Ihr werdet weinen und heulen

Perlen von Holstein Folge 144

Oktober 2006

Philipp fällte sein Urteil gewohnt schnell.

«Boah, Siff!», schrie er, kaum dass wir unser Apartment betreten hatten.

Ein kurzer Blick genügte jedoch und man wusste, dass er mehr als nur recht hatte. Alles, wirklich alles, war verdreckt. Die Wände, die Decke, die Möbel, die Armaturen der kleinen Küchenzeile, alles. Der Teppichboden war von Flecken übersät, die teilweise von Zigaretten, teilweise von heruntergefallenen Speisen zu stammen schienen – so genau ließ sich das nicht bestimmen. Bei dem Versuch, ihn näher zu inspizieren, stellten wir fest, dass er nicht festgeklebt war. Man konnte ihn einfach so abziehen. Darunter kam ein Material zum Vorschein, dass niemand von uns eindeutig zu identifizieren vermochte. Wahrscheinlich aber handelte es sich um arg lädierten Asbest.

Philipp, Max-Frederick und mich befiel ein orgiastischer Lachanfall. David, Imanuel, Frans, Guido und Pascal ließen sich nur zur zu bereitwillig von ihm anstecken.

Wir alle verspürten einen starken Drang, weitere derartige Entdeckungen zu machen, doch zunächst einmal mussten wir unsere Zimmer beziehen. Ich teilte mir mit Philipp den einen Schlafraum, Max-Frederick und sein Bruder Frans den anderen. David, Imanuel, Guido und Pascal mussten gar zurück auf den Korridor – sie bewohnten ein Apartment am hinteren Ende des Ganges. Sie blieben dennoch nicht allzu lange fern. Es war schließlich längst ausgemacht, dass das Zimmer von Philipp und mir allgemeiner Versammlungsraum sein würde.

Als sich alle hier eingefunden hatten, ließ die nächste Entdeckung nicht lange auf sich warten. Ich schob meine Bettdecke ein wenig zur Seite. Ein lautes Reißgeräusch erklang. Erneut befiel uns alle ein orgiastischer Lachanfall.

«Haha, Lennart, was machst du da?», fragte Philipp.

«Ich habe nur die Bettdecke weggezogen. Kann ich was dafür, dass sofort deren Bezug reißt?», erwiderte ich.

«Hahaha, ist der so empfindlich?»

«Probier es doch aus.»

Das ließ Philipp sich nicht zwei Mal sagen. Er griff sich seine Bettdecke und riss ein großes Loch in den Bezug. Ein Akt, der ihm ganz offensichtlich keinerlei Mühe bereitete. Kein Wunder: Der Stoff dieser Bettdeckenbezüge war so dünn wie eine Seite des Evangelischen Gesangbuchs.

Für Max-Frederick Grund genug, sich meine Bettdecke zu greifen und den Bezug in der Mitte durchzureißen. Anschließend begab er sich zu den Fenstern und öffnete eines. Ein ohrenbetäubendes Quietschen erklang. Ihm folgte ein ebenso ohrenbetäubender orgiastischer Lachanfall.

«Alter», sagte Max-Frederick. Dann packte er die Griffe beider Fenster und öffnete und schloss sie abwechselnd. Den Lärm, den er damit erzeugte, dürfte man noch auf der Straße gehört haben. Und die befand sich immerhin zehn Stockwerke unter uns.

Als Max-Frederick von den Fenstern abließ und unser orgiastischer Lachanfall ein wenig verstummte, hörte man aus nicht allzu weiter Entfernung Polizeisirenen. Sie sollten im Laufe des Abends nie wirklich verstummen. Ich hatte jedoch keine Zeit darüber nachzudenken, ich musste jetzt erst einmal dringend auf die Toilette. Diese befand sich im Vorraum des Apartments in einer rund einen Quadratmeter großen Plastikkabine. Direkt daneben lag, ebenso in einer rund einen Quadratmeter großen Plastikkabine, das Badezimmer.

So sehr die Plastikkabinen mit ihrer Schäbigkeit zu orgiastischen Lachanfällen reizen mochten, wenn man sie von außen sah: Von innen betrachtet, waren sie beklemmend. Man bekam ohne jede Übertreibung einen Eindruck davon, wie es war, in eine Isolationszelle gesperrt zu werden. Das galt insbesondere, wenn man plötzlich merkte, dass sich die Tür nicht öffnen ließ. Ich rüttelte heftig an ihr, doch sie ließ sich einfach nicht bewegen.

«Scheiße!», schrie ich.

Von einer sonderbaren Panik ergriffen, begann ich, gegen die Tür zu schlagen. Ich hätte gewisslich auch getreten, doch dafür hätte ich Platz um Ausholen benötigt. Ich sah mich um. Der einzige Ausweg war der Lüftungsschacht hinter mir. Wenn ich dort hineinkröche, würde es mir vielleicht gelingen, in einen anderen Raum zu gelangen. Gesetzt den Fall, ich stürzte nicht zehn Stockwerke in die Tiefe und brach mir das Genick.

Plötzlich hörte ich eine Stimme. Sie gehörte Philipp.

«Lennart, bist du da drin?», fragte er.

«Ja», erwiderte ich, «diese Scheiß-Tür geht nicht auf.»

«Hast du den Nupsi ganz nach links gedreht?»

«Ja.»

«Dann dreh ihn mal in die Mitte.»

Ich tat wie mir geheißen und tatsächlich: Die Tür ließ sich mühelos öffnen.

«Meine Fresse», sagte ich, «Was soll die Scheiße denn, dass man in diesem Siff-Klo den Nupsi nicht nach links, sondern in die Mitte drehen muss. Als würde man beim Reingehen so genau dort hingucken, wie der gedreht ist!»

Mein Ärger wich sogleich einem neuerlich orgiastischen Lachanfall, als mir Max-Frederick und Guido die neueste Entdeckung präsentierten: Der einzige Stuhl des Apartments war nicht geleimt. Man konnte ihn ganz einfach in seine Bestandteile zerlegen. In meiner Pflicht, mit etwas Gleichwertigem aufzuwarten, zeigte ich ihnen, welche Entdeckung ich in der Plastikkabine gemacht hatte: Deren Verkleidung ließ sich problemlos abziehen. Max-Frederick quittierte es mit einem orgiastischen Lachanfall.

«Hahaha, was für ein Ranz-Hotel, Alter!», sagte er.

Ich indes tat jetzt endlich, was ich schon die ganze Zeit vorgehabt hatte: Ich ging zu meinem Rucksack und holte meine Kamera hervor.

«So, jetzt wird alles dokumentiert», sagte ich.

Eine ausgezeichnete Idee, fanden Max-Frederick und Philipp. Auch sie holten ihre Kameras hervor. Und so ging sie los, die fröhliche Fotografiererei. Wir fotografierten alles: Die versiffte Fensterbank, die zerrissenen Bettdeckenbezüge, den ramponierten Stuhl. Max-Frederick filmte auch zwei meiner orgiastischen Lachanfälle. Das kam mir sehr gelegen. Was wir hier gerade schufen, waren schließlich Erinnerungen an einen der lustigsten Abende meiner gesamten Chorlaufbahn. Alle Fotos und alle Videos würden schon bald dazu gereichen, dass ich mich in Nostalgie verzehrte. Einfach wunderbar.

Welch großes Glück war es doch gewesen, dass meine große Schwester Annika ihre alte Digitalkamera abgetreten hatte. Und welch noch viel größeres, dass ich derjenige war, der meine Mutter im rechten Moment gefragt hatte, ob es irgendwo im Haus einen ungenutzten Fotoapparat gab. Es galt schließlich noch immer: Von meiner Mutter bekam man alles, solange man nur derjenige war, der im rechten Moment fragte, sprich: vor allen anderen. So war ich mit dem gestrigen Tage stolzer Besitzer einer Uralt-Digicam geworden. Mit dieser wollte ich nun endlich einen lange gehegten Traum erfüllen: Ein Foto von Philipp, wie er den Snooze-Knopf meines Weckers drückte. Philipp ließ sich bereitwillig ablichten. Dann zeigte er uns, welche weitere Entdeckung er inzwischen gemacht hatte.

«Hier, guckt mal», sagte er, «mit der revolutionären Bounce-Technologie.»

Er nahm die Schreibtischlampe von seinem Nachtisch und begann, mit ihr herumzuwedeln. Der Lampenschirm bewegte sich lustig hin und her. Der Lachanfall, den er erntete, war heftig, aber nicht orgiastisch. Ein Unding, wie ich fand. Ich nahm die Schreibtischlampe auf meinem Nachttisch und wuchtete sie im Kreis herum. Der Lampenschirm drehte sich dadurch wie ein Propeller. So bekam diese Entdeckung doch noch den ihr zustehenden orgiastischen Lachanfall.

Imanuel hatte die ganze Zeit über an allen Späßen aktiv teilgenommen. Wir wunderten uns natürlich darüber. Er meinte dazu nur, dass jemandem in einem Etablissement wie diesem schlicht nichts anderes übrigblieb. Jetzt aber war er verschwunden. Als er wiederkam, hatte er aber nicht etwa Marc im Schlepptau, sondern von einer weiteren Entdeckung zu berichten.

«Ey, ihr müsst euch mal die Deckenplatten im Flur reinziehen.»

Wir folgten ihn auf den Korridor. Die dortige Decke bestand aus einem Metallgitter, in dessen Maschen Styropor-Platten eingelegt waren. Man konnte sie ohne weiteres herausdrücken. Tat man das, kamen Wasser- und Gasleitungen zum Vorschein. Uns alle befiel ein erneuter orgiastischer Lachanfall. Platten aus der Decke drückend, liefen wir über den Gang und filmten uns dabei.

Wie und wann wir an diesem Abend ins Bett kamen, sollte ich später beim besten Willen nicht mehr sagen können. Dabei war, so schwer sich Außenstehende das wohl vorstellen konnten, traditionsgemäß kein einziger Tropfen Alkohol geflossen. Unsere Ekstase war tatsächlich nichts weiter als eine Folge der Situation und Personenkonstellation gewesen. Und natürlich der langen Busfahrt, die hinter uns lag.


Am nächsten Morgen klopfte Marc an unsere Apartment-Tür. Ich öffnete ihm.

«Guten Morgen», sagte er.

«Siff!», erwiderte ich.

Philipp kicherte.

«Ist bei euch soweit alles in Ordnung?», fragte Marc.

«Es ist alles in bester Ordnung, Marc», entgegnete ich, «Sieht man mal davon ab, dass alles siffig ist.»

Philipp kicherte erneut.

Während Marc nun in das Zimmer von Max-Frederick und Frans ging – wohl, um die gleiche Frage zu stellen – begaben Philipp und ich uns zum Frühstücksraum. Nicht, ohne unsere Kameras mitzunehmen, versteht sich. Es war schließlich wieder mit einigen lohnenswerten Motiven zu rechnen.

Im Frühstücksraum angekommen, gingen wir gleich zu Werk. Wir fotografierten alles, was wir vor die Linse bekamen: Die ominösen Säfte, das zehn bis vierzehn Tage alte Brot und natürlich die Eier. Bei dem Versuch, eines von ihnen von seiner Schale zu befreien, hatte ich es in tausend Stücke zerrissen. Die ganze Zeit lachten wir und die ganze Zeit spürte ich den milde hasserfüllten Blick der Mitarbeiterinnen in meinem Nacken.

Als wir mit Essen fertig waren, stieß Max-Frederick zu uns.

«Ey, ihr müsst euch mal das Fenster im achtzehnten Stock reinziehen. Da klebt so krass viel Vogelscheiße dran, Alter!»

Wir begaben uns zum Aufzug und fuhren nach oben. Natürlich ließen wir es uns nicht nehmen, dabei den vollständig mit Graffiti übersäten Innenraum der Fahrstuhlkabine zu fotografieren. Oben angekommen, nahmen wir so gleich das hiesige Flurfenster in Augenschein. Max-Frederick hatte wirklich nicht übertrieben. Die Scheibe war über und über mit Exkrementen von Vögeln bedeckt. Nach einem neuerlichen orgiastischen Lachanfall fotografierten wir auch diese.

Dann ging es hinunter ins Erdgeschoss und zum Parkplatz vor dem Hotel. Als wir gestern Abend das erste Mal hier gestanden hatten, war es stockfinster gewesen. Nun war die Sonne da und gab den Blick auf die nähere Umgebung frei. Unser Hotel, ein Hochhaus mit einer Fassade aus Waschbetonplatten, befand sich inmitten einer weitläufigen Grünfläche. Aus dieser weitläufigen Grünfläche ragten neben Bäumen weitere Hochhäuser mit Fassaden aus Waschbetonplatten empor. Man konnte meinen, in Hamburg-Neuwiedenthal zu sein, doch nein: Das hier war Prag, die goldene Stadt.

Ich hatte mich wirklich darauf gefreut, sie kennen zu lernen. Über Prag hatte ich nur Gutes gelesen und gehört. Außerdem passte unsere Reise hierher doch gut ins Mozartjahr 2006. Laut meinem Vater hatte Mozart die Stadt sehr geschätzt und große Erfolge in ihr gefeiert. Das Mozartjahr war für ihn im Übrigen ein Grund, 2006 keinen einzigen Takt Mozart zu hören. Auf derartige Events konnte er noch immer getrost verzichten.

Wie dem auch sei: Ich hatte mich auf Prag gefreut. Auf malerische Gassen, majestätische Brücken, beeindruckende Gotteshäuser. Es verstand sich von selbst, dass das was ich nun sah, nicht ganz derartigen Erwartungen entsprach. Mein Blick fiel auf ein Hochhaus, auf dessen Dach eine große Leuchtreklame verkündete: ‹Subterra›.

«Genau, ‹subterra›», sagte ich, «Alles hier ist unterirdisch. Unterirdisch schlecht.»

Philipp und die anderen lachten. Für mich ein weiterer Beweis, dass ich nicht traurig darüber zu sein hatte, wie es gekommen war. Wäre es hier schön gewesen, wir hätten bislang wohl nicht einmal halb so viel Spaß gehabt.