In sicheren Gefilden

Perlen von Holstein Folge 152

Dresden war geographisch gesehen nicht weit von Prag entfernt. Kulturell aber waren wir unserer Heimatstadt viel näher gerückt, als die Überquerung der Landesgrenze es hätte vermuten lassen: Im Theater gegenüber von unserer Jugendherberge spielten sie Heiße Ecke – Das St. Pauli Musical.

«Oh, Mann!», sagte ich zu David, «Stell dir vor, du fährst nach Dresden, um mal was völlig anderes zu erleben und dann läuft hier im Theater Heiße Ecke, was du in Hamburg jeden Tag sehen kannst.»

«So ist das», bemerkte unser Busfahrer, «alles, was einmal irgendwo funktioniert, wird ganz schnell überall gemacht.»

Wahre Worte eines weisen Mannes.

Es war früher Morgen. Der Busfahrer, David und ich standen auf dem Busparkplatz vor der Jugendherberge. Um uns herum Grünflächen und verputzte Plattenbauten, über uns grauer Himmel. Es war kein schöner Tag, aber einer, der versprach, unterhaltsam zu werden. Heute standen wieder einmal Ausflüge auf dem Programm.

Unser erstes Ziel war ein Berg, der am Rand, womöglich auch außerhalb Dresdens lag. Er war jedenfalls sehr steil, sodass der Bus uns nicht hinauffahren konnte. Wir mussten zu Fuß zu dem Zechenaufzug gehen, der uns nach oben bringen würde.

Während wir so gingen, erlaubten Philipp und ich uns ein kleines, zum Ambiente passendes Späßchen: Wir sangen nur für unseren Chorleiter Ich bin ja, Herr, in deiner Macht auf Sächsisch. Das Stück wurde davon in fast schon beängstigender Weise entstellt. Eigentlich zählte Ich bin ja, Herr, in deiner Macht so ziemlich zu dem Düstersten, was ich jemals gesungen hatte. Das war nicht einmal nur dem vollkommen fatalistischen Text geschuldet. Jede Note zeugte von Todesahnung. Jeder einzelne Ton bekannte: Ich bin klein und wertlos. Man sah einen Mann, der mit kniete und dabei mit flehentlichem Blick zum Himmel starrte. Er befand sich in einer ärmlichen Stube, in der lediglich eine Kerze ein wenig Licht bot. Es war wirklich kein Wunder, dass es mir spätestens bei ‹du kennest meiner Monden Zahl, weißt wann ich diesem Jammertal auch wieder gute Nacht soll geben› eiskalt den Rücken herunterlief.

Das geschah nun natürlich nicht, denn es war wie gesagt fast schon beängstigend, wie sehr ein Dialekt etwas entstellen konnte. Das sollte unserem Chorleiter, diesem Sachsen, eine Lehre sein. Uns dafür zu tadeln, dass wir das E immer so Hamburgisch sangen, was fiel ihm eigentlich ein?

Herr Kaiser aber war nicht etwa pikiert, er lachte. Und er glaubte wohl allen Ernstes, dass ihm das heute irgendetwas helfen würde.

Oben auf dem Berg, direkt am Ausgang des Fahrstuhls, befand sich eine dieser bemalten Holzwände mit kopfgroßen Löchern drin. Wer auf öffentliche Blamagen steht, kann sich dahinter stellen und sein Gesicht durch eines der Löcher stecken. Er schlüpft hierdurch in die Rolle der auf der Wand abgebildeten Person. Die auf der Wand abgebildete Person war irgendein kurfürstlich-sächsischer Adliger in denkbar entwürdigender Pose. Jeder, der das sah, musste zwangsläufig kichern. Ich brauchte indes nicht lange zu überlegen.

«Herr Kaiser!», rief ich.

Und schon wurde unser Chorleiter von etwa zehn Knaben zu der Wand geführt und abgelichtet. Anschließend brachten sie ihn zum Eingang eines naheliegenden Restaurants.

«Gucken Sie mal, Herr Kaiser», sagte einer, «Hier gibt’s Kaiserschmarrn.»

Den gesamten Chor befiel ein kollektiver Lachanfall.

«Oh», entgegnete Herr Kaiser, «dann müssen wir wohl demnächst mal alle hier essen gehen, wie?»

Die Neckereien hatten aber nun ein Ende. Zumindest die, deren Ziel unser Chorleiter war. Wir wurden in Gruppen eingeteilt. Ich ging zusammen mit David. Wir schlenderten durch Hallen voller Kanonen, Mörser und Donnerbüchsen. David tat dabei das niederträchtigste, was man nach sieben Tagen voller zweitklassigem Hotelfraß und fünftklassigen Lunchpaketen tun konnte: Er hörte einfach nicht auf zu reden.

«Stell dir vor», sagte er, «jetzt gibt es Currywurst mit Pommes. Du sitzt an der Theke und siehst, wie sie zu dir gebracht wird, diese große, dicke Currywurst. In der Nase spürst du bereits die Duftstoffe des Curryketchups. Stell dir vor, wie du reinbeißt und das einzigartige Aroma schmeckst. Und dazu diese geilen Pommes –»

«Hör auf», sagte ich wieder und wieder. Wieder und wieder und wieder. Es half nichts. Die dünne Bergluft schien in meinem alten Freund wahrhaft sadistische Züge geweckt zu haben. Welch ein Glück für mich, dass wir beim Verlassen des Bergs wieder alle zusammengingen. Sofort galten wieder die alten Koalitionen.

«Ey, Lennart», sagte Max-Frederick, «Marc hat gesagt, er geht mit uns zu McDonald’s

«Echt?», erwiderte ich, «Marc geht mit uns zu McDonald’s? Ey, Kinder, habt ihr gehört: Marc geht mit uns zu McDonald’s! Ey, das finde ich aber mal echt nett von dir Marc, dass du freiwillig mit uns zu McDonald’s gehst.»

«Ihr Arschlöcher», sagte Marc. Doch konnte sich der Herr Geschäftsvorsitzende ein Grinsen nicht verkneifen. Mit uns zu McDonald’s gehen, freiwillig! Dieser Witz war so gut, er hätte von ihm sein können.

Natürlich gab es kein McDonald’s, sondern Wurstbrote; von Marc, Heidi und Peter liebevoll geschmiert.

Anschließend fuhren wir zum Dresdner Hauptbahnhof. Nicht, um doch noch zu McDonald’s zu gehen, sondern um Riesenrad zu fahren. Mir war bei dem Gedanken überhaupt nicht wohl. Das einzige Riesenrad, in dem ich bisher von Höhenangstattacken verschont geblieben war, war das in der Duplo-Sektion des Billunder Legolandes gewesen. Es hatte aus drei Kabinen bestanden und einen Radius von vielleicht einem Meter gehabt. Ansonsten war Riesenradfahren für mich immer wieder die reinste Tortur. Und damit stand ich nicht alleine da.

«Oh, nee, bitte nicht Riesenradfahren», sagte David, «Ich hab’ da echt jedes Mal Schiss, dass die Kabine runterknallt.»

Doch wie hätten wir vor den Knaben dagestanden, wenn wir uns geweigert hätten?

Wir stiegen also gemeinsam in eine Kabine – geteiltes Leid ist halbes Leid. Max-Frederick, Frans und Philipp stießen zu uns.

Bedrohlich schaukelnd erhob sich unsere Kabine in die Lüfte. Nach drei Metern Fahrt blieb sie stehen. Bevor es weitergehen konnte, musste erst einmal die nächste Kabine mit möglichen Todeskandidaten befüllt werden. Und das war es, was ich am meisten an Riesenrädern hasste: Statt dass man wie bei einer Achterbahn kurz und schmerzlos zwei bis drei Runden fuhr, wurde man in einem qualvollen minutenlangen Vorgang schrittweise in immer größere Lebensgefahr gehievt. So musste sich ein Todeskandidat im Staatsgefängnis von Texas fühlen, der niemals wusste, ob er in fünf Jahren oder in fünf Wochen auf dem elektrischen Stuhl landen würde.

Wir hatten mittlerweile halbe Höhe erreicht. Der schlimmste Augenblick jeder Riesenradfahrt. Wie David nämlich so richtig bemerkte, konnte man hier am tiefsten stürzen. Weiter oben würde man in eine andere Kabine oder die Achse des Riesenrads krachen.

Als wir dann aber ganz oben angekommen waren, kam mir meine Angst plötzlich unglaublich albern vor. Ich wusste doch eigentlich: Höhenangst bekam ich nur, wenn ich an der frischen Luft war. Waren Fensterscheiben im Spiel, machten mir selbst tausend Meter Höhe nichts aus. Und die Kabine dieses Riesenrades war von zentimeterdickem Panzerglas umschlossen. Wenn man hier überhaupt vor etwas Angst haben musste, dann vor dem Erstickungstod. Und der war, wie man mir einmal sagte, ein ganz sanfter. Man schlief einfach ein und wachte nie wieder auf. Warum also machte ich mir Sorgen? Die Knaben in der Nachbarkabine, unter ihnen Laurence, machten sich doch auch keine. Ansonsten würden sie uns wohl kaum Grimassen schneiden. Ansonsten würden sie wohl kaum ihre Kabine zum Schaukeln bringen und uns dabei herausfordernd ansehen.

Max-Frederick ließ sich nicht lange bitten. Unter orgiastischem Gelächter brachte er unsere Kabine zum Schaukeln. David, Philipp, Frans und ich leisteten Unterstützung. Und so ging er los, der große Schaukelwettbewerb. Er nahm recht bald eine solche Dramatik an, dass das Riesenrad angehalten werden musste. Ein Mitarbeiter streckte den Kopf zu den Knaben hinein und faltete sie zusammen. Wir Männer quittierten es mit schadenfrohem Lachen.

Den Weg vom Riesenrad zur Jugendherberge sollten wir zu Fuß zurücklegen. Dresden präsentierte sich dabei noch einmal von seiner richtig trostlosen Seite. Vorbei ging es an einer Autobahnbrücke samt -einfahrt, verwaisten Grünflächen und Plattenbauten. Ein Ambiente, in dem man eigentlich nur durch geistreiche Scherze Freude empfinden konnte. Standen einem solche nicht zur Verfügung, musste echter Knabenchor-Humor herhalten. Ein Paradebeispiel für Knabenchor-Humor lieferte Philipp. Lauthals stöhnend rempelte er mich vom Bürgersteig.

«Ey, sorry, Lennart, da hatte ich gerade echt mal tierisch Bock drauf», sagte er.

«Damit stehst du nicht alleine da», erwiderte ich. Und rempelte ihn ebenso lauthals stöhnend vom Bürgersteig.

Der Rest des Weges war ein einziges Durcheinander. David, Philipp, Max-Frederick, Frans, Guido, Pascal und ich rempelten uns lauthals stöhnend auf den Bürgersteig herauf und vom Bürgersteig herunter. Wurde einmal nicht lauthals gestöhnt, ertönte orgiastisches Gelächter. Mitunter erklang auch beides gleichzeitig.

Erst als wir in der Jugendherberge eintrafen, kehrte Ruhe ein, zumindest bei uns Männern. Wir begaben uns in unsere Zimmer, lasen Bücher und Killerspielzeitschriften oder hörten Musik. Lediglich mein Zimmergenosse Max-Frederick schimpfte ein wenig vor sich hin.

«Mann, bin ich froh, wenn wir morgen endlich nach Hause kommen, das ist so scheiße hier», sagte er.

«Hä? Ich dachte, solange wir in Deutschland sind, ist für dich alles okay», erwiderte ich.

«Ey, nee, auch hier ist es kacke. Gut ist es nur zuhause.»

Unser Gespräch wurde davon unterbrochen, das Philipp und Frans hereinkamen. Frans interessierte es nach eigenen Angaben brennend, was die PC Games über Dark Messiah of Might and Magic und natürlich über Call of Juarez schrieb. Philipp sehnte sich einfach nur nach Gesellschaft. Während wir so beisammensaßen, hörten wir immer mal wieder, wie draußen auf dem Flur gerannt und geschrien wurde. Als Geräuschquelle kamen eigentlich nur unsere Knaben in Frage. Wir dachten uns nichts weiter dabei, bis wir plötzlich Marcs Stimme vernahmen.

«Jahrelang hatte ich Spaß an diesem Beruf, doch die Tage sind vorbei!», schrie unser Geschäftsvorsitzender.

Philipp und ich kicherten, zumindest mein Lachen war aber eher erschrocken. Ganz gleich, wie sehr David und ich es auch auf Auseinandersetzungen mit Marc anlegen mochten, eine solche Reaktion wollten wir damit niemals provozieren. Wir wollten einfach nur, dass Marc ein wenig an die Decke ging. Das war auch bisher immer das einzige gewesen, was passiert war. Und wenn man nun bedachte, dass David und ich uns weiß Gott einiges erlaubt hatten, konnte man eigentlich nur zu einem Schluss kommen: Die Knaben waren zu weit gegangen.

Wir begaben uns auf den Flur. Dort stutzte der getreue Imanuel bereits eine Gruppe von Knaben zurecht. Wir stießen dazu.

«Leute», sagte Imanuel zu den Knaben, «jetzt hört einfach mal auf, Scheiße zu bauen. Ihr könnt doch nicht ernsthaft wollen, dass wir hier rausfliegen, oder?»

Eine Äußerung, die mir nicht weit genug ging.

«Kinder!», fiel ich Imanuel ins Wort, «Wisst ihr eigentlich, dass ich Marc noch nie so sauer erlebt habe?»

Bei einer rasch anberaumten Krisensitzung erfuhren wir zwar nicht, was die Knaben genau gemacht hatten, zumindest aber, was die Folge davon gewesen war: Die Jugendherberge Dresden hatte uns mit Rauswurf gedroht. Wir seien, so hieß es, die schlimmste Gruppe gewesen, die man jemals gehabt habe. Ein Urteil, das wir auf dieser Reise nicht zum ersten Mal hörten. Die Mitarbeiterinnen des ersten Hotels, das wir in Prag bewohnt hatten, hatten dies ebenso geäußert. Da aber hatte die Antipathie auf Gegenseitigkeit beruht. An der Jugendherberge Dresden aber hatten selbst Philipp und ich bisher nichts auszusetzen gehabt. Zumindest nicht überdurchschnittlich viel. Prägnant war bisher einzig das Fenster des im Keller befindlichen Probenraums gewesen. Durch seine Winzigkeit bestand es zu etwa neunzig Prozent aus Rahmen. Ein Umstand, der aber eher orgiastisches Gelächter als Verärgerung hervorgerufen hatte.

Gewaltige Verärgerung rief von daher das Verhalten der Knaben in Marc hervor.

«Wisst ihr», sagte er, «die jetzigen Männer, als die Knaben waren, da waren die längst nicht so schlimm wie ihr. Und das waren weiß Gott keine Unschuldsengel.»

Eine Aussage, die mich weit weniger erstaunte, als sie es wohl hätte tun müssen. Bereits, als wir im Mai in Lüneburg gewesen waren, hatte Marc deutlich gemacht: Die jetzige Knabengeneration war für ihn die bisher schlimmste. Laut Protokoll hatte er das sogar bei der jüngsten Vollversammlung zur Ansprache gebracht. Herr Kaiser aber hatte abgewinkt: Für ihn sei es eher problematisch, dass wir Männer bisher keine Betreuungsaufgaben und Patenschaften übernahmen. Zu welchem Ergebnis man gekommen war, war dem Protokoll nicht zu entnehmen gewesen.

Zumindest jetzt stand unser Chorleiter aber hinter unserem Geschäftsvorsitzenden.

«Leute, ich weiß nicht, ob euch klar ist, was das eigentlich bedeutet», sagte er, «dass man uns in dieser Jugendherberge so unerträglich findet, dass man sagt: ‹Wir verzichten lieber auf das Geld, als euch noch einen Tag länger zu ertragen.›»

Als Marc und Herr Kaiser ihre Rede vollendet hatten, verließen sie den Raum. Marc wählte dabei eine Route, die an meinem Platz vorbeiführte.

«Danke!», sagte er zu mir. Ich konnte nur vermuten, dass er sich damit auf das bezog, was ich vorhin zu den Knaben gesagt hatte. Und damit war klar: Es herrschte einmal mehr Burgfrieden. Das Unglück hatte nicht vor Landesgrenzen haltgemacht. Marc würde wohl erst seinen Frieden finden, wenn er – tot oder lebendig – Hamburger Boden erreicht hatte.