Abneigung gegenüber Ding! Dong! Merrily on high definitiv teilte, dann war das er. Das erste Thema, das ich anstieß, war dann auch sogleich das Stück.

«Ja», sagte mein Vater, «diese fünffache Sequenz im Refrain, das war wirklich ’ne ziemliche Lachnummer.»

«Eigentlich ist doch auch nur eine dreifache Sequenz erlaubt», erwiderte ich.

«Ja, maximal drei, aber selbst das darf eigentlich nur Bach. Bei jedem anderen Komponisten ist sowas langweilig.»

Worin mein Vater ebenso mit mir übereinkam, war mein Urteil über die Sängerin. Er fand Herrn Kaisers Zitat äußerst treffend und nicht weniger zum Schreien komisch als ich. Meine Mutter hingegen konnte nicht darüber lachen. Sie schätzte die Nachäffkünste unseres Chorleiters generell wenig. Das galt insbesondere, wenn deren Opfer Chormuttis waren. Doch was sollte man machen. Man konnte es ja nun wirklich nicht immer jedem recht machen wollen.