Konfliktbewältigung

Perlen von Holstein Folge 148

Wir waren mittlerweile gut eine Dreiviertelstunde unterwegs. Ich blickte aus dem Fenster und fragte mich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis wir das neue Hotel in Augenschein nehmen könnten. Weit dürfte es ja nicht mehr bis dorthin sein. Laut Marc lag es auf der anderen Seite von Prag. Viel länger als eine Stunde konnte man dorthin also nicht unterwegs sein. Tatsächlich kam jetzt eine Ansage. Ihr Inhalt entsprach allerdings nicht ganz meinen Erwartungen.

«So, wir sind gleich da», sagte Marc, «bitte denkt dran, eure Chorkleidung mitzunehmen. Der Bus wird erst nach dem Konzert wieder aufgeschlossen.»

Chorkleidung? Konzert? Wovon redete der? Hatte es nicht geheißen, dass wir jetzt erst mal zum neuen Hotel fahren würden?

Ich blickte mich um. David, Philipp und Guido schienen ebenso nichts geahnt zu haben. Und auch Imanuel machte den Eindruck, soeben aus allen Wolken gefallen zu sein. Ein schlagender Beweis dafür, dass ich nicht im falschen Moment nicht richtig zugehört hatte. Marc hatte uns ganz offensichtlich nicht Bescheid gesagt. So befand sich unsere Chorkleidung nun gut verstaut unten im Kofferraum.

Philipp bestellte Marc zu uns, um ihm genau dies mitzuteilen. Der ließ vor Wut sein Klemmbrett fallen.

«Leute, das ist jetzt nicht euer Ernst!», sagte er.

«Hallo? Wenn du uns nicht Bescheid sagst –», erwiderte Philipp.

«Ich bin gestern extra durch alle Zimmer gegangen und habe jedem Bescheid gesagt.»

«Ja, klar! Deswegen wissen wir auch alle nichts davon!», sagte Max-Frederick.

«Ich war gestern bei euch im Zimmer! Vielleicht müsst ihr einfach mal lernen, zuzuhören, dann bekommt ihr auch mit, wenn ich etwas ansage.»

«Marc, du warst nicht bei uns im Zimmer!», schrie ich, «Oder warum glaubst du, kann sich keiner von uns daran erinnern?»

«Ihr könnt euch nicht daran erinnern, weil ihr euch nicht daran erinnern können wollt! Weil immer alle anderen Schuld sind! Aber ist jetzt auch egal. Ich sage dem Busfahrer Bescheid, dass er gleich noch mal den Kofferraum für euch aufschließen soll. Dann dauert wegen euch Transusen jetzt eben alles länger.»

Ich war, wir alle waren noch immer überzeugt, dass Marc gestern nicht in unserem Zimmer gewesen war. Er hatte uns offenbar vergessen. Der Grund dafür war wohl ziemlich einfach: Er, die Knaben und Herr Kaiser hatten alle im neunten Stock gewohnt, wir dagegen im zehnten. In dem Trubel, den der gestrige Abend ihm gewiss noch einmal beschert hatte, hatte Marc nicht daran gedacht. Dafür hätte ich vollstes Verständnis gehabt, wenn er nur darum gebeten hätte. Doch Marc bat nicht um Verständnis. Während wir in der prallen Sonne unsere Koffer auf die Straße hievten, stand er drei Meter hinter uns und schwallte auf den Busfahrer ein.

«Das ist echt zum Kotzen, dass jetzt alle warten müssen, weil diese Idioten nicht einfach mal zuhören können!»

Der Busfahrer nickte zustimmend, doch war deutlich zu merken, dass ihm das alles reichlich schnurz war. Ich hingegen hätte Marc am liebsten meinen Koffer ins Gesicht geschleudert.

Auf dem Weg zu der Schule, in der wir heute unseren Auftritt hatten, scharrten sich einige Knaben um mich. Ich stieß einen von ihnen fort, woraufhin die anderen das Weite suchten. Erst nachdem ich mich in der Toilette umgezogen habe, war ich wieder halbwegs bei mir.

«Ey, Lennart, stimmt das, dass du vorhin geheult hast?», fragte mich ein Knabe.

Geheult? Nein, das hatte ich nicht. Tränen in den Augen gehabt hatte ich aber tatsächlich. Tränen des Zorns, sofern die Knaben wussten, was das war.


Meine Laune befand sich auf dem Tiefpunkt. Als wir jedoch zehn Minuten geprobt hatten, merkte ich, wie mein Ärger allmählich verflog. Weitere zehn Minuten später schlug er dann in Euphorie um. Das war nichts Bemerkenswertes. Seit einigen Wochen galt schon: Ganz gleich, mit welcher Laune ich den Probenraum betrat, ich verließ ihn in vollkommener Euphorie. Sie kam natürlich nicht einfach so. Ich konnte beim Singen richtig spüren, wie sie sich nach und nach einstellte.

Ausgangspunkt waren die Vibrationen in meinem Brustkorb. Deren Epizentrum bewegte sich mit den Tönen auf und ab. Sangen wir besonders hoch, befand es sich im Hals. Sangen wir besonders tief, war es nicht mehr zu orten. Der gesamte Körper schien sanft zu vibrieren. Am allerschönsten war es aber, wenn unser Gesang beständig um jenen Ton kreiste, dessen Schwingung der Eigenfrequenz des Stuhls entsprach. Dann konnte man sich immer wieder darüber freuen, wie es unter meinem Becken süßlich zu beben begann. Ein herrliches Gefühl.

Dazu kam das noch immer kaum zu überbietende Erlebnis, Teil eines Klanges, einer Harmonie zu sein. Man gestaltete sie mit und konnte sich zugleich darauf verlassen, dass jeder andere es ebenso tat. Dass jeder andere vermutlich gerade das Gleiche wie man selbst fühlte. Ein Eindruck, der sich immer weiter verstärkte, je mehr Proben wir hatten und je mehr verrückte Sachen wir erlebten.

Zuletzt war da noch etwas, das nicht so sehr vom Singen, sondern eher von den Stücken ausging. Die Emotionen, die sie transportierten und die man als Sänger wieder und wieder durchleben konnte. Zuweilen fühlte es sich so an, als würde man sich gerade etwas so richtig von der Seele reden. Und das tat man nicht einmal oder zweimal, sondern fünf bis zehnmal. So lange, bis die Probe vorbei und aller Ärger verflogen war.

Wie dem auch sei: Als die Generalprobe zu Ende war, war meine Laune bestens. Und so konnte ich endlich den Raum auf mich wirken lassen, in dem wir uns befanden. Es handelte sich zwar um eine Schul-Aula, aber die war wirklich chic. An der Decke hingen prächtige Kronleuchter. Sogar eine Orgel gab es hier. Ein wirklich wunderbarer Raum. Kein Vergleich zu dem, was meinem Schulorchester bei jedem Sommerkonzert zugemutet wurde. Dort gab es keine Orgel, dafür einen reichlich morsch erscheinenden Konzertflügel, der seit bestimmt zwei Jahrzehnten keinen Stimmer mehr gesehen hatte. Dazu kam, dass die Bühnenvorhänge etliche Risse aufwiesen. Die Größe dieser Risse wuchs seit Jahren. Und mit ihr die Schriftgröße der Hinweise, zum Öffnen und Schließen der Vorhänge doch bitte den Seilzug zu verwenden.

Doch nicht nur die Aula war chic, sondern auch der Schulchor, mit dem wir heute gemeinsam auftraten. Er konnte natürlich nicht mit uns mithalten, sein Niveau war dennoch beachtlich. Wenn ich da an das dachte, was bei Kinder singen für Kinder an Schulchören aufgetreten war. Wenn ich da an den Chor unserer Schule dachte – ein Ensemble, in das jeder eintreten konnte, der unabhängig von Leistung und Fähigkeit eine Eins im Zeugnis haben wollte. Angesichts dessen konnte ich sogar darüber hinwegblicken, dass sie in meiner Gegenwart Panis Angelicus zur Aufführung brachten. Zumal ich dabei die Erkenntnis gewann, dass die Jahre, die wir das Stück nicht gesungen hatten, mein Verhältnis zu ihm doch etwas normalisiert hatten.


Nach dem Konzert fuhren wir dann endlich wirklich zu unserem neuen Hotel. Wieder waren wir rund eine Stunde unterwegs. Zeit genug für Marc, noch einige Anmerkungen zu machen.

«Das Reisebüro hat mir hoch und heilig versprochen, dass das neue Hotel besser sein wird als das alte», sagte er durch das Mikrofon, «Es hat zumindest zwei Sterne statt nur einen, also wollen wir das jetzt einfach mal glauben.»

Marcs Vertrauensvorschuss sollte sich als berechtigt erweisen. Schon beim Betreten der Lobby wurde uns klar, dass dies hier tatsächlich ein Hotel im eigentlichen Sinne war. Alles wirkte sauber und frisch saniert. Links vom Rezeptionstisch gab es eine Sitzlounge mit einladend aussehenden Sofas unter Neonlicht-Bändern. Rechts ein Café mit großen Panoramascheiben. Die Empfangsdame war freundlich wie eine Stewardess und trug eine Hotel-Uniform – mir fiel erst jetzt auf, dass das für die Mitarbeiter des vorherigen Hotels nicht gegolten hatte. Vor allem aber musste man im Aufzug nicht die ganze Fahrt lang die berechtigte Sorge haben, stecken zu bleiben oder gar in die Tiefe zu stürzen. Sanft glitten wir nach oben.

Die Apartments entsprachen im Großen und Ganzen dem Standard eines einfachen Hotels. Es gab weiche Betten, deren weiße Bezüge, wie wir schnell herausfanden, üblichen Krafteinwirkungen standhielten. Das Badezimmer war ein gefliester Raum, Plastikkabinen gab es hier nicht.

Der Umzug brachte auch eine Änderung der Zimmerverteilung mit sich. David konnte und wollte sich nicht noch einmal den Gesprächen von Imanuel und Guido aussetzen. Er bezog das Apartment von Max-Frederick, Philipp, Frans und mir. David, Philipp und Frans gingen in das eine Zimmer, Max-Frederick und ich in das andere.

Heute Abend gab es keine Versammlung. Wir alle waren müde von dem strapaziösen Umzug und der noch strapaziöseren Auseinandersetzung mit Marc. Max-Frederick lag auf seinem Bett und las meine PC Games. Ich lief herum und machte Fotos von dem Apartment. Zuletzt fotografierte ich auch die drei verschiedenen Kronen-Scheine aus meinem Portemonnaie.

«Ey, was fotografierst du denn dieses beschissene Geld?», fragte Max-Frederick.

«Ach komm, diese Köpfe, die da drauf abgebildet sind, sind doch irgendwie cool», erwiderte ich.

«Ey, nee, die sind kacke. Alles hier ist kacke. Mann, bin ich froh, wenn wir wieder nach Hause fahren.»

«Ach komm, das neue Hotel ist doch eigentlich ganz okay.»

«Es ist nicht ganz so beschissen wie das alte, aber es ist trotzdem kacke.»

Eine Meinung, die ich respektierte, aber nicht teilte.