Ein Ende mit Schrecken

Perlen von Holstein Folge 151

Unser letztes Abendessen auf Prager Boden nahmen David und ich im Beisein des Busfahrers zu uns. Gezielt hatte er sich zu uns an den Tisch gesetzt, um das Gespräch mit uns zu suchen.

«Und was macht ihr sonst noch so? Also, ich meine außer im Chor singen?», fragte er.

«Naja, Computerspiele spielen und so», antwortete ich.

«Ehrlich? Als ich in eurem Alter war, habe ich mich nur für Mädels interessiert.»

Das glaubte ich ihm gerne. So breit wie seine Schultern waren, glaubte ich vor allem aber auch, dass sich Mädels für ihn interessiert hatten.

Unser Busfahrer war schon eine Marke. So wachsam er war, wenn es um seinen Bus ging, so lässig war er in allen anderen Dingen. Am gestrigen Abend hatte er Pascal Kartentricks beigebracht, mit denen man Leute beeindrucken und über den Tisch ziehen konnte. Und als ich ein Foto von der Comic-Biene gemacht hatte, die seinen Bus zierte, hatte er nur bemerkt: «Flottes Bienchen, was?»

Seine Lockerheit war wirklich ein angenehmer Gegenpol zu der Miesepetrigkeit, die bei den übrigen Erwachsenen auf dieser von Pleiten, Pech und Pannen durchzogenen Reise vorherrschte. Marc war von allem nur noch genervt, Herr Kaiser war von allem nur noch genervt, ja, selbst Heidi und Peter waren von allem nur noch genervt. Dabei war das Ende nahe und allzu viel Schlimmes sollte an einem Abend im Hotelzimmer doch nicht mehr passieren können.

Eine Stunde später lagen Max-Frederick und ich auf unseren Betten. Max-Frederick hörte Musik, ich las in meiner PC Games den Artikel zu Call of Juarez.

Plötzlich hämmerte jemand gegen die Apartment-Tür. Ich ging hin und öffnete. Es war Imanuel.

«Leute, habt ihr schön gehört?», sagte er, «Bei Marc ist eingebrochen worden!»

«Wie, eingebrochen worden?», fragte ich ungläubig.

«Naja, Marc war im Bad und als er fertig war, hat er noch gesehen, wie jemand die Apartment-Tür hinter sich zugeschlagen hat. Als er dann in sein Zimmer geguckt hat, waren sein Laptop und sein iPod weg.»

«Echt jetzt?»

«Ja!»

Imanuel brauchte nicht lange zu beteuern. Zehn Minuten später kam Marc und bestätigte die Geschichte. Gemessen daran, was passiert war, wirkte er gefasst.

«Ich habe gleich erst mal meine Eltern angerufen und ihnen gesagt, dass sie das Schloss meiner Wohnung austauschen lassen sollen», sagte er, «In der Laptoptasche waren ja auch Visitenkarten und mein Schlüssel drin. Und wenn die Einbrecher zu einer Bande gehören, wovon ich ausgehe, haben die bestimmt auch irgendwelche Leute in Hamburg. Was ich aber eigentlich sagen wollte: Es ist wohl das Beste, wenn ihr euch heute Nacht ein wenig verbarrikadiert. An der Rezeption meinten sie, dass heute Abend schon mehrere Einbrüche gemeldet worden sind.»

Wir befanden, dass es wohl angebracht war, auf Marc zu hören. Nachdem er gegangen war, schoben wir einen Nachtschrank vor die Apartment-Tür. Die Zimmertüren versperrten wir mit Hockern und Besen. Wirklich wohl war uns jedoch noch immer nicht.

«Hoffentlich hält das alles, wenn wirklich jemand versucht, hier reinzukommen», sagte Max-Frederick.

«Ja», erwiderte ich, «besonders stabil sieht das für mich ja alles nicht aus. Und wenn der ’ne Knarre oder sowas hat, nützt es uns überhaupt nichts.

«Alter, wenn der ’ne Knarre hat, sind wir geliefert. Dann können wir überhaupt nichts machen.»

«Das Schlimme ist ja: Der muss ja nicht mal vorhaben, jemanden eine runterzuhauen. Aber wenn der plötzlich jemanden vor sich stehen hat, bekommt er am Ende auch Schiss und macht irgendwas, was er eigentlich nicht machen würde.»

«Ja, Alter, hast recht. Scheiße, Mann.»

Es war tatsächlich wahr: Auch ein Max-Frederick wusste, was Angst war. Zugleich war er derjenige, der schon bald das einzig Richtige tat: Er brachte uns beide auf andere Gedanken.

«Ey, kennst du das eigentlich, wenn man sich stundenlang über irgendein Wort totlachen kann?»

«Klar», sagte ich, «Ich weiß noch, wie ein Kumpel und ich uns mal stundenlang über das Wort Gully totgelacht haben.»

Besagter Kumpel und ich hatten gemeinsam das Killerspiel Zero Hour gespielt. Dabei hatten wir festgestellt, dass das Erdloch der Terroristen aussah wie ein Gully. Zumindest auf dem Symbolfoto, das beim Anklicken des Erdlochs eingeblendet wurde. Aus diesem Grunde war ich mir nicht ganz sicher, ob wir uns wirklich über das Wort Gully totgelacht hatten. Es hatte genauso gut an jenem misstrauisch dreinblickenden Herren liegen können, der auf dem Symbolfoto im Gully stand. Die Frage, was die Ursache unseres Lachens gewesen war, war aber auch von geringer Bedeutung. Max-Frederick jedenfalls hielt es für legitim, das Wort Gully lustig zu finden.

«Ja, haha, ‹Gully› ist geil», sagte er, «Aber am geilsten finde ich immer noch ‹Wanne›. Wie das alleine klingt: ‹Wanne›, haha. ‹Wanne›, hahaha.»

Ich verstand zwar, was Max-Frederick meinte, konnte aber trotzdem nicht über das Wort Wanne lachen. Deswegen fing ich an, über das Wort luschern nachzudenken. Luschern ist im norddeutschen Sprachraum eine auf das Sehen bezogene Entsprechung zu lauschen. Ein norddeutsches Kind, das ein Bild malt und nicht will, dass man es vor Fertigstellung sieht, wird immer sagen: ‹Nicht luschern!› Dabei wird es das Bild wahrscheinlich gegen seinen Bauch drücken und fest umklammern. Das war es jedoch nicht, was ich an dem Wort luschern komisch fand. Komisch fand ich, sich den Blick eines Menschen vorzustellen, der nicht einfach nur sah, sondern luscherte. Noch komischer, wie sehr der Klang des Wortes luschern diesen Blick beschrieb.

So lachten wir beide uns in den Schlaf. Ich über mein ‹luschern›, Max-Frederick über sein ‹Wanne›.


Am nächsten Morgen wurde das volle Ausmaß der Einbruchserie sichtbar. Nicht nur in etliche Apartments, auch in die Busse auf dem Hotel-Parkplatz waren sie eingedrungen. Zwei hatten sie leergeräumt, einen dritten als Transport- und Fluchtfahrzeug verwendet. Von dem vierten Bus, unserem Bus, hatten sie die Finger gelassen. Man witzelte, dass sie beim vorherigen Auskundschaften der Lage unseren Busfahrer gesehen hatten. Ein Blick in seine Augen hatte genügt und ihnen war klar gewesen: Wenn sie auch nur in die Nähe seines Busses kamen, hätte ihr letztes Stündlein geschlagen. Die Wahrheit dürfte aber wohl gewesen sein, dass die Einbrecher schon sehr genau gewusst hatten, wo es etwas zu holen gab und wo nicht. Wie sonst erklärte sich, dass sie so zielstrebig Marcs Laptop eingesteckt hatten, die Zimmer sämtlicher anderer Chormitglieder aber verschont geblieben waren. Wie sonst erklärte sich, dass sie offenbar über einen Generalschlüssel des Hotels verfügt hatten? Eines aber war sicher: Max-Frederick war heute wieder ganz der Alte.

«Mann, bin ich froh, dass wir heute von der Scheiße hier wegkommen», sagte er.

«Wir fahren aber noch nicht nach Hause, sondern erst mal nach Dresden», merkte ich an.

«Na, und? Das ist wenigstens deutsch, Mann!», entgegnete Max-Frederick. Er sprach das Wort ‹deutsch› dabei so herrlich perkussiv aus, dass ich zwangsläufig lachen musste über diesen Anflug von Nationalstolz. Ein Anflug von Nationalstolz, der an diesem Morgen wohlgemerkt nicht nur Max-Frederick erfasst hatte. Marc saß am Frühstückstisch und schimpfte leise vor sich hin.

«Mann, bin ich froh, wenn wir aus diesem Scheiß-Land raus sind. Mit diesen Scheiß-Leuten.»

Wir lachten natürlich über diese Äußerung. Dabei waren wir alle nicht weniger zuversichtlich, dass ab heute Nachmittag Schluss sein würde mit Pleiten, Pech und Pannen. Zuversichtlich, dass das Unglück vor Ländergrenzen Halt machte.