Entwurzelung

Perlen von Holstein Folge 156

Herr Kaiser hatte uns In dulci jubilo weggenommen. Herr Kaiser hatte uns die roten Pullover weggenommen. Herr Kaiser hatte uns den Ausdruck Mutantenchor weggenommen, die einst so bezeichnete Institution hieß jetzt Männervorchor. Eigentlich war es nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis er uns auch noch das wegnehmen würde: Maschen, seit mindestens einem Jahrzehnt unser Stammheim für Chorwochenenden. Es wurde in diesem Herbst mit sofortiger Wirkung durch den Sunderhof ersetzt.

Ich war davon völlig überrumpelt. Dabei geschah diese Veränderung keineswegs Knall auf Fall. Bereits im April war testweise ein Chorwochenende im Sunderhof veranstaltet worden. Ich war allerdings nicht dabei gewesen und ich kannte auch niemanden, der dabei gewesen war. Wobei: Doch, Georg war mitgefahren. Und er hatte erzählt, dass er ziemlich alleine gewesen war. Nichtsdestoweniger war die Entscheidung für den Sunderhof und gegen Maschen ausgefallen.

Ich war darüber nicht wirklich traurig. Der Gedanke, nach Maschen zu fahren, hatte mich bis zuletzt immer mit einem gewissen Unbehagen erfüllt. Es gab wohl keinen Ort, an dem ich mehr trübe Stunden zugebracht hatte. Zumindest nicht in Zusammenhang mit Chorveranstaltungen. Nirgendwo waren die düsteren beiden Jahre zwischen dem Weggang Vinzents und der Amerikareise präsenter als hier. Ich konnte also eigentlich nur froh sein, dass wir genau jetzt in diesen goldenen Zeiten unser Stammheim wechselten. So würde ich vielleicht den Rest meines Lebens den Sunderhof mit ihnen verbinden.

Die offizielle Begründung für den Wechsel war übrigens, dass nach Herrn Kaisers Empfinden der Maschener Probenraum für uns mittlerweile einfach zu klein war. Im Sunderhof gab es einen vom Format einer Turnhalle. Es würden jedoch nicht wir sein, die ihn bezogen, sondern das Haydn-Orchester Hamburg. Die Herrschaften waren schneller als wir gewesen.

Es war allerdings nicht unserem Chorleiter zu verdanken, dass die Wahl ausgerechnet auf den Sunderhof gefallen war. Dies war das letzte Vermächtnis Marcs. Er kannte das Heim von Chorwochenenden, die er mit der Kantorei St. Nikolai hier verbracht hatte. Seine persönliche Motivation für den Wechsel war übrigens, dass das Essen in Maschen nach seinem Empfinden immer schlechter geworden war.


Ohne mich über die genaue Lage des Sunderhofs informiert zu haben, konnte ich mir schon denken, wie diese am besten zu umschreiben war: Vor den Toren Hamburgs und doch ohne zumutbare Anbindung an den öffentlichen Personenverkehr. Ich fuhr bei Zwergo im Auto mit. Als wir ankamen, herrschte tiefste Finsternis. Wir begaben uns in das oder besser: die Gebäude. Ähnlich wie das Naturfreundehaus Maschen bestand der Sunderhof aus mehreren Häusern. Ich konnte allerdings kaum bestimmen, wie viele es waren. Sie waren nämlich nicht mit einem Gang verbunden, sondern aneineinander gebaut. Freistehend war alleine die Halle, die den großen Probenraum beherbergte.

Befand man sich in den Gebäuden des Sunderhofs, merkte man kaum, dass es mehrere waren. Man konnte sie von der einen Seite zur anderen durchqueren, ohne auf eine dicke Tür oder auch nur einen auffallend anderen Bodenbelag zu stoßen. Schmale, fensterlose Korridore wechselten sich mit lichtdurchfluteten Treppenhäusern und Foyers ab. Zuletzt gelangte man in den ebenso lichtdurchfluteten Speisesaal. Doch obwohl der Sunderhof damit überwiegend ein Ort des Lichtes war, kam er mir irgendwie düster vor.

Es mochte daran liegen, dass bereits der Name Sunderhof irgendwie düster klang. Wahrscheinlicher aber war es darauf zurückzuführen: Ausgerechnet die Schlafräume lagen an den schmalen, fensterlosen Korridoren. Sie selbst atmeten mit ihren altmodisch wirkenden Holzmöbeln irgendwie den Geist der trüben Fünfzigerjahre, ja, ließen mich geradezu an ein Altersheim denken. Man musste allerdings sagen, dass sie deutlich edler waren als ihre Maschener Pendants. Mehrstöckige Schlafplätze suchte man vergeblich, hier gab es nur Einzelbetten. Das führte beinahe zwangsläufig dazu, dass wir fast ausschließlich in Doppelzimmern nächtigten.

Der Hauptunterschied zu Maschen aber war die Vermittlungsarbeit, die man hier leisten wollte. Maschen hatte bekanntermaßen auch Naturfreundehaus geheißen. Dieser Name war Programm gewesen. Im Eingangsbereich hatte ein Baumstück gehangen. An dessen Jahresringen hatten kleine Zettel geklebt, die angezeigt hatten, was sich in jenem Jahr in Hamburg und Deutschland ereignet hatte. Im Sunderhof dagegen lagen in allen Zimmern Bibeln aus. Auf dem Flur vor dem kleinen Probenraum hing zudem ein auf mehrere Plakate verteiltes Vaterunser. Unter jedem Vers befanden sich kurze Anmerkungen.

Philipp war von derartiger Wandgestaltung wenig angetan.

«Oh, und dieses zerstückelte Vaterunser, das regt mich auch wieder so auf», sagte er.

«Ach, komm», erwiderte ich, «diese Kommentare sind doch wirklich toll.»

Ich trat wahllos an eines der Plakate heran und las vor: «‹Schuld trennt die Weißen von den Schwarzen, deine Geschöpfe. Schuld trennt die starken von den schwachen Völkern, deine Menschen –› Alter, das ist ja voll rassistisch, hahaha!»

Ich rief sofort David herbei. Der begutachtete sogleich das Plakat und kam zu einem für seine Verhältnisse überraschend wohlwollenden Urteil.

«Naja, es ist sicher nicht rassistisch gemeint, aber das so zu formulieren ist schon übelst grenzwertig», sagte er.

Wir lachten uns trotzdem noch einmal gründlich darüber tot. Ich hielt den Augenblick fest, indem ich das Plakat fotografierte.


Am zweiten Abend durften wir alle den großen Vorzug des Sunderhofs kennenlernen: Im Keller gab es eine Kegelbahn. Vorbei waren also die Zeiten, in denen mehr oder minder gemeinschaftlich im Fernsehen Domino Day gesehen wurde. Von nun an war sonnabends Kegelabend. Daran teilzunehmen war für mich das selbstverständlichste der Welt. Nur mit Verwunderung konnte ich noch daran denken, wie im mich vergangenes Jahr in Marktoberdorf dem Kegeln verweigert hatte. Ich hätte doch wissen müssen: Das hier war nicht der Schulsport. Ich bekam hier keine Fünf, weil ich im Badmintton nacheinander gegen zehn Klassenkameraden verlor, die diesen Sport vereinsmäßig betrieben. Das hier war der Chor. Hier bewies man, dass Bewegung auch völlig demütigungsfrei vonstattengehen konnte.

Der erste Teil des Kegelabends verlief ganz klassisch. Es wurden zwei Mannschaften gebildet und ein Turnier veranstaltet. David und ich verfehlten die Kegel am häufigsten und waren damit unbestritten die Pudelkönige des Abends. Dennoch wurden wir von den Knaben am meisten angefeuert.

Nach anderthalb Stunden wurden die Knaben in die Betten geschickt. Wir Männer veranstalteten ein kleines Privatturnier, danach hatten wir Spaß: Wir ließen die Kugeln gegeneinander rollen oder warfen sie mutwillig mit so viel Schwung, dass sie mit lautem Rums auf der Bahn aufschlugen. Manch ein Wurf misslang auch, sodass die Kugeln gegen die Wände krachten und kleine Krater hinterließen. David rannte zum Ende der Bahn und warf die Kegel mit der Hand um. Selbstredend, dass all diese Handlungen von orgiastischem Gelächter begleitet wurden.

Am Bedienpult der Kegelbahn klebte ein Zettel. Darauf stand eine Warnung, dass sich die Bahn um dreiundzwanzig Uhr dreißig automatisch abschalten würde. Als dies auch um dreiundzwanzig Uhr fünfunddreißig immer noch nicht geschehen war, mutmaßten wir, dass die Zeitschaltuhr noch auf Sommerzeit gestellt war und randalierten weiter. Eine halbe Stunde später kam Marc herein.

«Die Bahn schaltet sich nicht automatisch ab. Das steht da nur, um die Leute zum rechtzeitigen Aufhören zu bewegen», sagte er, «Kommt bitte trotzdem mal langsam zum Ende. Wir haben morgen noch einen langen Probentag vor uns.»

So sachlich und freundlich, wie er das sagte, blieb uns keine andere Wahl, als seiner Bitte Folge zu leisten. Fünf Minuten später lagen alle Kugeln wieder dort, wo sie liegen sollten. Wir löschten das Licht und begaben uns in die Betten.