Traumaverarbeitung

Perlen von Holstein Folge 140

Die Probenwoche in Lankau war auch in diesem Jahr wieder keine Probenwoche, sondern Proben-Fünf-Tage. Grund war die geplante CD-Aufnahme. Sie sollte direkt im Anschluss stattfinden. Mit der Entscheidung, die Probenwoche abermals zu verkürzen, wollte Herr Kaiser jedoch nicht unbedingt uns schonen. Er wollte vor allem sich selbst schonen. Für ihn gab es nämlich – das gab er ganz offen zu – nichts Ätzenderes als CD-Aufnahmen. Er fand sie einfach nur anstrengend und bat uns schon mal ganz vorsorglich, uns in Rücksicht und Verständnis zu üben.

Das war schon ein etwas sonderbares Verhalten. Schließlich waren die Knaben noch in einem Alter, in dem man glaubte, dass Lehrer einen am liebsten vierundzwanzig Stunden in der Schule festhalten würden und nichts so sehr hassten wie Ferien. Es war doch eigentlich im eigenen Interesse unseres Chorleiters, sie in diesem Glauben zu lassen. Ansonsten würde es nicht mehr lange dauern und sie würden anfangen, die Lippenbekenntnisse Erwachsener zum Thema Disziplin zu hinterfragen. Doch kam Herrn Kaisers Abneigung gegen CD-Aufnahmen nicht von ungefähr. Sie kam vom Dresdner Kreuzchor.

«Wisst ihr», sagte er, «wenn wir früher mit dem Kreuzchor eine CD-Aufnahme hatten, dann sind wir tagelang in der Kirche gewesen und haben durchgehend gestanden. Und dann hatten wir so eine Tonmeisterin, die war so drauf: Wenn die sagte ‹So, jetzt noch ein letztes Mal›, dann wusste man, dass wir das Stück noch mindestens zehn Mal machen würden. Denn dann kam noch das ‹wirklich letzte Mal›, das ‹allerletzte Mal›, das ‹allerallerletzte Mal› und so weiter.»

Ich konnte durchaus nachvollziehen, was Herr Kaiser durchlitten hatte. Die Aufnahme der plattdeutschen Weihnachts-CD Anno 1998 hatte ich bis heute als eine schlimme Tortur in Erinnerung behalten. Eine der schlimmsten, die mir das Chorknabendasein jemals bereitet hatte. Und da hatten wir keine komplette Scheibe eingespielt, sondern lediglich bei zwei kleinen Liedern mitgesungen.

Das würde dieses Mal anders sein. Innsbruck, ich muss dich lassen, Nun fanget an, Ach Elslein, liebes Elselein mein und Es führt über den Main würden eine ganze CD füllen. Das war weniger als ursprünglich geplant: Auf eine Einspielung von Mit Lust tät ich ausreiten würden unsere Fans aus unbekannten Gründen verzichten müssen.

Vier Stücke wären verdammt wenig gewesen, hätte es sich bei dem, was wir produzierten, um eine normalgroße CD gehandelt. Bei dem, was wir produzierten, handelte es sich jedoch um eine Mini-CD. Wie eine solche aussah, wusste ich bereits, seitdem Herr Kaiser mir die Demo-CD seines alten Chores, des Amadeus-Chors Berlin, geschenkt hatte. Ein Geschenk, das er gleich zwei Mal bereut hatte. Zum ersten Mal, als ich mich darüber nicht wirklich gefreut hatte. Zum zweiten Mal jetzt, wo ich mich so richtig darüber freute. Ursächlich dafür war hauptsächlich das Begleitheft mit seinen Elogen auf den Amadeus-Chor und dessen Leiter. Sie waren zu schön, um Herrn Kaiser nicht damit aufzuziehen.


Vier Lieder aufzunehmen dauerte natürlich nicht tagelang. Herr Kaiser rechnete mit einer Zeitspanne von sechs Stunden. Dementsprechend hatte er St. Johannis-Harvestehude nur für den Nachmittag mieten lassen. Den Vormittag würden wir noch in Lankau zubringen. Herr Kaiser nutzte die Zeit, uns behutsam an die bevorstehende Aufgabe heranzuführen. Von Innsbruck, ich muss dich lassen ließ er uns zunächst nur einmal alle unisono den Sopran singen. Wie wir das taten, dämmerte mir langsam, warum meine Mutter das Lied so langweilig fand. So ganz ohne Harmonien war es langweilig. Atemberaubend langweilig. Himmel, Herrgott, diese Sopranlinie schien darauf ausgelegt zu sein, jemanden in den Schlaf zu säuseln. Mir wurde einmal mehr bewusst, welch Privileg es war, Bass sein zu dürfen.

Von Es führt über den Main ließ Herr Kaiser uns ebenso alle unisono den Sopran singen. Das war aber eigentlich gar nicht nötig. Diese Melodie beherrschte auch so jedermann nach dem ersten Hören im Schlaf. Nicht ganz zufällig war Es führt über den Main das einzige Stück, das jemals erreicht hatte, dass ich von einem Bewohner Finkenwerders auf meine Mitwirkung bei einem Konzert angesprochen worden war. Mehr oder weniger zumindest. Eine Frau, die auf der Fähre einige Meter hinter mir gesessen hatte, hatte es beim Anblick meiner Chorkleidung gesungen. Gehört hatte sie es wohl zwei Stunden zuvor bei Kinder singen für Kinder. Ein schlagender Beweis dafür, dass unsere CD mit diesem Lied das Zeug zum Chartbreaker haben würde.

Herr Kaiser indes hatte eine Interpretation für es parat, wie sie wohl nur von einem gelernten DDR-Bürger stammen konnte: «In diesem Lied geht es um einen uralten Traum, nämlich den, dass es irgendwann einmal keine Unterschiede mehr zwischen den Leuten gibt. Dass alle Menschen gleich sind. Auf der Brücke über den Main geht dieser Traum in Erfüllung. Jeder, der sie betritt, egal ob Bettler oder König, muss sich dem Diktat der Brücke unterordnen und tanzen.»

Eine schöne Deutung, die nach meiner Auffassung jedoch einen entscheidenden Haken hatte: Der König tanzte in dem Lied ausdrücklich Menuett. Ein Tanz, den ein Bettler gewisslich nicht beherrscht hatte.

So wenig einverstanden wie mit dieser Interpretation Herrn Kaisers von Es führt über den Main war, war er mit unserer von Nun fanget an.

«Bässe, könnt ihr bitte die letzte Phrase, ‹Drum schlagt und singt›, ein ganz kleines bisschen zartfühlender singen? Das klingt gerade, als würde dabei ein ganzes Panzerheer auf mich zugerollt kommen.»

«Ja, wenn vom Schlagen die Rede ist, muss das musikalisch auch entsprechend ausgedeutet werden», erwiderte ich.

Herr Kaiser schmunzelte.

«Hier ist doch nicht ‹schlagen› im Sinne von ‹jemandem eine runterhauen› gemeint», sagte er, «Das heißt ‹einen Takt schlagen›.»

Anmerkung im Sinne des Besserwisserauftrags der Synkope: Gemeint ist wohl eher ‹schlagen› im Sinne von ‹die Saiten schlagen›, ‹in die Tasten hauen› oder ‹ein Schlaginstrument spielen›.

Ich konnte in dieser Sache nicht mit Herrn Kaiser übereinstimmen. Dennoch erklärte ich mich wie alle anderen bereit, die Passage in Zukunft zartfühlender zu singen. Es war ja nun einmal er hier der Chorleiter.

Die CD-Aufnahme verlief wesentlich entspannter als Herr Kaiser und ich sich das vorgestellt hatten. Rund die Hälfte der Zeit verbrachten wir im Sitzen. Unser Chorleiter nämlich traute seinen eigenen Ohren mehr als denen des Tonmeisters. Deshalb nahm er nach jedem Durchlauf auf der vorderen Kirchenbank Platz, setzte sich einen Kopfhörer auf und lauschte noch einmal dem, was wir so zusammengesungen hatten. Meist gab es daran nicht viel zu beanstanden. Die Knaben hatten schon verstanden, dass sie aus dieser Nummer am schnellsten raus waren, wenn sie sich Mühe gaben. So entstanden die meisten Wiederholungen dadurch, dass die Mikrofone noch einmal hin- und hergerückt werden mussten.

Natürlich gab es auch den obligatorischen Zwischenfall. Selbst der aber wurde nicht von uns verursacht. Ein älterer Herr betrat die Kirche, die Schilder mit der Aufschrift ‹CD-Aufnahme, bitte nicht stören› geflissentlich ignorierend.

«Würden Sie bitte rausgehen? Wir machen hier eine CD-Aufnahme und da muss absolute Ruhe herrschen», sagte Marc.

Er sagte das wirklich ausgesprochen freundlich. Der ältere Herr verhielt sich dennoch wie sich ältere Herren auf Fahrersitzen, in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Anstehen eben verhalten: bockig.

«Ich hab’ meinen Schirm vergessen», sagte er.

«Können Sie damit bitte wenigstens zwei Minuten warten? Wir machen gleich Pause», erwiderte Marc.

«Ich hab’ meinen Schirm vergessen», sagte der ältere Herr. Und schlurfte zu dem entlegenen Winkel des Gebäudes, in dem er beim heutigen Gottesdienst gesessen hatte.

Der Gesichtsausdruck unseres Chorleiters sprach Bände. Darüber hinaus aber ertrug er es mit Fassung.

Nachdem die ersten beiden Stücke im Kasten waren, war eine Stunde Pause. Ausreichend Zeit, um sich ausgiebig mit all der Technik zu befassen, die heute zum Einsatz kam. Diejenigen, die nicht den Tonmeister belagerten, belagerten Akiras Vater, einen Fotografen. Er hatte sich bereiterklärt, das heutige Ereignis bildlich zu dokumentieren. Seine Kamera war ein wahres Monstrum und nicht weniger interessant als das Mischpult des Tonmeisters.

So viel Aufmerksamkeit wünschte sich Jürgen, unser Ältester, auch. Deshalb zeigte er mir und Max-Frederick seine tolle neue Armbanduhr.

«Guckt mal hier, das ist ein Chronometer», sagte er.

«Sag doch einfach Uhr, Jürgen», erwiderte ich.

«Nein, ein Chronometer ist nicht einfach nur eine Uhr. Ein Chronometer ist eine Uhr, die nach einem Tag nur ganz wenige Sekunden falsch geht.»

«Oh, toll. Ich habe einen Funkwecker, der überhaupt nicht falsch geht.»

«Der würde aber ganz schnell fürchterlich falsch gehen, wenn er nicht ständig über Funk nachgestellt werden würde. Mein Chronometer braucht das nicht. Der braucht im Übrigen nicht einmal eine Batterie. Der versorgt sich selbst mit Strom, wenn ich den Arm bewege. Außerdem besteht seine Scheibe aus unzerkratzbarem Kristallglas.»

Max-Frederick begann, mit dem Nagel seines Zeigefingers auf dem unzerkratzbaren Kristallglas herumzutrommeln. Ich machte mit. David, der dazukam, ebenso.

«Nein», sagte Jürgen, «Oh, nein.»

Wir trommelten erbarmungslos weiter.

«Oh, ihr seid so blöd –», sagte Jürgen.

Nach der Pause hatte Herr Kaiser etwas zu verkünden.

«So, jetzt machen wir noch Ach Elslein, liebes Elselein mein und Es führt über den Main und dann gibt es zum Schluss noch eine kleine Überraschung», sagte er.

Überraschungen waren immer gut. Deswegen arbeiteten wir jetzt noch viel fleißiger mit, um möglichst schnell zu erfahren, was unser Chorleiter für uns vorbereitet hatte. Schließlich war es so weit.

«So und jetzt kommen wir zu der Überraschung –», sagte er.

«Wir Männer machen jetzt noch eine Aufnahme von Am Traunsee», rief ich.

«– bei der letzten Strophe von Innsbruck, ich muss dich lassen ist das Sopranmikrofon ausgefallen. Deswegen müssen wir das jetzt noch mal aufnehmen.»

So geschah es, dass wir die letzte Strophe von Innsbruck, ich muss dich lassen noch einmal aufnahmen. Dramatisch war das nicht, wir waren sowieso mehr als nur gut in der Zeit. Eine Tonmeisterin, die beständig vom letzten und allerletzten Mal sprach, gab es hier nicht. Nur einen Chorleiter, der in Proben zuweilen sagte: «So, und jetzt singen wir das Stück noch einmal von vorne bis hinten durch, ohne dass ich euch unterbreche, egal was passiert.» Um uns dann gezwungenermaßen doch zu unterbrechen, so schief wie es schon nach fünf Takten klang. Aber selbst Derartiges geschah heute nicht. So war es alles in allem einer der am wenigsten anstrengenden Termine meiner Chorlaufbahn.

Anmerkung im Sinne des Bildungsauftrags der Synkope: Bei Tonaufnahmen kann es immer wieder vorkommen, dass Dinge passieren, die nicht zu erwarten gewesen waren. Der siebenundsiebzigjährige Otto Klemperer jedenfalls hatte wohl nicht mit dem gerechnet, was sein Tamino, der Tenor Nicola Gedda, da plötzlich trieb: Beim Schmettern von Zu Hilfe! Zu Hilfe! rannte er scheinbar ziellos im Studio umher. In dem Glauben, dass sein Sänger vor ihm davonlaufen wollte, brach Klemperer ab. Jetzt erst erklärte ihm einer, was los war: Seine Aufnahme der Zauberflöte würde die erste mit der damals unerhört neuen Stereo-Technik sein. Nicola Geddas Gerenne hatte dementsprechend nur für den richtigen Raumklang sorgen sollen.