Das zweite Gesicht

Perlen von Holstein Folge 138

Beim heutigen Abendessen übertraf Meister David sich einmal mehr selbst.

«Ey, diese Brötchen bestehen ja echt mal zu neunzig Prozent aus Luft», sagte er, «Wollen wir wetten, ich schaffe es, mir zwei Stück davon in den Mund zu stopfen?»

Gesagt, getan. David drückte die Brötchen zusammen und schob sie sich in den Mund.

Max-Frederick, Frans und ich krümmten uns vor Lachen.

David hingegen gab einen Laut von sich, der wohl heißen sollte: ‹In meinen Mund passt noch viel mehr rein.› Um dies zu beweisen, griff er sich Wurst- und Käsescheiben, ein Ei, und etliche Tomaten- und Gurkenscheiben. Mit ein wenig Gewalt fand tatsächlich alles in seinem Mund Platz. Dort blieb es aber nicht lange. Nun nämlich bekam auch David einen Lachanfall. Zunächst versuchte er noch, ihn zu unterdrücken. Als ihm dann aber das Wasser der zermalmten Gurkenscheiben aus dem Munde herauslief, konnte er sich nicht mehr im Zaum halten. Unter lautem Getöse landete alles Essen auf Davids Teller, in Davids Nase und in Davids Speiseröhre. Welch ein Spektakel.

Die zweistündige Probe, die dem Abendessen folgte, machte David jedoch wieder die Schwere des Seins bewusst. Als wir danach im Zimmer saßen, unterhielt er sich mit mir über ernste Themen.

«Ey, ich finde diese Einsingübung, Wer sich selbst erhöhet, der soll erniedriget werden, so bescheuert», sagte er.

«Wieso?», erwiderte ich, «Die ist doch ganz in deinem Sinne. Wenn ein Herrscher meint, Gott spielen zu müssen, muss man ihn eben absetzen.»

«Ja, das kann es auch heißen. Aber gemeint ist wohl eher, dass man jeden Untertan, der auf die Idee kommt, etwas an den Verhältnissen ändern zu wollen, gnadenlos niederknüppeln sollte.»

«Jetzt, wo du es sagst: Stimmt, das kann es auch heißen. Aber so allgemein, wie das formuliert ist, heißt es vielleicht auch gar nichts Bestimmtes.»

«Ja, und das ist es, was mich an der Bibel so aufregt. Alles da drin ist so allgemein formuliert, dass es im Grunde alles heißen kann. Und deshalb lässt sich auch wunderbar alles damit rechtfertigen, egal, wie scheiße es ist.»

Von den ernsten Themen kamen wir bald auf die philosophischen.

«Weißt du, was ich im Philosophieren ja am geilsten finde?», fragte David.

«Was?», erwiderte ich.

«Du kannst so viele Dinge total kaputtphilosophieren. Du mit deinem Adidas-Rucksack kennst doch bestimmt den Adidas-Spruch ‹Impossible is nothing›.»

«Natürlich kenne ich den. Vor allem ist das doch voll von Toyota geklaut. Die haben doch schon ganz lange auch den Werbespruch: ‹Nichts ist unmöglich›.»

«Ja, vor allem: Wenn du dir mal wirklich vor Augen führst, was das eigentlich heißt, merkst du, dass das totaler Quatsch ist. Wenn man nämlich sagt: Nichts ist unmöglich, bedeutet das ja im Umkehrschluss, dass alles möglich ist. Wenn aber wirklich alles möglich ist, ist auch nichts möglich und dann kann nichts nicht unmöglich sein. Die Aussage ist somit total unlogisch.»

Diese Äußerung hätte mir eigentlich eine Warnung sein sollen. Hatte David sich nämlich einmal in derart hochphilosophische Gedankengänge vertieft, dauerte es nicht mehr lange und er machte das, was Imanuel mittlerweile Horrorshow getauft hatte. Wenn ich nicht bald das Thema wechselte, würde er mich wieder mit jenem kalten Blick bedenken und es gäbe kein Entrinnen mehr. Ich roch die Gefahr jedoch erst, als es bereits zu spät war, als Davids zweite Persönlichkeit bereits zum Vorschein gekommen war.

Sadistisch grinsend schlurfte er zum Vorhang.

«David!», schrie ich.

«Licht ist Illusion», erwiderte er. Er begab sich zum Lichtschalter.

«David, du machst die Vorhänge wieder auf und du lässt das Licht an!», sagte ich.

Dafür hatte David jedoch nur ein diabolisches Lachen übrig.

Mit einem kräftigen Stoß ließ er das Licht erlöschen. Es war stockfinster. Und es würde stockfinster bleiben. Selbst dann, wenn sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Außerhalb des Gebäudes gab es keine unnatürlichen Lichtquellen. Das hier war schließlich nicht Maschen, wo die Abgeschiedenheit ja doch eher simuliert war. Das hier war Lankau, wo keinen Handyempfang gab und wo man nach einem Internetanschluss besser gar nicht fragte. Wenn einen hier der Tod ereilte, würde es so schnell niemand mitbekommen. Das mochte der Grund sein, dass es allmählich auch die anderen Zimmerbewohner mit der Angst zu tun bekamen.

«David!», schrie Philipp. Von irgendwo erklang Davids diabolisches Lachen. Von wo genau war nicht auszumachen. Das Zimmer war riesig und, wie gesagt, stockfinster. David konnte noch ganz weit weg sein. Oder schon lange hinter mir stehen.

«Wo ist er?», fragte Imanuel.

«Der müsste eigentlich dahinten irgendwo sein», erwiderte Frans.

«Ja, würde ich auch sagen», sagte Max-Frederick. Seiner Stimmlage nach zu urteilen, war er der einzige, der sich wirklich kein bisschen ängstigte.

«Ah, jetzt hat er mich gepackt!», schrie Philipp. Man hörte, wie er sich mühsam losriss.

«Los, rauf auf die Betten», rief Imanuel.

Er, Max-Frederick und Frans erklommen das Etagenbett auf der einen Seite des Raumes, Philipp und ich das auf der anderen Seite. Oben angekommen, setzten wir uns mit dem Rücken zur Wand und deckten uns zu. So fühlten wir uns vor Davids Hydraulikgriff einigermaßen sicher. Es gab da nämlich etwas, das man über ihn wissen musste: David hatte früher jahrelang mit Krücken zur Probe kommen müssen. Seither war er zwar nicht besonders agil, hatte aber kräftige Arme. Wen er packte, der konnte nicht entkommen.

«Wo ist er?», fragte Imanuel.

«Ich bin überall, hahaha», erwiderte David.

«Wartet», sagte Frans, «ich versuche, das Licht anzumachen.»

Er kletterte vom Bett herunter und hechtete zum Lichtschalter. Das Deckenlicht nämlich war die einzige Möglichkeit, hier für Helligkeit zu sorgen. Die Betten verfügten über keinerlei Leselampen.

Frans erreichte den Lichtschalter. Mit einem Male wurde es wieder hell. Wir konnten wieder sehen, wo David war: Er befand sich auf direktem Wege zu Frans. Dem aber gelang es, David auszumanövrieren. Ehe wir uns versahen, befand er sich wieder mit Imanuel und Max-Frederick auf dem gegenüberliegenden Etagenbett.

Unser Triumph war jedoch nur von kurzer Dauer. David schlurfte schnurstracks auf den Lichtschalter zu und schaltete die Deckenlampe aus. Schon herrschte wieder Finsternis. Wir konnten David nun wieder weder sehen noch hören.

«Wo ist er nun?», fragte Imanuel.

«Da hinten an der Verandatür!», erwiderte Frans.

Tatsächlich: Man konnte sehen, wie David durch den winzigen Lichtschimmer hindurchschlurfte, der unter dem Vorhang in das Zimmer drang. Das jedoch war wenig beruhigend. Der milde Lichtschein ließ seinen unbeholfener Gang noch viel unberechenbarer erscheinen. Ich war beinahe froh, als sich seine Spur wieder verlor. Allerdings nur kurz. Nun nämlich packte er sich unsere Bettdecke und versuchte, uns das schützende Textil zu entreißen. Philipp und ich wehrten uns mit aller Kraft dagegen.

«Irgendjemand muss das Licht anmachen», sagte ich.

Dieses Mal war es Imanuel, der voller Todesverachtung das Bett heruntersprang und zum Schalter rannte. Kaum, dass er zurückgekehrt war, wurde es auch schon wieder dunkel. Doch immerhin, Philipp und ich hatten unsere Decke behalten können. Imanuel war ein Held. Und er sollte bitter büßen.

«Ah, er packt mich am Bein!», hörten wir ihn schreien.

Philipp sprang auf und lief zum Schalter. Auf dem Rückweg wich er dem ihm entgegenkommenden David großräumig aus und kletterte auf das Bett von Frans, Max-Frederick und Imanuel. Nun war ich ganz alleine.

«Komm rüber, Lennart! Komm rüber, Lennart!», riefen die anderen.

«Seid ihr bescheuert? David ist da unten!», entgegnete ich.

«Wo ist er überhaupt schon wieder?»

«Der ist hoffentlich noch irgendwo beim Lichtschalter.»

«Vielleicht hat er sich ja unter dem Tisch verkrochen.»

«Lennart, da unten bei dir am Bett, da steht er!»

Und da sah ich ihn auch schon, meinen alten Freund David, wie er langsam hinter der Bettkante hervorkam. Seine Augen verhießen, dass er das, was gleich kommen würde, unglaublich genießen würde. Was das konkret war, wollte ich mir nicht einmal ausmalen.

«Jetzt wirst du die wahre Vernunft kennenlernen», sagte David. Er streckte die zittrige Hand nach mir aus. Ich konnte schon spüren, wie ihr Griff mir die Blutzufuhr abschnitt. Gleich würde es soweit sein. Ich schloss die Augen, das Unausweichliche akzeptierend. Da ging plötzlich das Licht an.

«Jetzt komm endlich rüber!», brüllte Philipp, während er erneut die Leiter von Imanuels Bett emporstieg.

Sofort wandte David sich von mir ab. Meine tiefsitzende Höhenangst vergessend, sprang ich vom Bett herunter. Endlos weit schien der Weg zur sicheren Zuflucht zu sein. Ich rannte, wie ich noch nie in meinem Leben gerannt war. Am Ziel angekommen, hievte ich mich in einem einzigen gewaltigen Klimmzug das Etagenbett hinauf. Nun kauerten wir alle gemeinsam unter einer Decke: Imanuel, Philipp, Max-Frederick, Frans und ich.

Irgendjemand hatte inzwischen eine Taschenlampe organisiert und so konnten wir den Boden ableuchten. Immer dann, wenn wir ihn plötzlich nicht mehr ausmachen konnten, wussten wir, dass David gleich wieder hinter der Bettkannte hervorschnellen und nach etwas oder jemandem greifen würde. Noch immer spürte ich mein Herz schlagen, doch in Gegenwart der vier anderen fühlte ich mich beinahe sicher.

Bald kam Marc herein und erinnerte uns daran, dass wir auch irgendwann noch einmal schlafen müssten. David erlangte augenblicklich seine altvertraute Persönlichkeit zurück. Er zog seinen Schlafanzug an und legte sich hin, ohne auch nur im Traum daran zu denken, vorher noch seine Zähne zu putzen.

Imanuel traute dem Frieden nicht. Wir lagen bereits alle im Bett, dieses Mal jeder in seinem, da weigerte er sich noch immer, seine Taschenlampe auszuschalten.

«Ich schlafe nicht, wenn David nicht aufhört, hierher zu gucken. So wie er da sitzt, springt der gleich rüber.

«Ich spring’ nicht rüber, Mann. Ich mach nichts mehr. Komm, jetzt mach das Licht aus.»

«Nein, du guckst schon die ganze Zeit so.»

«Nein, Mann, ich gucke nicht. Das bildest du dir nur ein!»

Minuten vergingen, bis wir plötzlich seltsame Geräusche von Davids Bett vernahmen. Ich blickte zu ihm herüber und sah, wie er auf seinem Handy irgendein Killerspiel spielte. Ein gewaltiges Gekicher erfüllte den Raum. Nicht einmal für Imanuel bestand jetzt noch ein Zweifel: Das war wieder der David, den wir kannten. Der David, der sich heute schon nach dem Mittagessen wieder selbst übertroffen hatte.

Wir waren zur Essensausgabe gegangen, um von unserem angestammten Männerrecht Gebrauch zu machen, auf Chorfahrten Süßigkeiten erwerben zu dürfen. Die Dame hinter der Theke schien das jedoch nicht ganz klar gewesen zu sein.

«Was wollt ihr?», hatte sie freundlich gefragt.

Einige Sekunden hatte niemand etwas gesagt. So war es also an mir gewesen, ihr mit betont ausdruckslosem Gesicht die Antwort entgegenzublöken.

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Meine Sangesbrüder waren sofort in schallendes Gelächter ausgebrochen. Es war ein Augenblick gewesen, in dem es faktisch unmöglich war, mir die Show zu stehlen. David jedoch hatte die Herausforderung seelenruhig angenommen.

«Verkaufen Sie die packungsweise oder einzeln?», hatte er die Dame mit Blick auf die Kinder Riegel gefragt.

«Ähm, einzeln –», hatte sie etwas verwundert erwidert.

«Gut, dann nehme ich davon erst mal fünf –»

Wir hatten aufrichtig gelacht.

«– dann noch eine Flasche Fanta und, ähm –»

Wir hatten ausgelassen gelacht

«– drei Tüten Gummibärchen.»

Philipp war vor Lachen beinahe gegen die Thekenkante gestoßen.

Das war der David, den wir kannten und liebten. Und vor dem nun wirklich niemand Angst haben musste.